Wagner in Wien

Am 23. März 1864 muss­te Ri­chard Wag­ner, um der dro­hen­den Schuld­haft zu ent­ge­hen, sei­ne Woh­nung in Pen­zing bei Wien ver­las­sen, wo er sich für für zehn Mo­na­te nie­der­ge­las­sen hat­te. Hier eine klei­ne Über­sicht zu sei­nem Wohn­ort Wien.
In die­ser Vil­la in Pen­zing bei Wien wohn­te Wag­ner von 12. Mai 1863 bis 23. März 1864. 

Das Orts­re­gis­ter, das der frü­he­re Wahn­fried-Ar­chi­var Otto Stro­bel 1952 für sei­ne Zeit­ta­fel zu Le­ben und Schaf­fen Ri­chard Wag­ners zu­sam­men­stell­te, zählt sage und schrei­be über 200 Na­men von Städ­ten und Ort­schaf­ten, die er be­such­te, wo er kon­zer­tier­te oder zeit­wei­lig leb­te und ar­bei­te­te – nicht zu ver­ges­sen die Viel­zahl von Ber­gen, die er be­stieg. „Der Ak­ti­ons­ra­di­us sei­nes Le­bens“, schreibt denn auch Mi­cha­el von So­den in sei­nem Ri­chard-Wag­ner-Rei­se­füh­rer, „reich­te im Nor­den bis Lon­don, im Os­ten bis Mos­kau, im Sü­den bis nach Si­zi­li­en und im Wes­ten bis zur At­lan­tik­küs­te – eine in je­der Hin­sicht ex­pan­si­ve Exis­tenz.“ Und bei Mar­kus Kie­sel, Au­tor des neu­en, 2019 er­schie­ne­nen Stan­dard­werks „Wand­rer heißt mich die Welt“ (Con Brio, 272 S., über 800 Abb., 54 €) und schon mehr­fach als Re­fe­rent bei uns in Bam­berg, liest sich das so: „Über 200 Orte mit über 500 ein­zel­nen Adres­sen hat Wag­ner in sei­nem Le­ben be­tre­ten und da­bei in ins­ge­samt 15 Na­tio­nen Sta­ti­on gemacht.“

Zu den Wohn­or­ten, wo Wag­ner sich län­ger auf­hielt, zählt Wien. Hier ver­bringt er erst­mals im Spät­som­mer 1832 etwa vier Wo­chen, „aus kei­nem an­dern Zwe­cke, als um die­se sonst so ge­prie­se­ne Mu­sik­stadt flüch­tig ken­nen zu ler­nen. Was ich dort hör­te und sah, hat mich we­nig er­baut; wo­hin ich kam, hör­te ich Zam­pa und Strauß’sche Pot­pour­ris über Zam­pa. Bei­des – und be­son­ders da­mals – für mich ein Gräu­el.“ Im Juli 1848 fol­gen zwei wei­te­re, wie­der­um ent­täu­schen­de Wo­chen. Sei­ne re­vo­lu­tio­nä­ren Plä­ne über die Re­for­mie­rung der Wie­ner Thea­ter sto­ßen auf we­nig Gegenliebe.

Erst sein nächs­ter Wien-Auf­ent­halt vom 9. bis 20. Mai 1861 ist auch po­si­tiv be­setzt: Bei ei­ner Pro­be in der Wie­ner Hof­oper wird ihm „der be­rau­schen­de Ein­druck der erst­ma­li­gen An­hö­rung mei­nes Lo­hen­grin ge­gönnt“. Zu­dem wird ihm die „Tristan“-Uraufführung in Aus­sicht ge­stellt. Bei der „Lohengrin“-Vorstellung am 15. Mai wird er stür­misch ge­fei­ert und be­dankt sich mit ei­ner An­spra­che von der Loge aus. Als er zur Ein­stu­die­rung des „Tris­tan“ am 14. Au­gust wie­der­kommt, fol­gen frus­trie­ren­de Wo­chen, weil der Te­nor Alo­is An­der so lan­ge hei­ser bleibt, dass die Pro­ben An­fang No­vem­ber ab­ge­bro­chen wer­den müssen.

Auf der Rück­fahrt von sei­nem zwei­ten Ve­ne­dig-Be­such nach Wien kon­zi­piert er die Ou­ver­tü­re der erst­mals 1845 ent­wor­fe­nen Meis­ter­sin­ger und lässt sich Jo­hann Chris­toph Wa­gen­seils Buch „Von der Meis­ter­sin­ger hold­se­li­gen Kunst“ aus der Kai­ser­li­chen Bi­blio­thek be­sor­gen. Mit­te No­vem­ber ent­ste­hen die Erst­schrift und die Rein­schrift sei­nes neu­en Pro­sa­ent­wurfs, den er am 19. No­vem­ber an sei­nen Ver­le­ger Franz Schott sen­det. „Sie er­se­hen dar­aus, um was es sich han­delt, und stim­men mir ge­wiß bei, wenn ich in der Aus­füh­rung die­ser Ar­beit ei­nem mei­ner ori­gi­nells­ten, je­den­falls mei­nem po­pu­lärs­ten Wer­ke ent­ge­gen­se­he“, schreibt er ihm tags dar­auf. Ende No­vem­ber reist er über Mainz nach Pa­ris ab.

Erst ein Jahr spä­ter, am 14. No­vem­ber 1862, kommt er nach Wien zu­rück, in Be­glei­tung der Schau­spie­le­rin Frie­de­ri­ke Mey­er, ei­ner jün­ge­ren Schwes­ter der be­rühm­ten Sän­ge­rin Lui­se Dust­mann, die in Wien die Isol­de kre­ieren soll. Am 23. No­vem­ber fin­det in der Woh­nung von sei­nem Freund Dr. Jo­seph Stand­hart­ner, dem Leib­arzt von Kai­se­rin Eli­sa­beth, eine „Meistersinger“-Lesung statt, bei der Wag­ner es sich end­gül­tig mit dem Kri­ti­ker Edu­ard Hans­lick ver­dirbt, der sich in der zu die­sem Zeit­punkt als Veit Hans­lich be­zeich­ne­ten Beck­mes­ser­fi­gur na­tür­lich wiedererkennt.

Im Wie­ner Ho­tel „Kai­se­rin Eli­sa­beth“ ent­steht zum Jah­res­en­de sein Vor­wort zur Her­aus­ga­be der Dich­tung des Büh­nen­fest­spiels „Der Ring des Ni­be­lun­gen“, in dem er be­schreibt, dass es un­mög­lich ist, sein Werk den Re­per­toire-Thea­tern an­zu­ver­trau­en. Er schlägt den Bau ei­nes Fest­spiel­hau­ses in ei­ner „min­der gro­ßen“ Stadt vor, den er durch pri­va­te Stif­tun­gen oder durch ein Fürs­ten-Bud­get fi­nan­zie­ren will. „Wird die­ser Fürst sich fin­den?“, schreibt er – und er fin­det sich tat­säch­lich, sech­zehn Mo­na­te später.

Doch zu­rück nach Wien. Nach drei de­fi­zi­tä­ren Kon­zer­ten in Wien tritt er im Fe­bru­ar 1863 eine er­folg­rei­che Kon­zert­rei­se nach Pe­ters­burg und Mos­kau an. Am 12. Mai 1863 be­zieht er eine neue Woh­nung in ei­ner Vor­stadt­vil­la in Pen­zing un­weit des Schön­brun­ner Schloss­gar­tens und rich­tet sie kost­spie­lig ein. Sein Ver­mie­ter über­lässt ihm den Jagd­hund Pohl. In die­ser Zeit be­schäf­tigt er erst­mals die Putz­ma­che­rin Ber­tha Gold­wag, die bis zu ih­rer Ver­hei­ra­tung 1868 für ihn ar­bei­ten wird. Sei­ne 1906 in Wien ver­öf­fent­lich­ten Brie­fe an sie ha­ben seit­her im­mer wie­der Spöt­ter, Ka­ri­ka­tu­ris­ten, Kaf­fee­satz­le­ser, Psy­cho­lo­gen und Psych­ia­ter auf den Plan ge­bracht. Und er trifft mit Anna und Franz Mra­zeck auf ein Die­n­er­paar, das er zu­sam­men mit dem Hund auch nach Mün­chen mit­neh­men wird.

Auch in sei­nem neu­en Wie­ner Do­mi­zil schafft er es nicht, sich zu „be­weibsen“: Mat­hil­de Mai­er, die er in Bie­brich und Mainz ken­nen ge­lernt hat, will nur zu ihm kom­men, wenn er sich von sei­ner Frau Min­na schei­den lässt und sie hei­ra­tet. Er voll­endet die Par­ti­tur der ers­ten „Meistersinger“-Szene, wei­te­re Kon­zert­rei­sen füh­ren ihn 1863 nach Bu­da­pest, Prag, Karls­ru­he, Lö­wen­berg und Bres­lau. Nach ei­nem letz­ten Be­such im Hau­se We­sen­don­ck in Zü­rich trifft er am 28. No­vem­ber bei ei­nem Ber­lin-Be­such end­lich auf die für ihn rich­ti­ge Frau. Es wird al­ler­dings noch ge­rau­me Zeit dau­ern und nicht nur ei­nen Skan­dal aus­lö­sen, bis er Co­si­ma von Bülow hei­ra­ten kann.

An­fang 1864 geht Wag­ner in Wien wie­der ein­mal sei­nem fi­nan­zi­el­len Ruin ent­ge­gen. Er stellt stän­dig neue Wech­sel aus, nach 77 Pro­ben wird das „Tristan“-Projekt als un­auf­führ­bar fal­len ge­las­sen, die Wech­sel ge­hen zu Pro­test, er ver­kauft ei­lig, was er ver­kau­fen kann, sei­ne Schul­den be­lau­fen sich um­ge­rech­net auf rund 60 000 Euro. Sein Rechts­bei­stand rät ihm schließ­lich, aus Wien zu flie­hen, um der Schuld­haft zu ent­ge­hen. Am 23. März 1864 trifft er in Mün­chen ein, zwei Tage spä­ter dich­tet er dort fol­gen­de iro­ni­sche Grabschrift:

„Hier liegt Wag­ner, der nichts geworden,
nicht ein­mal Rit­ter vom lum­pigs­ten Orden;
nicht ei­nen Hund hin­ter’m Ofen ent­lockt‘ er,
Uni­ver­si­tä­ten nicht ‚mal ’nen Dokter.“

Ak­tua­li­sier­te Ver­si­on der Erst­ver­öf­fent­li­chung von 2013 auf www​.in​fran​ken​.de in dem Blog „Mein Wag­ner-Jahr“

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