Das Ortsregister, das der frühere Wahnfried-Archivar Otto Strobel 1952 für seine Zeittafel zu Leben und Schaffen Richard Wagners zusammenstellte, zählt sage und schreibe über 200 Namen von Städten und Ortschaften, die er besuchte, wo er konzertierte oder zeitweilig lebte und arbeitete – nicht zu vergessen die Vielzahl von Bergen, die er bestieg. „Der Aktionsradius seines Lebens“, schreibt denn auch Michael von Soden in seinem Richard-Wagner-Reiseführer, „reichte im Norden bis London, im Osten bis Moskau, im Süden bis nach Sizilien und im Westen bis zur Atlantikküste – eine in jeder Hinsicht expansive Existenz.“ Und bei Markus Kiesel, Autor des neuen, 2019 erschienenen Standardwerks „Wandrer heißt mich die Welt“ (Con Brio, 272 S., über 800 Abb., 54 €) und schon mehrfach als Referent bei uns in Bamberg, liest sich das so: „Über 200 Orte mit über 500 einzelnen Adressen hat Wagner in seinem Leben betreten und dabei in insgesamt 15 Nationen Station gemacht.“
Zu den Wohnorten, wo Wagner sich länger aufhielt, zählt Wien. Hier verbringt er erstmals im Spätsommer 1832 etwa vier Wochen, „aus keinem andern Zwecke, als um diese sonst so gepriesene Musikstadt flüchtig kennen zu lernen. Was ich dort hörte und sah, hat mich wenig erbaut; wohin ich kam, hörte ich Zampa und Strauß’sche Potpourris über Zampa. Beides – und besonders damals – für mich ein Gräuel.“ Im Juli 1848 folgen zwei weitere, wiederum enttäuschende Wochen. Seine revolutionären Pläne über die Reformierung der Wiener Theater stoßen auf wenig Gegenliebe.
Erst sein nächster Wien-Aufenthalt vom 9. bis 20. Mai 1861 ist auch positiv besetzt: Bei einer Probe in der Wiener Hofoper wird ihm „der berauschende Eindruck der erstmaligen Anhörung meines Lohengrin gegönnt“. Zudem wird ihm die „Tristan“-Uraufführung in Aussicht gestellt. Bei der „Lohengrin“-Vorstellung am 15. Mai wird er stürmisch gefeiert und bedankt sich mit einer Ansprache von der Loge aus. Als er zur Einstudierung des „Tristan“ am 14. August wiederkommt, folgen frustrierende Wochen, weil der Tenor Alois Ander so lange heiser bleibt, dass die Proben Anfang November abgebrochen werden müssen.
Auf der Rückfahrt von seinem zweiten Venedig-Besuch nach Wien konzipiert er die Ouvertüre der erstmals 1845 entworfenen Meistersinger und lässt sich Johann Christoph Wagenseils Buch „Von der Meistersinger holdseligen Kunst“ aus der Kaiserlichen Bibliothek besorgen. Mitte November entstehen die Erstschrift und die Reinschrift seines neuen Prosaentwurfs, den er am 19. November an seinen Verleger Franz Schott sendet. „Sie ersehen daraus, um was es sich handelt, und stimmen mir gewiß bei, wenn ich in der Ausführung dieser Arbeit einem meiner originellsten, jedenfalls meinem populärsten Werke entgegensehe“, schreibt er ihm tags darauf. Ende November reist er über Mainz nach Paris ab.
Erst ein Jahr später, am 14. November 1862, kommt er nach Wien zurück, in Begleitung der Schauspielerin Friederike Meyer, einer jüngeren Schwester der berühmten Sängerin Luise Dustmann, die in Wien die Isolde kreieren soll. Am 23. November findet in der Wohnung von seinem Freund Dr. Joseph Standhartner, dem Leibarzt von Kaiserin Elisabeth, eine „Meistersinger“-Lesung statt, bei der Wagner es sich endgültig mit dem Kritiker Eduard Hanslick verdirbt, der sich in der zu diesem Zeitpunkt als Veit Hanslich bezeichneten Beckmesserfigur natürlich wiedererkennt.
Im Wiener Hotel „Kaiserin Elisabeth“ entsteht zum Jahresende sein Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“, in dem er beschreibt, dass es unmöglich ist, sein Werk den Repertoire-Theatern anzuvertrauen. Er schlägt den Bau eines Festspielhauses in einer „minder großen“ Stadt vor, den er durch private Stiftungen oder durch ein Fürsten-Budget finanzieren will. „Wird dieser Fürst sich finden?“, schreibt er – und er findet sich tatsächlich, sechzehn Monate später.
Doch zurück nach Wien. Nach drei defizitären Konzerten in Wien tritt er im Februar 1863 eine erfolgreiche Konzertreise nach Petersburg und Moskau an. Am 12. Mai 1863 bezieht er eine neue Wohnung in einer Vorstadtvilla in Penzing unweit des Schönbrunner Schlossgartens und richtet sie kostspielig ein. Sein Vermieter überlässt ihm den Jagdhund Pohl. In dieser Zeit beschäftigt er erstmals die Putzmacherin Bertha Goldwag, die bis zu ihrer Verheiratung 1868 für ihn arbeiten wird. Seine 1906 in Wien veröffentlichten Briefe an sie haben seither immer wieder Spötter, Karikaturisten, Kaffeesatzleser, Psychologen und Psychiater auf den Plan gebracht. Und er trifft mit Anna und Franz Mrazeck auf ein Dienerpaar, das er zusammen mit dem Hund auch nach München mitnehmen wird.
Auch in seinem neuen Wiener Domizil schafft er es nicht, sich zu „beweibsen“: Mathilde Maier, die er in Biebrich und Mainz kennen gelernt hat, will nur zu ihm kommen, wenn er sich von seiner Frau Minna scheiden lässt und sie heiratet. Er vollendet die Partitur der ersten „Meistersinger“-Szene, weitere Konzertreisen führen ihn 1863 nach Budapest, Prag, Karlsruhe, Löwenberg und Breslau. Nach einem letzten Besuch im Hause Wesendonck in Zürich trifft er am 28. November bei einem Berlin-Besuch endlich auf die für ihn richtige Frau. Es wird allerdings noch geraume Zeit dauern und nicht nur einen Skandal auslösen, bis er Cosima von Bülow heiraten kann.
Anfang 1864 geht Wagner in Wien wieder einmal seinem finanziellen Ruin entgegen. Er stellt ständig neue Wechsel aus, nach 77 Proben wird das „Tristan“-Projekt als unaufführbar fallen gelassen, die Wechsel gehen zu Protest, er verkauft eilig, was er verkaufen kann, seine Schulden belaufen sich umgerechnet auf rund 60 000 Euro. Sein Rechtsbeistand rät ihm schließlich, aus Wien zu fliehen, um der Schuldhaft zu entgehen. Am 23. März 1864 trifft er in München ein, zwei Tage später dichtet er dort folgende ironische Grabschrift:
„Hier liegt Wagner, der nichts geworden,
nicht einmal Ritter vom lumpigsten Orden;
nicht einen Hund hinter’m Ofen entlockt‘ er,
Universitäten nicht ‚mal ’nen Dokter.“
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