An der Staatsoper Stuttgart dürfen gleich drei Teams an der aktweisen szenischen Realisierung von Richard Wagners „Walküre“ scheitern.
Kein Zweifel. Wenn es zu einer Bühne passt, in Sachen „Ring“ Außergewöhnliches zu wagen, dann ist es die Staatsoper Stuttgart. Dort wurde, nachdem zuvor – ähnlich, aber hochmögender – ein Projekt in Paris schon nach dem zweiten Teil zu Ende war, vor fast einem Vierteljahrhundert Richard Wagners Tetralogie erstmals nicht aus einer Regiehand, gewissermaßen aus einem Guss inszeniert, sondern, mit je einem Werk und der Reihe nach, von den Regisseuren Joachim Schlömer, Christof Nel, Jossi Wieler sowie Peter Konwitschny.
Dieser von Klaus Zehelein initiierte Stuttgarter „Ring“ von 1999/2000 hatte Folgen. Auch andere, vor allem kleinere Häuser trauten sich in der Folge öfter als vorher, einzelne „Ring“-Werke ohne den Blick auf den ganzen Vierteiler herauszubringen oder wagten ebenfalls die Mischung unterschiedlicher Handschriften – bis hin zum „weiblichen ‚Ring‘“ in Chemnitz 2018/19, mit vier verschiedenen Regisseurinnen als Hauptverantwortlichen, von denen Verena Stoiber mit dem „Rheingold“, Sabine Hartmannshenn mit „Siegfried“ und besonders Elisabeth Stöppler mit der „Götterdämmerung“ ihre Sache gut bis ausgezeichnet machten.
Im früheren „Winter-Bayreuth“ Wieland Wagners, an der Staatsoper Stuttgart, wo seit geraumer Zeit als Intendant Viktor Schoner und als Generalmusikdirektor Cornelius Meister das Sagen haben, war längst ein neuer „Ring“ fällig. Er wurde ehrgeizig geplant: Nicht nur vier, sondern sechs Regieteams sollen die Tetralogie szenisch umsetzen. Stephan Kimmig verlegte Ende 2021 schon mal den Vorabend in eine Zirkusatmosphäre, mit der „Walküre“, die am 10. April Premiere hatte, geht die Aufsplitterung sogar aktweise weiter.
Das Fatale an dieser Setzung ist, dass die drei dafür engagierten Teams zwar durchaus etwas fürs Auge bieten, aber das Wesentliche komplett verfehlen: Ernst zu nehmende Opernregie besteht eben nicht nur aus Ausstattung aller Art, sondern lebt von der Personenführung und der Interpretation der Handlung. So gesehen ist die „Walküre“-Produktion eine Bankrotterklärung in drei Stationen.
Am ehesten experimentell arbeitet das holländische Theaterkollektiv Hotel Modern. Die live gefilmten Puppentheater-Animationen in einer leider brandaktuellen dystopischen Miniaturszenerie passen zur Handlung des 1. Akts und sind für sich genommen – gerade weil es plüschige Rattenfiguren sind – beklemmend und berührend. Die Bilder der brutal aufgerissenen Spielzeugtierkörper vergisst man nicht so schnell, weil man automatisch Kriegsopfer in der Ukraine assoziiert.
Auf der Strecke bleiben allerdings die Protagonisten der Oper, die echten Akteure der Handlung, die Solisten auf der Bühne. Sie sinnfällig einzubeziehen, ist nicht einmal ansatzweise passabel gelöst. Rattenköpfe auf- und abzusetzen allein genügt eben nicht. Anstatt die Körperlichkeit der Sängerdarsteller zu nutzen, findet statuarisches Rampentheater statt. Als nennenswerte Regieidee bleibt der Stuhl in Erinnerung, der eingangs zum Wasserkrug umfunktioniert wird – ein Ansatz immerhin, der aber nicht weiter verfolgt wird. Das übergroße, theatralisch in sich zusammensinkende Schwert und die säugende Rattenmutter am Schluss sind nur mehr schrecklich gewollt.
Hauptverantwortlich für die Umsetzung des 2. Akts ist der Lichtdesigner Urs Schönebaum. Er sorgt mit Nebelbildern, riefenstählernen Lichtdomen und finsteren Fantasy-Turmbauten für eine vergleichsweise geschlossene Ästhetik, die in Ansätzen das Dritte Reich zitiert, was nicht neu, aber im gegebenen Purismus à la Robert Wilson eher irritierend, ja ärgerlich wirkt. Immerhin hat sich Schönebaum in Personenführung versucht. Sein etwas ausgedehnteres, nicht nur nach vorne gerichtetes Rampentheater mit Bewegungsstatisterie bleibt jedoch wie auch die Kostüme von Yashi an Standards, Klischees und bemühten, ja überstrapazierten Einfällen kleben. Ein Wotan, der gar nicht mehr aufhören kann, auf Siegmund einzustechen, führt mitnichten zu Betroffenheit.
Ulla von Brandenburg, die Ausstatterin des 3. Akts, belegt einmal mehr, dass arrivierte bildende Künstler in der Regel wenig Ahnung von konkreter Theaterarbeit haben. So erfrischend die farbstarken Gewänder und die popartigen und verschiebbaren Wellengebirge in ihrer Anmutung sind, die Solisten, auch die Walkürenschar mit ihren Mikado-Speeren, bewegen sich darin und darauf unsicher. Das sind „lebende Bilder“, die unfreiwillig parodistisch wirken und sehr viel von dem ignorieren, was warum passiert. Das ist bestenfalls nett, mehr nicht.
In allen drei Akten entsteht immer wieder der Eindruck, als stünden Laiendarsteller auf der Bühne. Den hochprofessionellen Sängerinnen und Sängern, die sich hier überwiegend gleich auf mehrere divergierende Konzepte einlassen müssen, ist das nicht anzulasten. Sondern in erster Linie dem Intendanten, der Teams engagiert hat, die vom Regiehandwerk nichts verstehen. Was bringt es, Oper mit der Beliebigkeit des heutigen Kunstmarkts zusammenzubringen?
Immerhin gibt es in dieser „Walküre“ tatsächlich starke Frauen. Annika Schlichts Fricka ist schlichtweg eine Wucht, Simone Schneider singt eine ausdrucksstarke Sieglinde und Okka von der Damerau gelingt bei ihrem Rollendebüt als Brünnhilde trotz einiger Nervosität stimmlich fast schon alles. Das ist großartig, ein Versprechen, denn es fehlt an raumfüllenden, intakten und nuancenreichen Stimmen im Heroinenfach.
Bei den Männern wissen Michael Königs Siegmund und Goran Juric als Hunding sängerisch einzunehmen, Rollendebütant Brian Mulligan als eher hell timbrierter Wotan hingegen war am Premierenabend leider nicht nur idiomatisch überfordert, sondern stand stimmlich zunehmend auf der Kippe. Was sicher auch mit Cornelius Meister, dem 42-jährigen Stuttgarter Generalmusikdirektor zu tun hat.
Der Dirigent, der heuer mit „Tristan“ in Bayreuth debütieren wird, produziert mit dem Staatsorchester einen überwiegend lauten, ja teils groben Wagnerklang und zelebriert zudem immer wieder so schleppende Tempi, dass die Solisten gleich in zweierlei Hinsicht hörbar zu kämpfen haben. Selbst wenn sich manches sicher noch einspielen wird, bleibt unterm Strich Ernüchterung. Das aktuelle Stuttgarter Wagner-Experiment ist gescheitert, nicht etwa, weil es per se Wagners Kunstansatz beim „Ring“ widerspricht. Sondern weil das Musikdrama „Walküre“ in der dreigeteilt gegebenen Pseudoregie unentdeckt bleibt und kein Einzelversuch den Wunsch nach einer kompletten Inszenierung weckt.
Das vermutlich einzig Wahre, Schöne und Gute am neuen Stuttgarter „Ring“ könnte das Wiedersehen mit der „Siegfried“-Inszenierung aus dem Jahr 2000 im nächsten Herbst sein. Was damals Jossi Wieler und seinem Team mit Co-Regisseur Sergio Morabito und Ausstatterin Anna Viebrock gelungen ist, könnte in der neu einstudierten Version 2022 nicht nur das angedachte Bindeglied zur erstmaligen multiperspektivischen Sicht sein, sondern ein Musterbeispiel dafür, dass Regietheater auch zeitlos gültig zu sein vermag.
Hingegen sehe ich für den Abschluss ziemlich schwarz, nachdem Marco Stormann gerade erst in Nürnberg ohne jeglichen Sinn für die Musik den Strauss’schen „Rosenkavalier“ in ein vollkommen nüchternes und humorfreies Problemstück verwandelt hat. Vielleicht macht er dann aus der „Götterdämmerung“, weil Dekonstruktion und die Umwertung aller Werte immer noch „in“ sind, eine Komödie?
Besuchte Premiere am 10. April 2022, weitere Vorstellungen am 18., 23. und 29. April sowie am 2. Mai, Restkarten auf der Homepage
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