Adventskalender 1871 (20)

Das Kon­zert in Mann­heim ist ein gro­ßer Er­folg, zu­vor gibt es in klei­nem Kreis die von R. an­ge­kün­dig­te  „klei­ne Pri­vat­un­ter­hal­tung“, die es in sich hat.

Die Ur­auf­füh­rung des „Sieg­fried-Idylls“ in ei­nem Wag­ner-Sam­mel­bild von Liebig’s Fleischextrakt.

Mitt­woch 20ten [De­zem­ber 1871] R. träumt von vie­len Mon­den, die er plötz­lich am Him­mel sieht und die er lan­ge be­trach­tet, bis er ent­deckt, daß es das Sie­ben­ge­stirn in ko­los­sa­ler Grö­ße sei, das er also sehe; plötz­lich sich ab­wen­dend ge­wahrt er ei­nen Schat­ten (ich!), der ab­wärts da­von­schleicht. Pro­be, das Idyll, gro­ßer Kum­mer mei­ner­seits, es vor vie­len Frem­den auf­ge­führt zu se­hen, aber schöns­tes Er­klin­gen.[1] Nach Hau­se. Di­ner mit Rit­ters, Pohl, Nietz­sche;[2] R. auf­ge­regt, spricht vom Idyll, tut mir da­bei sehr weh. Da­zwi­schen Kom­men ei­nes Schnei­ders mit Gi­let[3] und Ge­such der Pro­tek­ti­on bei dem Kö­nig von Bay­ern für sei­nen Sohn, dazu Rech­nung von 23 Gul­den für ein Gi­let, gro­ße Auf­ge­bracht­heit R.’s. Sie legt sich. An­kunft Bet­ty Schott’s[4], durch­aus er­hei­ternd. Abends 6 Uhr Kon­zert.[5] Groß­her­zog und Groß­her­zo­gin,[6] sonst vie­le Ju­den. R. är­gert sich schon in der Haupt­pro­be über den land­üb­li­chen Er­folg des Lo­hen­grin-Vor­spiels! – Abends Fest­essen; sehr schö­ner Toast von Dr. Ze­ro­ni[7], der R. hin­reißt, ihm trotz gro­ßer Hei­ser­keit zu ant­wor­ten. Üb­ri­ges Ge­re­de, und na­ment­lich Män­ner-Ge­sangs­ständ­chen, sehr trau­rig. Vie­le Hochs und Hur­ras, wo­bei R. er­zählt, daß, wie er in Mann­heim an­ge­kom­men, er von den Her­ren mit Hochs emp­fan­gen wor­den, sein Rei­se­ge­fähr­te plötz­lich er­schro­cken sei in der An­nah­me, er sei mit ei­nem fürst­li­chen Her­ren ge­reist, und leb­haft auf­ge­stan­den sei und tief ge­grüßt habe, wie er aber R.’s ge­müt­li­ches Hän­de­schüt­teln der Hoch­ru­fen­den be­merkt habe, sich be­ru­higt ge­fühlt habe! – (In der ers­ten Pro­be am Mon­tag hat­te Kmeis­ter Lach­ner[8], der sonst sein Le­ben in In­tri­gen ge­gen R. zu­bringt, es ver­langt, R. den Or­ches­tern vor­zu­stel­len[9]; da­bei hielt er die ab­sur­des­te Rede; R. er­ha­ben ru­hig da­ste­hend, er sich win­dend, ihn ein­mal mit dem deut­schen Kai­ser ver­glei­chend, dann von sei­ner künst­le­ri­schen wie li­te­ra­ri­schen Tä­tig­keit spre­chend, die seit Jahr­zehn­ten die Welt in Span­nung er­hielt; Franz Moor[10], der be­ten will, sag­te Dr. Ze­ro­ni.) – Nach dem Kon­zert er­zählt mir R. sein Ge­spräch mit dem Groß­her­zog und der Groß­her­zo­gin, wel­ches vor dem Pu­bli­kum in der Zwi­schen­pau­se des Kon­zerts statt­ge­fun­den; ent­setz­li­che Seich­tig­keit, Groß­her­zog blut­rot wer­dend, wie R. den Kö­nig von B.[11] er­wähnt und sagt, daß er ihm es dan­ke, sein Ni­be­lun­gen­werk voll­endet zu haben.

[1] Für die an­ge­kün­dig­te „klei­ne Pri­vat­un­ter­hal­tung“ vor aus­er­le­se­nem Freun­des­kreis hat­te Wag­ner die ers­te Auf­füh­rung des „Sieg­fried-Idylls“ au­ßer­halb von Trib­schen vor­ge­se­hen. Co­si­mas Kum­mer ist ver­ständ­lich. Sie woll­te das per­sön­li­che Ge­schenk R.’s ei­gent­lich nicht an die Welt hin­aus­po­saunt wis­sen, auch wenn Po­sau­nen in der Ori­gi­nal­be­set­zung gar nicht vor­kom­men, son­dern bes­ten­falls eine Trom­pe­te. Wie Emil He­ckel in sei­nen Er­in­ne­run­gen be­rich­tet, wur­de das Werk in Mann­heim am 20. De­zem­ber 1871 „zwei­mal un­ter des Meis­ters Lei­tung auf­ge­führt. Au­ßer Frau Wag­ner, Nietz­sche, Alex­an­der Rit­ter und Frau, Pohl und Nohl wohn­ten noch der Vor­stand des Wag­ner­ver­eins, so­wie Friedr. Weng­ler und Ka­pell­meis­ter Hand­lo­ser der Auf­füh­rung bei.“ Laut Frank Piontek, u.a. Spe­zia­list für Wag­ners Ge­dich­te, könn­te R. Fol­gen­des dazu ver­fasst ha­ben: „Pohl ist kein Nohl, bes­ser pöh­li­ger als nöh­li­ger.“ Dan­ke, Pio! Lud­wig Nohl (1831–1885) war wie Pohl (sie­he Fuß­no­te vom 19.12.) ein Mu­sik­schrift­stel­ler, zu­dem auch Musikwissenschaftler.

[2] Sie­he Fuß­no­ten vom 19.12.

[3] Gi­let = Män­ner­wes­te (fran­zö­sisch).

[4] Bet­ty Schott (1820–1875), geb. Edle von Braun­rasch, Pia­nis­tin und Ehe­frau von Franz Schott, dem In­ha­ber des Mu­sik­ver­lags B. Schott’s Söh­ne in Mainz.

[5] Den Pro­gramm­zet­tel leg­te Co­si­ma die­ser Ta­ge­buch­sei­te bei.

[6] Groß­her­zog Fried­rich I. von Ba­den (1826–1907) so­wie Groß­her­zo­gin Lui­se von Ba­den (1838–1923)

[7] Hein­rich Ze­ro­ni (1833–1895), Arzt und Vor­stands­mit­glied des Wagner-Vereins.

[8] Vin­cenz Lach­ner (1811–1893), Bru­der von Franz und Ignaz Lach­ner, dt. Di­ri­gent und Kom­po­nist, bis 1873 Hof­ka­pell­meis­ter in Mann­heim – und kein Freund von R.

[9] Emil He­ckel schreibt dazu in der von sei­nem Sohn Karl her­aus­ge­ge­be­nen Samm­lung von Brie­fen und Er­in­ne­run­gen: „Die Or­ches­ter-Mit­glie­der des Mann­hei­mer und des Karls­ru­her Hof­the­aers hat­ten ihre un­ent­gelt­li­che Mit­wir­kung zu­ge­sagt. Als ich Wag­ner mitt­heil­te, daß Vin­cenz Lach­ner ihm die ver­ei­nig­ten Or­ches­ter vor der ‚ -ers­ten Pro­be vor­stel­len wer­de, da schnell­te er vom Stuhl auf und rief: – ‚He­ckel, das hät­ten Sie mir nicht an­thun sol­len. Ich rei­se wie­der ab! –Men­schen, wie die­se Lach­ners, ma­chen nun seit vie­len Jah­ren mich und mei­ne Wer­ke schlecht. Kom­me ich an ih­ren Ort, so sind sie wie­der die Ers­ten, die sich an mich her­an­drän­gen.‘ Es währ­te lan­ge Zeit bis es mir ge­lang, den mit Recht em­pör­ten Mann zu be­ru­hi­gen. Das Co­mi­té des Mann­hei­mer Thea­ters hat­te sich bei der Ur­laubs-Ge­wäh­rung an das Or­ches­ter aus­be­dun­gen, daß Lach­ner des­sen Vor­stel­lung über­las­sen bleibe.“

[10] Haupt­fi­gur in Schil­lers Dra­ma „Die Räuber“.

[11] Lud­wig II. von Bayern.

Quel­len: Co­si­ma Wag­ner: Die Ta­ge­bü­cher: Band I, S. 1582. Di­gi­ta­le Bi­blio­thek Band 107: Ri­chard Wag­ner: Wer­ke, Schrif­ten und Brie­fe, S. 34743 (vgl. Co­si­ma-Ta­ge­bü­cher 1, S. 469); Ri­chard Wag­ner: Sämt­li­che Brie­fe, Band 23 (hg. v. An­dre­as Miel­ke); Anja Gil­len: Von Feu­er­zau­ber und Grals­ge­sang. Emil He­ckel und Ri­chard Wag­ner in Mann­heim; Brie­fe Ri­chard Wag­ners an Emil He­ckel (hg. v. Karl Heckel).

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