Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Montag 13ten [Dezember 1880] Die Nacht ist schlimm und lang; der Tag graut zwölf Stunden über! R. behauptet, alle Flüsse der Hölle habe er in Aug‘ und Nase, Styx, Acheron u.s.w.[1] Ganz deutlich sagten ihm die Götter: Fort, wenn du noch etwas schaffen willst und leben. Die Kinder melden den Geburtstag von Lenbach[2], und R. redigiert eine Depesche an ihn (siehe Mappe 1). Er arbeitet, und mit dem Abend stellt sich doch Heiterkeit ein, und wir müssen sehr lachen, wie er von Spanien, von der Stadt Xeres sprechend, sagt: „Wie Xerxes ein X, eine unbekannte Größe verlor.“ – (Gestern ließ er sich von Stein[3] das Rechnen mit unbekannten Größen erklären.) Wir beendigen die Novelle von Cervantes[4]; schon in der Frühe hatte R. die Vorliebe für die Zigeuner seitens Cervantes’ hervorgehoben, er sagt: „Alle haben die Sehnsucht empfunden, außer der Welt gleichsam eine Zuflucht sich zu schaffen. Beim Maulesel tritt der Zigeuner für das Tier ein, den der Edelmann opfert, um sich zu retten. Alles wird gesehen, gezeigt, aber nichts ausgesprochen –.“ – – Abends sagt er mir, wie bedeutungsvoll das wäre, wenn Stein wirklich einen Plan für die Erziehung des Knaben durchführte. – Das Gespräch führte uns abends auf N.[apoleon] III., und R. sagte: Solche Menschen, die solche Sachen vollbringen wie den 2ten Dez.[5], werden dann weise Herrscher, Wohltäter ihres Landes. – Und vom deutschen Kaiser[6] sagt er, er könne in den Enthusiasmus für sein Wohlwollen schon deshalb nicht einstimmen, weil er wisse, daß er zu den Unerbittlichsten gegen die Reaktionäre* gehört habe.
Fußnoten
[1] Styx ist in der griechischen Mythologie neben Acheron, Lethe, Kokytos, Phlegethon und Eridanus ein Fluss der Unterwelt und eine Flussgöttin. Im Griechischen ist die Styx weiblich, was für griechische Flussnamen selten ist. Im Deutschen sind beide Genera – sowohl der als auch die Styx – geläufig.
[2] Lenbach, Franz Seraph von (1836–1904), Maler, 1863–68 in Italien und Spanien, danach München; erfolgreichster Porträtist seiner Zeit und speziell der Wagner-Familie. Über die in Bezug auf ihn erwähnte Mappe 1 schweigen sich die Tagebuchherausgeber leider aus, und bis RWs komplette Briefausgabe bei 1880 angelangt ist (von Cosimas noch ungehobenen Briefschaften ganz zu schweigen), kann es auch noch dauern. L. hat zahlreiche Bildnisse von RW (mehr als ein Dutzend!) und Cosima geschaffen, beide saßen ihm in seinem Münchner Atelier auch mehrfach Modell; L. besuchte sie in Tribschen und Bayreuth, gehörte zum engeren Freundeskreis der Familie, obwohl er bestimmt kein Wagnerianer war, wie folgendes Bonmot belegt: „Ihre Musik – “, soll er RW gesagt haben, „ach was, dö is ja a Lastwagen nach dem Himmelreich“. Dem aus Italien zurückkehrenden Clan hatte er übrigens am 6. November 1880 einen großen Empfang in München ausgerichtet, worüber er bei einer Freundin wie folgt ablästerte: „habe […] den Wagnerfexen und sonst Leuten, welche den Kasperl von Bayreuth sehen wollten, einen Abend gegeben.“ Umgekehrt ließ auch RW manchmal kaum ein gutes Haar an L., schätzte aber dennoch vor allem seine Cosima-Porträts: „Er findet“, notierte C. im Oktober 1879, „das Merkwürdige bei Lenbach, daß beim ersten Blick seine Bilder uns wie ein Idee frappieren, man könne dann dieses oder jenes nicht gut finden, aber der Gesamt-Eindruck sei immer ein überzeugender.“ Siehe auch die Skizze weiter unten …
[3] Stein, Karl Heinrich von (1857–1887), Philosoph, Schriftsteller, Hauslehrer von Fidi 1879 bis 1880, mehr über ihn in Fußnote 1 vom 11. Dezember
[4] Leseprobe hier
[5] Staatsstreich Napoleons III. am 2. Dez. 1851, am 20. Dez. zum Präsidenten ernannt, am 2. Dez. 1852 zum Kaiser proklamiert.
[6] Wilhelm I., mit vollem Namen Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen (1797–1888), aus dem Haus Hohenzollern, war von 1861 bis zu seinem Tod König von Preußen und seit der Reichsgründung 1871 erster Deutscher Kaiser.
*So zu lesen, muß wohl eindeutig „Revolutionäre“ heißen! [Anmerkung der Tagebuch-Editoren]
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit stark erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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