Mittwoch 15ten [Dezember 1880] R. hatte eine gute Nacht. Beim Frühstück sagt er mir, er habe viel an R. III.[1] gedacht, und dessen Monolog, und wie merkwürdig dies sei, daß er in Verachtung diejenigen habe, welche nun beim „verbotenen Klang der Laute“ sich ergötzen nach all den blutigen Dingen. – Wir gehen bei gutem Wetter vor Tisch aus, die Chaussee nach Konnersreuth; nach Tisch aber ist es schon trübe; im Hofgarten ergötzen uns Begegnungen, ein Bürger, den R. mir bezeichnet, welcher mit schwarz baumwollen beschuhtem Finger an die Nase drückt, um seiner Rede mehr Gewicht zu geben. Dann, von einem alten Mann in Mütze und Mantel sagt er, das ist der Grün-Unter aus den deutschen alten Karten. Am meisten Vergnügen macht immer Marke[2] mit dem „ondulanten[3] Gang“, wie R. bemerkt, noch die Form des Wurmes darin. – Wir haben um Mittag Abschied von unserem Freund Stein[4] genommen, uns auf ein Wiedersehen freuend. Von seiner noch unvollkommenen Art vorzulesen sagt R., er werfe die Verse heraus wie Spitzbuben aus irgendeinem Lokal: Du – – dich kenne ich, und dich auch – – u.s.w. … Abends Besuch unseres Freundes Feustel[5], der in komischster Weise das Zerwürfnis zwischen Voltz und Batz[6] erzählt, welches zur Folge hatte, daß die Bücher nun an neutralem Boden niedergelegt wurden. Die beiden Damen (Schwestern) vertrugen sich nicht, keine gönnte der anderen, daß der Mann zum andren ging! Und Batz, mit seinem Vater entzweit, ist nun wiederum mit diesem versöhnt, weil er sich mit seiner Mutter – welche von diesem Zuchthauspächter getrennt lebt – überworfen hat. Balzac[7]! – Dann spricht er von der Währungs-Veränderung[8] und daß Deutschland keinen falschen Schritt mehr tun dürfe, weil es zu arm sei.
Fußnoten
[1] Nein, das ist jetzt ausnahmsweise nix Familiäres, sondern das Drama Richard III. von William Shakespeare.
[2] Neufundländer der Wagners, siehe auch Tagebuch-Adventskalender vom 10. Dezember, Fußnote 5.
[3] ondulant (frz.) = wiegend, wallend, sanft wogend, wellenförmig verlaufend. Kurz gesagt: Es scheint, dass Marke einen vom Rheintöchtersang geprägten Gang drauf hatte, während R. darin schon den sich ringelnden Riesenwurm sah, oder?
[4] Stein, Karl Heinrich von (1857–1887), Philosoph, Schriftsteller, von 1879 bis 1880 Hauslehrer von Fidi ( =Siegfried Wagner), mehr über St. in Fußnote 1 des Tagebuch-Adventskalenders vom 11. Dezember.
[5] Feustel, Friedrich von Feustel, Friedrich (1824–1891), Bayreuther Bankier, Politiker und einer der wichtigsten Förderer RWs in Bayreuth; etwas mehr über ihn in Fußnote 2 des Tagebuch-Adventskalenders vom 9. Dezember.
[6] Siehe Fußnote 1 vom 9. Dezember.
[7] Balzac, Honoré de (1799–1850), französischer Romancier, hochgeschätzt bei beiden Wagners, die immer wieder in seinen Werken lesen. „Ich habe“, schreibt Cosima zum Beispiel am 17. Juli 1878, „zur Zerstreuung meines Unwohlseins den Roman von Balzac wieder in die Hand genommen, den ich beinah allen vorziehe, ein eingehendes Lob, welches R. neulich dem großen Schriftsteller zollte, brachte mich darauf; R. liest mir dann abends aus diesem Curé de village (Der Landpfarrer) die Scene, in welcher die Diener von Véronique ihr in ihrer eigenen Weise das Leben von ‚Farrabesche‘ erzählen, wir müssen über den volkstümlichen Ton herzlich lachen, ‚was das für ein begabter Mensch ist‘, ruft inmitten der Lektüre R. aus. Er liest mir ganz fließend vor. Selbst sein exklusiv katholisches Gepräge“, trägt sie als Randbemerkung nach, „dünkt mich berechtigt; es bildet den festen Rahmen, ohne welchen es kein Kunstwerk gibt.“ Bedeutender als Walter Scott befindet R. Balzac und bewundert dessen Gabe, sich auch „in das Detail eines anscheinend unbedeutenden Wesens zu versetzen.“ Cosima ergänzt, „selbst die Bewässerungs-Angelegenheit [im Landpfarrer] interessiert ihn, nur die langen Beschreibungen von Gegenden und Häusern liebt er nicht.“
[8] Die Einführung der Mark als Währung im damaligen Deutschen Kaiserreich wurde am 4. Dezember 1871 festgelegt und schrittweise und galt 1. Januar 1876 als das einzige gesetzliche Zahlungsmittel. Als eine der wenigen Ausnahmen blieben in Bayern (!) die alten 1-Heller-Münzen im Wert einen halben Pfennigs wegen der Biersteuer (!!) noch geraume Zeit über 1878 hinaus in Bayern gültig. Der Umlauf der bayerischen Hellermünzen verlor sich dann in den 1880er Jahren, sodass zunächst kein Gesetz zu ihrer Außerkurssetzung erlassen wurde; das endgültige Aus erfolgte erst mit dem neuen Münzgesetz von 1924. Was genau RW mit seiner Anspielung auf die Währungsveränderung meint, ist unklar. Sie dürfte jedenfalls nichts zu tun haben mit der Auszahlung der allerhöchsten Zuwendung aus der königlichen Kabinettskasse in Höhe von 40 000 Gulden in Form von Münzgeld am 2. Oktober 1865 an Cosima. Denn wenn das nicht Silbermünzen, sondern Bierheller gewesen wären, wären das sicher nicht nur zwei Droschken gewesen, derer es dazu bedurfte hätte, um den Heimweg nicht allzu ondulant ausfallen zu lassen.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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