Eintauchen in die Ursprünge der Moderne

Von 8. April bis 11. Sep­tem­ber 2022 zeigt das Deut­sche His­to­ri­sche Mu­se­um die Aus­stel­lung „Ri­chard Wag­ner und das deut­sche Gefühl“.

Kom­po­nist und Thea­ter­re­for­mer, Hof­ka­pell­meis­ter und Fest­spiel­grün­der, Re­vo­lu­tio­när und Exi­lant, Un­ter­neh­mer und Ka­pi­ta­lis­mus­kri­ti­ker, Schuld­ner und An­ti­se­mit: Ri­chard Wag­ner hat das 19. Jahr­hun­dert in ganz un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen mit­er­lebt und ge­prägt – mit Fol­gen bis in die Ge­gen­wart. Das Deut­sche His­to­ri­sche Mu­se­um zeigt Wag­ner nicht nur als Zeu­gen und Kri­ti­ker der po­li­ti­schen und so­zia­len Um­brü­che sei­ner Zeit, son­dern als um­strit­te­nen Künst­ler, der ge­sell­schaft­li­che Be­find­lich­kei­ten stra­te­gisch in sei­nem Werk auf­zu­grei­fen und als „Deutsch­tum“ zu in­sze­nie­ren wuss­te. Bis heu­te wird hef­tig de­bat­tiert, in­wie­weit Wag­ners aus­ge­präg­ter An­ti­se­mi­tis­mus sein Werk und sei­ne Kri­tik an der Mo­der­ne mit ausmacht.

„In der Pau­se“, Dar­stel­lung des Fest­spiel­hau­ses in Bay­reuth von Gus­tav Las­ka, 1894 – Vor­la­ge: © Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung, Bay­reuth, Leih­ga­be der Oberfrankenstiftung

In der Aus­stel­lung „Ri­chard Wag­ner und das deut­sche Ge­fühl“ (8. April bis 11. Sep­tem­ber 2022) wird Wag­ner als über­aus er­folg­rei­cher Ge­fühl­stech­ni­ker sicht­bar, der in ei­ner zu­neh­mend kom­mer­zia­li­sier­ten Welt den ge­sell­schaft­li­chen Stel­len­wert der Kunst und des Künst­lers neu ver­or­te­te. Sein Auf­stieg wäre ohne ei­nen mo­der­nen ka­pi­ta­lis­ti­schen Kunst- und Mu­sik­markt nicht denk­bar ge­we­sen. Da­für ent­wi­ckel­te er Ver­mark­tungs­stra­te­gien, in de­nen Emo­tio­nen eine we­sent­li­che Rol­le spiel­ten. Sei­ne Vor­stel­lun­gen vom Mu­sik­dra­ma als Ge­samt­kunst­werk wa­ren auch eine Kri­tik an der Mo­der­ne und da­mit von dem An­spruch ge­prägt, die Ge­sell­schaft als Gan­zes zu verändern.

Ori­gi­nal-Ma­nu­skript „Die Kunst und die Re­vo­lu­ti­on“ von Ri­chard Wag­ner, Leip­zig 1849 – Vor­la­ge: © Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung, Bayreuth

Ra­pha­el Gross, Prä­si­dent der Stif­tung Deut­sches His­to­ri­sches Mu­se­um: „Das DHM be­schäf­tigt sich in die­sem Jahr mit zwei deut­schen Per­sön­lich­kei­ten des 19. Jahr­hun­derts: den Zeit­ge­nos­sen Karl Marx und Ri­chard Wag­ner. Ihre Wer­ke präg­ten das 19., 20. und an­hal­tend auch das 21. Jahr­hun­dert. Und bei­de wur­den von po­li­tisch ent­ge­gen­ge­setz­ten La­gern zu Iko­nen er­ho­ben: Marx von links und Wag­ner von rechts. Die Aus­stel­lung zu Wag­ner be­han­delt nicht nur den Mu­si­ker: Uns in­ter­es­siert auch, wie er als Au­tor deut­sches Na­tio­nal­ge­fühl er­zeug­te und in­wie­fern die­ses in Ver­bin­dung mit sei­nem An­ti­se­mi­tis­mus stand.“

Brief­um­schlag von Gi­a­co­mo Mey­er­beer, adres­siert an Ri­chard Wag­ner, Pa­ris, um/​vor 1840 – Vor­la­ge: © Ri­chard-Wag­ner-Stät­ten Graupa

Ku­ra­tor Mi­cha­el P. Stein­berg: „ ‚Ri­chard Wag­ner und das deut­sche Ge­fühl‘ bie­tet dem gro­ßen Mu­se­ums­pu­bli­kum die Ge­le­gen­heit, ei­nen ‚deep dive‘  in die Ur­sprün­ge der Mo­der­ne zu un­ter­neh­men. Wag­ners Kunst und Den­ken sind we­sent­lich für die Er­fin­dung ei­nes My­thos der Mo­der­ne – auf der ei­nen Sei­te der Trieb ins Neue, auf der an­de­ren Sei­te die Lust an der Wie­der­kehr zum Ur­sprung selbst. Durch die­se Po­la­ri­tät – die­se Aus­ein­an­der­set­zung – von Mo­der­ne und An­ti­mo­der­ne bleibt Wag­ner eine Schlüs­sel­fi­gur un­se­rer Zeit.“

Tann­häu­ser im Ve­nus­berg, an­onym, in der Art von Eu­gè­ne De­lacroix, Pa­ris 1861 – Vor­la­ge: Wer­ner Co­ninx Stif­tung, Zü­rich © Pe­ter Schälch­li, Zürich

Wag­ner und die Na­tio­na­li­sie­rung von Gefühlen
Aus­ge­hend von der star­ken Po­la­ri­sie­rung, die Ri­chard Wag­ner bis heu­te aus­löst, setzt die Aus­stel­lung sein Le­ben und Werk in Be­zug zu den Strö­mun­gen und Stim­mun­gen sei­ner Epo­che. Sie rückt vier Grund­ge­füh­le des 19. Jahr­hun­derts in den Mit­tel­punkt, die als trei­ben­de Kräf­te die Zeit­um­stän­de wie auch Wag­ners Vor­stel­lun­gen präg­ten: Ent­frem­dung und Zu­ge­hö­rig­keit, Eros und Ekel. In ei­nem Pro­log, vier Ka­pi­teln und ei­nem Epi­log zu Wag­ners Wir­kungs­ge­schich­te geht die Aus­stel­lung der Fra­ge nach, wie Wag­ner ge­sell­schaft­li­che Ge­fühls­zu­stän­de wahr­nahm und künst­le­risch auf die­se re­agier­te: Wel­che Ge­füh­le in­sze­nier­te und kon­stru­ier­te er? Wie lehr­te er sein Pu­bli­kum zu füh­len und – in sei­nen spä­te­ren Wer­ken – sich deutsch zu füh­len? Und wel­che Rol­le spiel­ten sei­ne Schrif­ten in die­sem Prozess?

Haus­schuh von Ri­chard Wag­ner – Vor­la­ge: © Ri­chard Wag­ner Mu­se­um Luzern

Wäh­rend Karl Marx das The­ma der Ent­frem­dung zur Grund­la­ge sei­ner Ge­sell­schafts- und Öko­no­mie­kri­tik mach­te, in­ter­es­sier­te sich Wag­ner für das ent­frem­de­te In­di­vi­du­um und be­son­ders die Fi­gur des Künst­lers: In sei­ner Schrift „Die Kunst und die Re­vo­lu­ti­on“ (1849) lei­tet er aus der Er­fah­rung der Ent­frem­dung den Wil­len zu ra­di­ka­ler äs­the­ti­scher und po­li­ti­scher Er­neue­rung ab. Sein künst­le­ri­sches Schaf­fen steht be­son­ders im Kon­text der nach der Reichs­grün­dung in Po­li­tik, Wis­sen­schaft und Kunst all­ge­gen­wär­ti­gen Su­che nach ei­ner deut­schen Iden­ti­tät. Auch des­halb ge­wann in Wag­ners Werk die Fra­ge, wer dazu ge­hö­ren sol­le und wer nicht, an Be­deu­tung. Die Aus­stel­lung ver­an­schau­licht, wie das spe­zi­fisch „Deut­sche“ in Wag­ners Schaf­fen zur Mar­ke und ge­mein­schaft­lich er­leb­te Ge­fühls­in­sze­nie­run­gen von „Volk“ und „Na­ti­on“, ins­be­son­de­re bei sei­ner Grün­dung der Bay­reu­ther Fest­spie­le, zum Maß­stab wur­den. Die ver­schie­de­nen Ver­sio­nen sei­ner Schrift „Das Ju­dent­hum in der Mu­sik“ aus den Jah­ren 1850 und 1869 ver­an­schau­li­chen, dass Wag­ners aus­ge­präg­ter An­ti­se­mi­tis­mus und sein Na­tio­na­lis­mus eng ver­bun­den waren.

Ers­te Sei­te des Ge­dichts „Dem deut­schen Hee­re“ von Ri­chard Wag­ner 1871 – Vor­la­ge: © Otto-von-Bis­marck-Stif­tung, Friedrichsruh

Dem The­ma wid­met sich auch die ei­gens vom Chef­re­gis­seur und In­ten­dan­ten der Ko­mi­schen Oper Ber­lin Bar­rie Kos­ky ge­schaf­fe­ne In­stal­la­ti­on „Schwarz­al­ben­reich“: In der Dun­kel­heit ei­nes Raums im Raum ver­mischt eine Klang­col­la­ge ins Jid­di­sche über­tra­ge­ne, an­ti­se­mi­ti­sche Wag­ner-Zi­ta­te mit Pas­sa­gen der an­ti­se­mi­tisch über­zeich­ne­ten Fi­gu­ren Al­be­rich und Mime aus „Der Ring des Ni­be­lun­gen“ und Beck­mes­ser aus „Die Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“ so­wie mit synagogalem
Gesang.

Ge­mäl­de „Sieg­fried und Mime“ von  Hans Tho­ma, 1877 – Vor­la­ge: © Stä­del Mu­se­um, Frank­furt am Main

Die Aus­stel­lung prä­sen­tiert ne­ben teils sel­ten ge­zeig­ten Ori­gi­nal­ob­jek­ten aus der DHM-Samm­lung hoch­ka­rä­ti­ge Leih­ga­ben aus Deutsch­land, Ös­ter­reich und der Schweiz: Per­sön­li­che Auf­zeich­nun­gen und Ge­gen­stän­de Wag­ners, Ge­mäl­de, Zeich­nun­gen, Fo­to­gra­fien, Skulp­tu­ren, Re­qui­si­ten, Ma­nu­skrip­te und Par­ti­tu­ren set­zen Wag­ners Den­ken und Schaf­fen in Be­zie­hung zu ver­schie­de­nen Er­eig­nis­sen des 19. Jahr­hun­derts. In je­dem Ka­pi­tel la­den In­sze­nie­rungs­aus­schnit­te, Hör­sta­tio­nen und Kurz­in­ter­views mit Wag­ner-In­ter­pre­tin Wal­traud Mei­er und Opern­re­gis­seur Ste­fan Her­heim dazu ein, das je­wei­li­ge Grund­ge­fühl in sei­nen Zeit­be­zü­gen wahr­zu­neh­men. Zu­letzt wirft der Epi­log Schlag­lich­ter auf das his­to­risch wech­sel­haf­te deut­sche Ver­hält­nis zu Wag­ner: Die Aus­stel­lung en­det mit ei­ner Rei­he ak­tu­el­ler Stim­men zu sei­ner Be­deu­tung in der Gegenwart.

Die „Gol­de­ne Faust“, Re­qui­si­te aus der Leip­zi­ger „Ring“-Inszenierung 1973 bis 1976 von Joa­chim Herz – Vor­la­ge: © Stadt­ge­schicht­li­ches Mu­se­um Leipzig

Karl Marx und Ri­chard Wag­ner im Deut­schen His­to­ri­schen Museum
Par­al­lel zur Aus­stel­lung „Ri­chard Wag­ner und das deut­sche Ge­fühl“ ist die Aus­stel­lung „Karl Marx und der Ka­pi­ta­lis­mus“ (noch bis 21. Au­gust 2022) im DHM zu se­hen: Sie zeigt Marx als schar­fen Kri­ti­ker der Mo­der­ne und des Ka­pi­ta­lis­mus. Im Mit­tel­punkt ste­hen The­men, die auch heu­te nichts von ih­rer Bri­sanz ver­lo­ren ha­ben: re­li­gi­ons- und ge­sell­schafts­kri­ti­sche Kon­tro­ver­sen, An­ti­se­mi­tis­mus, Re­vo­lu­ti­on und Ge­walt, neue Tech­no­lo­gien, Na­tur­zer­stö­rung, glo­ba­le Wirt­schafts­kri­sen so­wie in­ter­na­tio­na­le Pro­test- und Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen. Marx‘ His­to­ri­sie­rung ver­bin­det die Aus­stel­lung da­durch auch mit Fra­gen nach sei­ner Ak­tua­li­tät. Gleich­zei­tig wirft sie ei­nen kri­ti­schen Blick auf die welt­wei­te Re­zep­ti­on sei­ner Theo­rien im 20. und 21. Jahrhundert.

Pres­se­infor­ma­ti­on des DHM. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie auf der Home­page des Mu­se­ums. Der RWV Bam­berg plant ei­nen Aus­stel­lungs­be­such im Rah­men der Ber­lin-Opern­fahrt.

Nach­trag vom 8. April 2022: Wie das Ri­chard Wag­ner Mu­se­um Bay­reuth mit­teilt, ist es Haupt­leih­ge­ber der Aus­stel­lung. Eine gro­ße An­zahl der Ori­gi­nal-Ex­po­na­te wur­de dem Deut­schen His­to­ri­schen Mu­se­um für die Dau­er der Son­der­schau zur Ver­fü­gung ge­stellt. Un­ter den Ob­jek­ten be­fin­den sich zahl­rei­che Schrift­stü­cke, Fo­to­gra­fien und Ge­mäl­de, aber auch Kos­tü­me und Re­qui­si­ten, die vom Le­ben, Werk und Wir­ken Ri­chard Wag­ners zeu­gen. Dazu ge­hö­ren u. a. Tei­le des „Ni­be­lun­gen­schat­zes“, die zu den Re­qui­si­ten der Ur­auf­füh­rung des „Ring des Ni­be­lun­gen“ 1876 in Bay­reuth zäh­len, eben­so wie eine der Tril­ler­pfei­fen, mit de­nen Tei­le des Pu­bli­kums laut­stark ihr Miss­fal­len über die In­sze­nie­rung des „Jahr­hun­dert-Rings“ 1976 zum Aus­druck brach­ten. Zu den Leih­ga­ben ge­hö­ren auch Schrif­ten Ri­chard Wag­ners, dar­un­ter ein hand­ge­schrie­be­nes Ge­dicht mit ei­gen­hän­di­gem Selbst­por­trait für sei­ne ers­te Ehe­frau Min­na, oder der be­rüch­tig­te an­ti­se­mi­ti­sche Auf­satz über „Das Ju­den­tum in der Mu­sik“ von 1850 so­wie das „Brau­ne Buch“, das Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen und No­ti­zen des Kom­po­nis­ten ent­hält. Und auch aus Bam­berg kom­men zwei Exponate.

His­to­ri­sche Fo­to­gra­fie: Por­trät Ri­chard Wag­ners von Franz Hanf­staengl, Mün­chen 1871 – Vor­la­ge: © bpk-Bildagentur

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