Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Mittwoch 22ten [Dezember 1880] Gutes Wetter, R. arbeitet etwas, ist aber immer unter der Last der Eindrücke, der jüngsten Eindrücke, und wie Lusch[1] bei Tisch von der Aufführung der 9ten Symph.[2] spricht, sagt er ihr ernsthaft: Wenn man eine Spur von Takt gehabt, so hätte man dir nicht ein Wort davon gesagt. Nach Tisch liest er uns die Debatte über die Juden-Frage[3] vor und spricht sich dahin aus, daß alle Reden und Maßregeln unnütz seien, so lange der Besitz da sei. Der Welt-Friede würde allerdings in dieser Frage geholfen haben, aber so lange man auf dem Wehrfuß einer gegen den andren stünde, so lange würden auch die Juden mächtig sein. Sie seien die einzigen wirklich Freien, denn nur mit Geld jetzt kann ich es vermeiden, daß mein Sohn ein Sklave des Staates sei. – Wie ich ihm sage, ob er nicht diese Gedanken in den Blättern aussprechen wollte, erwidert er mir: Dagegen habe er einen großen Widerwillen, er habe viele Notizen zu Ausarbeitungen seiner großen Gedanken, und diese würde er ausführen. Wir gehen im Hofgarten spazieren, die älteren Mädchen[4] beschäftigen uns, es entstehen trübe Gespräche, die zu Heftigkeit geführt hätten, wenn nicht ein trauriges Schweigen errungen worden wäre. Zu Hause angekommen, läßt es mir keine Ruhe, bis ich R. um Verzeihung gebeten, daß ich nicht mächtig genug sei, gewisse Stimmungen von ihm zu verscheuchen. Er sagt, blutige Tränen möchte er weinen, wenn er mich bekümmert habe, und die Seelen strömen ungehindert ineinander über. – Frau Niemann[5] schickt eine Photographie R.’s für ihren Mann[6], welche R. unterschreibt: Wehwalt heiß ich fürwahr, da Niemann mich nicht singt. – Abends lesen wir die Novelle von Cervantes[7] weiter, aber nicht bis zu Ende, denn diese Türken-Geschichte widert uns an. – Wie wir unter uns sind, sagt mir R.: Er habe etwas geschlafen vor dem Abendbrot, und das täte ihm so wohl, die Muskeln auszudehnen; es sei ihm, als ob alles immer ein Krampf sei, die Photographie für Niemann, Empfang von dem und jenem Freund, das Reden, alles alles Krampf. – Und am Schluß: »Man muß froh sein, wenn die Mühe zu Müdigkeit wird.« –
Fußnoten
[1] Lusch = Lulu = Loulou = Senta = Daniela von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Thode), erste Tochter von Cosima und Hans von Bülow
[2] Lusch wollte ihren Vater in Meiningen besuchen, der dort im Oktober Hofkapellmeister geworden war und am 19. Dezember Beethovens 9. Symphonie so aufführen sollte, wie Richard Wagner es am Palmsonntag 1846 an der Hofoper in Dresden mit begleitenden Erläuterungen und Faust-Zitaten praktiziert hatte. Am 2. Dezember 1880 antwortete Bülow per Telegramm auf die Anfrage Cosimas wg. eines möglichen Besuchs von Lusch, dass er „unmöglich sofort antworten könne, er sei einige Tage verhindert und immer leidend“. Acht Tage darauf kam in Wahnfried ein Brief Bülows an, der bei den Wagners eine „ernste Stimmung“ und die Frage RWs nach einer Adoption sämtlicher Kinder aufwarf. Am 18. Dezember kommt RW erneut „auf Hans zu sprechen und mit Entrüstung wegen seines Benehmens gegen Lusch“. Es geht dabei nicht nur um deren Besuch, sondern auch um Geld aus dem Bülow-Fonds, was die Diskussion um einem Brief an Bülows Neffen Frege zu Folge hatte. Der als taktlos gerügte Informant über die Aufführung der Neunten in Meiningen dürfte Friedrich Feustel gewesen sein, der am 20. Dezember in Wahnfried über die Erfahrungen seines dort weilenden Schwiegersohns Adolf von Groß berichtet hatte.
[3] vermutlich ausgelöst durch die sog. Förster-Petition.
[4] Daniela und Blandine von Bülow.
[5] Hedwig Niemann-Raabe (1844–1905), Schauspielerin und zweite Ehefrau des Heldentenors Albert Niemann, mit dem sie zwei Söhne hatte.
[6] Albert Wilhelm Carl Niemann (1831–1917), Tenor und Wagner-Interpret, der sich schon durch seine Auftritte der legendären Tannhäuser-Skandal-Aufführungen in Paris unsterblich gemacht hatte; in Bayreuth war er Solist bei Beethovens Neunter zur Grundsteinlegung des Festspielhauses 1872 sowie Siegmund der Ring-UA 1876. Im März 1877 übernahm er einen jungen Hund der Wagners namens Kos, benannt nach einem sechs Jahre zuvor verstorbenen Pinscher. Da es sich bei Kos 2 um einen Neufundländer handelte, könnte es ein Nachkomme von Brange und Marke gewesen sein. RW jedenfalls reimte am 13. März 1877 „bei der Übersendung eines Neufundländers“ an Niemann wie folgt:
Die Welt heisst – Mundus;
Was sie will, ist – Schmundus;
Deficit braucht – Pfundus:
Niemann kriegt – Hundus.
Auf deutsch:
Hunding kam auf den Hund,
Den kriegt nun Held Siegmund!
Auch könnte man singen:
Der Hund, auf den Wagner gekommen,
Wird ihm von Niemann nun abgenommen.
Alles schön!
Womit ich gerne noch auf die Quelle hinweise, nämlich Frank Pionteks Sammlung von RWs Gedichten unter dem Titel Aufgepaßt! Jetzt kommt ein schönes Gedicht!, das man ebenso wie dessen Wagner-Weihnachtsbuch Lass Dir recht viel zu Weihnachten bescheren! direkt bei Breuer & Sohn in Bayreuth erhalten kann – allerdings erst nach der Corona-Weihnachtspause.
[7] „Der großmütig Liebende“ von Cervantes, Lektüre begonnen am Abend zuvor.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
Liebe Leser!
Sie können Beers Blog abonnieren – und Sie können für einen Jahresbeitrag von nur 25 Euro (Paare 40 Euro) Mitglied werden beim RWV Bamberg oder einfach etwas spenden auf unser Konto bei der Sparkasse Bamberg: DE85 7705 0000 0300 281441…
Ähnliche Beiträge
- Tagebuch-Adventskalender (2) 2. Dezember 2020
- Tagebuch-Adventskalender (12) 12. Dezember 2020
- Eine „mustergiltige“ Elisabeth, Elsa und Eva 19. April 2020
- Silvester bei Wagners 31. Dezember 2019
- Tagebuch-Adventskalender (7) 7. Dezember 2020