Tagebuch-Adventskalender (22)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Al­bert Nie­mann – Vor­la­ge: Ri­chard Stern­feld: Al­bert Nie­mann, Ber­lin 1904, Univ.- und Lan­des­bi­blio­thek Münster

Mitt­woch 22ten [De­zem­ber 1880] Gu­tes Wet­ter, R. ar­bei­tet et­was, ist aber im­mer un­ter der Last der Ein­drü­cke, der jüngs­ten Ein­drü­cke, und wie Lusch[1] bei Tisch von der Auf­füh­rung der 9ten Sym­ph.[2] spricht, sagt er ihr ernst­haft: Wenn man eine Spur von Takt ge­habt, so hät­te man dir nicht ein Wort da­von ge­sagt. Nach Tisch liest er uns die De­bat­te über die Ju­den-Fra­ge[3] vor und spricht sich da­hin aus, daß alle Re­den und Maß­re­geln un­nütz sei­en, so lan­ge der Be­sitz da sei. Der Welt-Frie­de wür­de al­ler­dings in die­ser Fra­ge ge­hol­fen ha­ben, aber so lan­ge man auf dem Wehr­fuß ei­ner ge­gen den and­ren stün­de, so lan­ge wür­den auch die Ju­den mäch­tig sein. Sie sei­en die ein­zi­gen wirk­lich Frei­en, denn nur mit Geld jetzt kann ich es ver­mei­den, daß mein Sohn ein Skla­ve des Staa­tes sei. – Wie ich ihm sage, ob er nicht die­se Ge­dan­ken in den Blät­tern aus­spre­chen woll­te, er­wi­dert er mir: Da­ge­gen habe er ei­nen gro­ßen Wi­der­wil­len, er habe vie­le No­ti­zen zu Aus­ar­bei­tun­gen sei­ner gro­ßen Ge­dan­ken, und die­se wür­de er aus­füh­ren. Wir ge­hen im Hof­gar­ten spa­zie­ren, die äl­te­ren Mäd­chen[4] be­schäf­ti­gen uns, es ent­ste­hen trü­be Ge­sprä­che, die zu Hef­tig­keit ge­führt hät­ten, wenn nicht ein trau­ri­ges Schwei­gen er­run­gen wor­den wäre. Zu Hau­se an­ge­kom­men, läßt es mir kei­ne Ruhe, bis ich R. um Ver­zei­hung ge­be­ten, daß ich nicht mäch­tig ge­nug sei, ge­wis­se Stim­mun­gen von ihm zu ver­scheu­chen. Er sagt, blu­ti­ge Trä­nen möch­te er wei­nen, wenn er mich be­küm­mert habe, und die See­len strö­men un­ge­hin­dert in­ein­an­der über. – Frau Nie­mann[5] schickt eine Pho­to­gra­phie R.’s für ih­ren Mann[6], wel­che R. un­ter­schreibt: Weh­walt heiß ich für­wahr, da Nie­mann mich nicht singt. – Abends le­sen wir die No­vel­le von Cer­van­tes[7] wei­ter, aber nicht bis zu Ende, denn die­se Tür­ken-Ge­schich­te wi­dert uns an. – Wie wir un­ter uns sind, sagt mir R.: Er habe et­was ge­schla­fen vor dem Abend­brot, und das täte ihm so wohl, die Mus­keln aus­zu­deh­nen; es sei ihm, als ob al­les im­mer ein Krampf sei, die Pho­to­gra­phie für Nie­mann, Emp­fang von dem und je­nem Freund, das Re­den, al­les al­les Krampf. – Und am Schluß: »Man muß froh sein, wenn die Mühe zu Mü­dig­keit wird.« –

Fuß­no­ten
[1] Lusch = Lulu = Lou­lou = Sen­ta = Da­nie­la von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Tho­de), ers­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow
[2] Lusch woll­te ih­ren Va­ter in Mei­nin­gen be­su­chen, der dort im Ok­to­ber Hof­ka­pell­meis­ter ge­wor­den war und am 19. De­zem­ber Beet­ho­vens 9. Sym­pho­nie so auf­füh­ren soll­te, wie Ri­chard Wag­ner es am Palm­sonn­tag 1846 an der Hof­oper in Dres­den mit be­glei­ten­den Er­läu­te­run­gen und Faust-Zi­ta­ten prak­ti­ziert hat­te. Am 2. De­zem­ber 1880 ant­wor­te­te Bülow per Te­le­gramm auf die An­fra­ge Co­si­mas wg. ei­nes mög­li­chen Be­suchs von Lusch, dass er „un­mög­lich so­fort ant­wor­ten kön­ne, er sei ei­ni­ge Tage ver­hin­dert und im­mer lei­dend“. Acht Tage dar­auf kam in Wahn­fried ein Brief Bülows an, der bei den Wag­ners eine „erns­te Stim­mung“ und die Fra­ge RWs nach ei­ner Ad­op­ti­on sämt­li­cher Kin­der auf­warf. Am 18. De­zem­ber kommt RW er­neut „auf Hans zu spre­chen und mit Ent­rüs­tung we­gen sei­nes Be­neh­mens ge­gen Lusch“. Es geht da­bei nicht nur um de­ren Be­such, son­dern auch um Geld aus dem Bülow-Fonds, was die Dis­kus­si­on um ei­nem Brief an Bülows Nef­fen Fre­ge zu Fol­ge hat­te. Der als takt­los ge­rüg­te In­for­mant über die Auf­füh­rung der Neun­ten in Mei­nin­gen dürf­te Fried­rich Feus­tel ge­we­sen sein, der am 20. De­zem­ber in Wahn­fried über die Er­fah­run­gen sei­nes dort wei­len­den Schwie­ger­sohns Adolf von Groß be­rich­tet hatte.
[3] ver­mut­lich aus­ge­löst durch die sog. Förster-Petition.
[4] Da­nie­la und Blan­di­ne von Bülow.
[5] Hed­wig Nie­mann-Raa­be (1844–1905), Schau­spie­le­rin und zwei­te Ehe­frau des Hel­den­te­nors Al­bert Nie­mann, mit dem sie zwei Söh­ne hatte.
[6] Al­bert Wil­helm Carl Nie­mann (1831–1917), Te­nor und Wag­ner-In­ter­pret, der sich schon durch sei­ne Auf­trit­te der le­gen­dä­ren Tann­häu­ser-Skan­dal-Auf­füh­run­gen in Pa­ris un­sterb­lich ge­macht hat­te; in Bay­reuth war er So­list bei Beet­ho­vens Neun­ter zur Grund­stein­le­gung des Fest­spiel­hau­ses 1872 so­wie Sieg­mund der Ring-UA 1876. Im März 1877 über­nahm er ei­nen jun­gen Hund der Wag­ners na­mens Kos, be­nannt nach ei­nem sechs Jah­re zu­vor ver­stor­be­nen Pin­scher. Da es sich bei Kos 2 um ei­nen Neu­fund­län­der han­del­te, könn­te es ein Nach­kom­me von Bran­ge und Mar­ke ge­we­sen sein. RW je­den­falls reim­te am 13. März 1877 „bei der Über­sen­dung ei­nes Neu­fund­län­ders“ an Nie­mann wie folgt:
Die Welt heisst – Mundus;
Was sie will, ist – Schmundus;
De­fi­cit braucht – Pfundus:
Nie­mann kriegt – Hundus.
Auf deutsch:
Hun­ding kam auf den Hund,
Den kriegt nun Held Siegmund!
Auch könn­te man singen:
Der Hund, auf den Wag­ner gekommen, 
Wird ihm von Nie­mann nun abgenommen.
Al­les schön!
Wo­mit ich ger­ne noch auf die Quel­le hin­wei­se, näm­lich Frank Pionteks Samm­lung von RWs Ge­dich­ten un­ter dem Ti­tel Auf­ge­paßt! Jetzt kommt ein schö­nes Ge­dicht!, das man eben­so wie des­sen Wag­ner-Weih­nachts­buch Lass Dir recht viel zu Weih­nach­ten be­sche­ren! di­rekt bei Breu­er & Sohn in Bay­reuth er­hal­ten kann – al­ler­dings erst nach der Corona-Weihnachtspause.
[7] „Der groß­mü­tig Lie­ben­de“ von Cer­van­tes, Lek­tü­re be­gon­nen am Abend zuvor.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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