In der Cavalli-Oper „La Calisto“ wird eine junge Frau zum Spielball der Götter. Jens-Daniel Herzog inszeniert die Verkleidungskomödie am Staatstheater Nürnberg mit Greta Thunberg und MeToo im Hinterkopf.
Wenn ein Intendant Francesco Cavallis „La Calisto“ ansetzt, sollte er wissen, warum. Immerhin hat Jens-Daniel Herzog Solisten an seinem Haus und Barockspezialisten zur Hand, für die die über 350 Jahre alte Oper gleichzeitig eine schöne Herausforderung und komödiantische Spielwiese ist. Szenisch bleiben allerdings ein paar Fragezeichen. Natürlich empfiehlt es sich heutzutage, Jupiter, den obersten Gott im römischen Mythenhimmel, ordentlich zu demontieren. Denn Giove, wie er auf Italienisch heißt, läuft zum Kummer seiner Gattin Giunone nicht nur fast jedem Rock hinterher, sondern wendet miese Tricks an, um zum Ziel zu kommen.
Auf der reichlich ramponierten Erde macht er die jungfräuliche Nymphe Calisto an, die Männer verachtet und nur Diana liebt, die Göttin der Jagd, des Mondes und Beschützerin der Frauen und Mädchen. Erst als Giove sich in Diana verwandelt hat, gibt die so getäuschte Calisto sich ihm hin. Am Ende – auch die weiteren Figuren stecken teils in heiklen Beziehungen und besetzungstechnisch teils in umgekehrten Geschlechtsidentitäten – nimmt Calisto die Gestalt einer Bärin an, um dereinst, wie schon der Prolog verheißt, als großes Sternbild am Firmament zu prangen, neben ihrem zu erwartenden kleinen Sproß.
Auf die Frage, was eine Nymphe ist, geben Regisseur Jens-Daniel Herzog und seine Ausstatter (Bühne: Mathis Neidhardt, Kostüme: Sibylle Gädecke) die erwartbar heutige Antwort: ein Mädchen à la Greta Thunberg, das sich in einem Schulungszentrum für italienische Umweltaktivistinnen in die Direktorin Diana verguckt. Letztere geriert sich als Sittenwächterin, liebt aber heimlich Hausmeister Endimione. Um das (Liebeswirren-)Kraut fett zu machen, gibt es mit Dianas Sekretärin Linfea noch eine ältliche Jungfer, die „endlich richtig geknallt“ werden will – aber nicht von Satirino, dem Jungspund unter ihren Beischlaf-Aspiranten, welche wiederum keine schrägen Waldgeister sind, sondern Moped fahrende Proleten.
Wie die Sprache in den in Nürnberg seitlich positionierten Übertiteln ist auch die Personenregie sehr direkt – und für meinen Geschmack oft eine Nummer zu grob. So gut die Idee auch sein mag, den ersten Verführungsversuch in einer Sammeldusche zu verorten, die Umsetzung mit den wohlgemerkt ansehnlichen Sängern in entsprechenden Nacktkostümen bleibt unbefriedigend. Hier und in den späteren, einfach nur peinlichen Sexgymnastikszenen zeigen sich eben die Grenzen von Theaterrealismus und -aktionismus. Dass schon die alten Götter es kunterbunt getrieben haben, muss nicht so direkt auf die Bretter geknallt werden!
Umgekehrt fehlt es manchmal an Genauigkeit: Die Frau, die wie Giunone einen Spiegel in der Tasche hat und ihn nicht rausholt, wenn sie Lippenstift nachzieht, muss erst geboren werden! Zudem leuchtet die tiefer gemeinte Botschaft nicht so recht ein. Ja, es stimmt, dass bessere Herrschaften genauso einfältig, gemein und wollüstig sein können wie weniger Privilegierte. Und Frauen genauso bösartig, hinterfotzig und verlogen wie Männer. Aber bleibt im Kampf zwischen Idealismus und Zynismus, wie der Regisseur behauptet, nur Calisto als Betrogene zurück? Was ist mit Endimione?
Musikalisch ist die Aufführung unter der Leitung von Wolfgang Katschner, der mal gekürzt, mal andere Barockmusik hinzugefügt hat, auf der sicheren Seite. Sechzehn Musiker – das sind zehn mehr als bei der Uraufführung in Venedig – spielen auf alten Instrumenten in heutiger Stimmung, aber historisch informiert. Der großen Bandbreite an Klangfarben im Graben entsprechen auch die Solistenstimmen.
Sängerdarstellerisch ragen die Sopranistin Julia Grüter als Calisto und Countertenor David DQ Lee als Endimione heraus, die beide vor allem ihrer Sehnsucht beredten Ausdruck geben. Bravourös schlägt sich auch der Tenor Martin Platz, dessen Linfea die Gratwanderung zwischen glaubhafter Travestie und Klamotte noch überzeugender gelingt als Giove, für den Bariton Jochen Kupfer zuweilen sogar in die Kopfstimme wechselt. Dass Emily Bradleys Giunone bei der Premiere als indisponiert angesagt wurde, hörte man ihr nicht an. Auch Almerija Delic als Diana und die weiteren Solisten machten ihre Sache gut. Nicht zu vergessen die kämpferische Nymphenschar (Choreographie: Ingo Schweiger), die der Verkleidungskomödie zusätzlichen Drive gibt. Viel Beifall.
Besuchte Premiere am 23. November 2019, Erstdruck der Kritik am 27.11. im Feuilleton des Fränkischen Tags. Weitere Vorstellungen am 30.11., am 5., 8., 14., 18., 27. und 29.12. sowie am 12. und 25. Januar 2020. Tickets unter Telefon 0180-1344276
Ähnliche Beiträge
- Alles zurück auf Anfang 6. Oktober 2020
- Mit Kanonendonner in die neue Ära 3. Oktober 2018
- Herz, Schmerz und viel Hormone 27. Februar 2019
- Mit Monteverdi im Opernglück 24. Juni 2018
- Plakativ, gewalttätig und laut 7. Oktober 2019