Asmik Grigorian, die neue Bayreuther Senta, ist ein Ereignis, auch das Debüt von Oksana Lyniv im Orchestergraben gelingt. Die „Holländer“-Neuinszenierung Dmitri Tcherniakovs hingegen ist eine Enttäuschung.
Dass das Festspielpublikum vor Begeisterung trampelt, ist nicht ungewöhnlich. Dass es auf Anhieb fast geschlossen aufsteht, um eine Solistin zu feiern, hingegen schon eher. Am Sonntag Abend schien es, als sei die enorme Energie, die die Sopranistin Asmik Grigorian als Senta im „Fliegenden Holländer“ ausgestrahlt hatte, aufs Premierenpublikum übergesprungen.
Die stehenden Ovationen waren natürlich auch ein Ausdruck der Erleichterung und Freude: Nach der Corona-Zwangspause endlich wieder eine Wagneroper im Bayreuther Festspielhaus erleben zu dürfen, hat sicher ebenso zur Begeisterung beigetragen wie die Tatsache, dass man zu den rund 900 Kartenbesitzern gehörte, die zuvor den zeitaufwändigen Sicherheitsparcours bewältigt hatten.
Es gab allerdings nicht nur eitel Wonne, das kundige Auditorium differenzierte deutlich. Erwartbar mussten Dmitri Tcherniakov und sein Team, die leider nur eine uninspirierte Regietheater-Fließbandarbeit ablieferten, die stärkste Ablehnung für sich verbuchen, während der Beifall für John Lundgren in der Titelpartie im Vergleich zum Senta-Jubel bestenfalls höflich blieb.
Auch zum Chor verirrten sich ein paar Buhrufe – unberechtigt, denn gerade dessen Leistung war angesichts der gegebenen Umstände außerordentlich. Der Klang des geteilten Chors – die eine Hälfte singt im Chorsaal, die andere bleibt zumeist stumm, nur die Lippen bewegend, agierend auf der Bühne – wurde gut wiedergegeben, wenn man bedenkt, dass selbst die besten Übertragungssysteme es nicht schaffen, die räumliche Wirkung von Chorgesang in allen dynamischen Stufen wiederzugeben.
Überhaupt klappte bis auf wenige Wackler schon bei der Premiere die wegen der Corona-Maßnahmen deutlich erschwerte Koordination von Solisten-, Chor- und Orchesterstimmen. Oksana Lyniv, deren internationale Laufbahn mit ihrem 3. Preis beim ersten Bamberger Mahler-Wettbewerb 2004 begann und die als Assistentin erst von Jonathan Nott, dann von Kyrill Petrenko in die Kunst der Taktstockmagie eingeführt wurde, hatte bei ihrem Hügel-Debüt alles fest im Griff.
Mit zügigen Tempi, gekonnt flüssigen Übergängen und tänzerisch leichten Einsprengseln sorgte die Maestra im Festspielorchester für musikalische Hochspannung, bei der nur einige Holzbläser Nerven zeigten. Dem zusätzlichen Druck als erste Frau im Bayreuther Orchestergraben war Lyniv ebenso gewachsen wie den akustischen Besonderheiten ebendort. Man darf gespannt sein, wie sich ihr „Holländer“-Dirigat weiterentwickelt. Jedenfalls gelang ihr ein beachtliches Debüt, das auch ohne die vorab in den Medien bis zum Abwinken bemühte „Frauenpower am Hügel“ glänzt.
Der wirkungsmächtigste, weil nicht nur hörbare weibliche Auftritt im neuen Bayreuther „Holländer“ bleibt jedoch der Senta-Protagonistin vorbehalten. Asmik Grigorian ist eine großartige Sängerdarstellerin, die sich ihre Rollen psychisch und physisch so sehr einzuverleiben weiß, dass sie in den Augen der Zuschauer stets authentisch, direkt und glaubhaft ankommt. Sie ist ein so charismatisches Bühnentier, dass einem selbst Operngesang plötzlich ganz normal und keinesfalls künstlich vorkommt. Und zwar unabhängig davon, ob die Inszenierung plausibel ist.
Dmitri Tcherniakov negiert im eigenen Bühnenbild Schauplätze und Handlung von Wagners romantischer Oper, deren Seefahrer-Milieu nur angedeutet wird – in den wasserfest-robusten Kostümen Elena Zaytsevas, die mit einem Schuss Retrochic heutig sind, und in den nordischen Klinkerhäuschen samt Kirche, die trotz des warmen Lichts (Gleb Filshtinsky), das durch die merkwürdig blinden Fenster dringt, zu kalt, abweisend und wie geleckt wirken. Als wären sie riesenhaftes Kinderspielzeug werden die Häuser wie von Geisterhand hin- und hergeschoben und sind am Ende tatsächlich gespenstisch, wenn sie von den Holländer-Mannen abgefackelt werden.
Das Dorfmilieu ist kleinbürgerlich und sichtlich spießig, was sich sowohl in der naturalistischen Kneipe spiegelt (deren ausgefahrene Markise allerdings schon in den hintersten Parkettreihen die Sicht aufs Geschehen am Tresen versperrt) und erst recht im Wintergarten-Esszimmer bei Dalands.
Der Plural ist hier angemessen, denn zu Daland gehört nicht nur Tochter Senta. Der Regisseur interessiert sich nämlich in erster Linie für das Beziehungsgeflecht der gegebenen beziehungsweise hinzuerfundenen Figuren. Er inszeniert eine Familienaufstellung, die sich vom parodistischen Ansatz der gerade uraufgeführten „Holländer“-Adaption der Studiobühne Bayreuth kaum unterscheidet.
Schon die Ouvertüre wird mit einer Behauptung bebildert, die zu keiner neuen Erkenntnis führt. Dass der als Kind traumatisierte Holländer in sein Dorf zurückkehrt, um sich für den Selbstmord seiner Mutter zu rächen, die mit Daland ein Verhältnis hat und aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird, sorgt zwar am Schluss für eindrucksvolle Szenen, geht aber am Stück und den ihm innewohnenden tieferen Schichten vorbei, die mit Psychologie allein nicht zu fassen sind.
Das ist schade, denn handwerklich, in der Personenführung, in der Choreographie der Auftritte und Abgänge, ist Tcherniakov zweifellos ein Könner (dessen „Carmen“-Inszenierung in meiner Bestenliste unter den ersten Zehn rangiert). Vielleicht verhält es sich mit Regisseuren, die an der Spitze angekommen sind, fast genauso wie mit Sängern. Wenn sie zu viel machen, kann es schnell und gründlich schief gehen.
Ob das trotz Corona-Zwangspause auch bei John Lundgren der Fall ist? Zumindest bei der Premiere war der schwedische Bariton stimmlich nicht gut disponiert, was umso mehr auffiel, als er darstellerisch überwiegend dezent, ja geradezu blass bleiben musste, was bei einem Mannsbild wie Lundgren gar nicht so einfach ist.
Der Holländer ist hier fast schon eine Nebenfigur – und das ist für den Titelhelden denn doch ein bisschen wenig. Zum Platzhirschen aufgewertet hat Tcherniakov vielmehr Daland, der offenbar der einzige Untote zu sein scheint: Altersmäßig war zwischen seinen Auftritten in der Ouvertüre und am Schluss kein Altersunterschied zu erkennen, während der Holländer erst als Statistenkind präsent ist und dann durch den Sänger verkörpert wird, wobei bestimmt nicht nur sieben Jahre vergangen sind.
Für Georg Zeppenfeld ist das natürlich ein gefundendes Fressen, mal keine langweilige Gutmenschenrolle verkörpern zu müssen. Er hat sichtlich Spaß an dieser Interpretation und ist sängerisch einmal mehr die sicherste Wagner-Bassisten-Bank der Welt. Seine Wortverständlichkeit ist zum Hinknien, seine Stimmfarben und -nuancen weisen ihn als wissenden Sänger aus, der nicht nur brav seine Noten singt, sondern dem Ausdruck verleiht, was der Inhalt ist, was hinter den Worten steht.
An sängerdarstellerischer Klasse ihm durchaus ebenbürtig ist Marina Prudenskaya als Mary, die viele hiesige Opernfreunde noch aus ihrer Zeit am Opernhaus Nürnberg in besten Erinnerung haben. Dass aus Sentas Amme hier eine Stiefmutter wird, die erst mit Aplomb den Chor der Frauen dirigiert und später zur Bewahrung des zweifelhaften Familienglücks zum Gewehr greift und den Holländer erschießt, ist eine Regietheatervolte, die man nur mit viel gutem Willen auch als eine Erlösungstat ansehen kann.
Eric Cutler als Erik lässt erfreulicherweise alles Weinerliche sein, singt sich damit zwar nicht in Sentas Herz, aber in das vieler Zuhörer, auch das Bayreuth-Debüt von Attilio Glaser gelingt. Bleibt nochmals Asmik Grigorian zu bejubeln, die hier mit Verve eine trotzige, punkige Göre mimt als stünde, stampfte und rockte Patti Smith leibhaftig auf der Bühne des Festspielhauses. Ihre Senta ist, trotz ihrer stimmlichen Grenzen, einfach ein Musiktheater-Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Im Online-Sofortkauf gibt es immer noch und/oder immer wieder Karten. Hoffentlich bleibt die weltweit gefragte Grigorian der Produktion auch in den Folgejahren erhalten!
Langversion der Kritik, die zuerst auf www.fraenkischertag.de veröffentlicht wurde und gedruckt im Fränkischen Tag vom 27. Juli 2021 erschienen ist.
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