Mit „Tristan und Isolde“ gelingt Elisabeth Stöppler in Chemnitz erneut ein Wagnerabend aus weiblicher Sicht, der hart und spannend ist wie ein Krimi. Daniel Kirch und Stéphanie Müther in den Titelrollen sind eine Wucht.
Als Heiner Müller 1993 in Bayreuth Richard Wagners „Tristan und Isolde“ inszenierte, war er vermutlich der erste, der nicht abhob auf die angeblich romantische oder metaphysische Liebesgeschichte, sondern erklärtermaßen auf den im Libretto häufig genannten Tod. Er separierte das Paar gewissermaßen, ließ keine Nähe, auch keinen Kuss zu (was unnötigerweise nach Müllers Tod von dessen Regieassistenten revidiert wurde). Das Publikum reagierte damals in Teilen empört, weil ihm die Inszenierung vom Ansatz nicht genug gefühlig war. Dass es aber noch viel konkreter und härter geht, ist jetzt an der Oper Chemnitz zu erleben. Dort findet seit dem 2018 vollendeten sogenannten „weiblichen ‚Ring‘“ eine zeitgenössische Wagnerinterpretion statt, die ihresgleichen sucht: Nach der von vier verschiedenen Regisseurinnen realisierten Tetralogie wurde Elisabeth Stöppler, die für ihre Inszenierung der „Götterdämmerung“ aus guten Gründen den renommierten Faust-Preis erhielt, gleich wieder für einen Wagnerabend engagiert. Und abermals ist ihr mit ihrem Team (Bühne: Annika Haller, Kostüme: Gesine Völlm) Herausragendes gelungen. Denn während viele Szeniker sich darauf hinausreden, dass es im „Tristan“ kaum eine Handlung gibt – Wagner hat bekanntlich dieses Werk im Untertitel explizit so bezeichnet –, präsentiert Stöppler einen von der ersten bis zur letzten Minute spannenden Krimi, der genau spiegelt, was folgenreich schon passiert ist und gerade geschieht.
Es ist erneut eine dezidiert weibliche Sicht, fußend auf präzisen Psychogrammen der Haupt- und Nebenfiguren, deren Hinter- und Beweggründe inklusive. Tristan ist der U-Boot-Kapitän, ein Kriegs-, aber sonst kein Held – ein Eigenhold, ein arrogant Jojo spielender Macho, dessen Weinkrampf in der Liebestrankszene des 1. Akts zunächst unerklärlich scheint und mehr überrascht als sein übermächtiger Todestrieb im hochherrschaftlichen Salon des 2. Akts. Erst im Kinderzimmer des 3. Akts – und drastischer als in der Landshuter „Tristan“-Inszenierung von 2016, wo die Kindheit des Titelhelden erstmals ausführlich thematisiert wurde – wird sein Trauma sichtbar, wird klar, dass sich der Waisenknabe mit dem zwar fürsorglichen, aber steifbeinigen Haudegen Kurwenal als einziger Bezugsperson mitsamt den Kinohelden wie Rambo und Rocky und dem ganzen Kriegsspielzeug kaum anders sozialisieren konnte.
Isolde hingegen ist eine handfeste, lebensbejahende und selbstbewusste Frau, deren berechtigten Hass- und Rachegefühle sich im 1. Akt, im Niemandsland des geschlossenen U-Boots-Transitraums, umso heftiger entladen. Kein Wunder, wenn schon eingangs der Gesang des jungen Seemanns so höhnisch klingt und die U-Boot-Mannschaft oben im Kommandoraum über die zwei Frauen unten in ihren Schlafkojen sexistisch herzieht. Dass Isolde in dieser gewalttätigen Männerwelt dennoch in Liebe fällt, sich der Realität verweigert, offenbart ihr utopisches Potenzial, das sie auch in ihrem Schlussgesang strahlen lässt. Brangäne als die intellektuellere, emanzipiertere, pragmatischere der beiden Frauen, kann nur fassungslos zusehen, wie ihre Herrin sich ausgerechnet an den Mann verliert, der ihr den Verlobten abgeschlachtet hat und sie jetzt zur Zwangsverheiratung mit dem hier sehr jungen König Marke führt. Letzterer beglaubigt in einer verblüffenden Kuss-Szene, dass gleich mehrfach die Unmöglichkeit von Liebe verhandelt wird. Was für eine Hölle!
In der sogenannten Liebesnacht des 2. Akts zeigt sich unmissverständlich, wie die Titel-Protagonisten trotz der gegebenen Anziehung ständig aneinander vorbeireden. Stöpplers in Mimik, Gestik und Körpersprache ausgefeilte Choreographie des Scheiterns funktioniert auch deshalb so überzeugend, weil sie mit Daniel Kirch, der im Sommer als Loge in Bayreuth debütieren wird, und mit Stéphanie Müther zwei Sängerdarsteller ersten Ranges zur Verfügung hat, wie sie sich schon Wagner selbst gewünscht hätte. Beide agieren in bewundernswertem Einsatz, führen ihr Liebes- und Todesdelirium in aller Härte und Zerbrechlichkeit vor – und singen, als bräuchte es für diese Partien mit Höchstschwierigkeiten keine Ökonomie. Einfach bravourös! Es mag Zuschauer geben, die die ungewöhnliche Deutung der Tristan-Figur für sich ablehnen, aber ist es nicht der regielichen Empathie zu danken, dass man versteht, woher der hohle Männlichkeitswahn rührt?
Es gäbe noch viel zu erzählen darüber, wie entschieden und genau auch die anderen Figuren geführt werden und dadurch das Drama umso plastischer machen. Alexander Kiechle ist dafür ein gutes Beispiel, der stimmlich auf Markes Königsthron mehr als eine gute Figur macht, sogar noch jünger wirkt als Jahrgang 1993, also als Oheim Tristans eigentlich nicht in Frage käme. Aber erstens ist das Opernpublikum gewöhnt, das Lebensalter und die reale Körperlichkeit von Sängerinnen und Sängern so zu abstrahieren, dass es mit der jeweils gegebenen Rolle aufgeht. Und zweitens sind Generationensprünge bei Richard Wagner und seinen Nachkommen so sehr an der Tagesordnung, dass niemand irritiert sein sollte, wenn das auch mal in seinen Opern passiert. Was Elisabeth Stöppler bei Marke noch hinzuerfunden hat, soll nicht verraten werden. Nur soviel: Es macht Gänsehaut!
Sophia Moeno als Brangäne hat nicht nur in den Warnrufen des 2. Akts große Momente. Dass sie ständig rauchen muss, obwohl die heute feuerpolizeilich erlaubten Bühnenzigaretten eher für Pannen gut sind denn für eine realistische Wirkung, dass außerdem Melot schon durch sein Kostüm denunziert wird, sind die ziemlich kleinen Erbsen, die ein Kritiker in dieser heute spielenden „Tristan“-Inszenierung zählen kann. Zumal selbst der sonst meist nur herumstehende Hirte als Hüter von Tristans Elternhaus in Kareol mit seiner Schlüsselgewalt am Ende des Dramas aktiv beteiligt ist.
Bei dieser Produktion, die jede Fahrt nach Chemnitz lohnt, besticht nicht zuletzt die musikalische Interpretation. Die erste große Opernaufführung in Chemnitz nach der Corona-Zwangspause begann zwar im Orchester hörbar nervös. Was Dirigent Guillermo García Calvo aber dann aus der Robert-Schumann-Philharmonie und dem von Stefan Bilz einstudierten Herrenchor herausholte, wie er die Solisten stützte in den mal zarten, mal überwältigenden Klangwogen, lässt mich nach der „Götterdämmerung“ und dem ebenfalls brillanten „Lohengrin“ (Regie: Joan Anton Rechi) schon wieder zu dem großen Wort vom Opernwunder in Chemnitz greifen.
Besuchte Premiere am 23. Oktober. Weitere Vorstellungen am 31. Oktober, 17. und 28. November sowie am 27. Februar und 1. Mai 2022, Karten unter Telefon 0371/4000-430 sowie online unter https://www.theater-chemnitz.de/
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