Ab 3. Juli bis Monatsende zeigt die Staatsoper Stuttgart in wöchentlichem Wechsel noch einmal im Stream die erstmals von vier verschiedenen Regisseuren realisierte „Ring“-Inszenierung von 1999/2000.
Nach meinem „Ring“-Schlüsselerlebnis mit Patrice Chéreaus 1976 bis 1980 in Bayreuth gezeigter Interpretation war der nächste „Ring“-Markstein für mich die 1999/2000 erstmals realisierte Stuttgarter Produktion unter der musikalischen Leitung von Lothar Zagrosek. Die Inszenierungen von Joachim Schlömer, Christof Nel, Jossi Wieler und Sergio Morabito sowie Peter Konwitschny stehen ab 3. Juli um 17 Uhr im wöchentlichen Wechsel im kostenlosen Streaming-Programm der Staatsoper Stuttgart wie folgt zur Verfügung: „Das Rheingold“ (ab 3. Juli 17 Uhr bis 10. Juli 16.59 Uhr), „Die Walküre“ (ab 10. Juli 17 Uhr bis 17. Juli 16.59 Uhr), „Siegfried“ (ab 17. Juli 17 Uhr bis 24. Juli 16.59 Uhr) und „Götterdämmerung“ (ab 24. Juli 17 Uhr bis 31. Juli 16.59 Uhr).
Meine hohe Einschätzung des Stuttgarter „Rings“ hat wiederum lange gehalten. Erst im Dezember 2018 konnte ich, was vielleicht kein Zufall ist, beim „weiblichen Ring“ in Chemnitz, der von vier verschiedenen Regisseurinnen realisiert wurde, trotz der missglückten „Walküre“ wieder von einem Meilenstein der jüngeren Inszenierungsgeschichte schreiben und speziell die „Götterdämmerung“ (Regie: Elisabeth Stöppler) in einem Atemzug mit Chéreau nennen. Hier zur Einstimmung auf die kostenlosen Juli-Streams aus Stuttgart meine Kritik von damals, die zuerst im Fränkischen Tag und in der ausführlicheren Version in Gondroms Festspielmagazin 2000 mit dem Titel „Eine Menschendämmerung bis zu bitteren Neige“ erschienen ist.
Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ hat Konjunktur. Rund ein Dutzend Opernhäuser hat sich noch vor der Jahrtausendwende aufgemacht, das in jeder Hinsicht aufwendige Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend zu realisieren. Die Zeiten, da alle Welt nach Bayreuth blickte, weil die Festspiele in der Wagnerinterpretation stilbildend waren, sind – wieder einmal – Festspielgeschichte. Längst haben die großen Staatsbühnen, aber auch mittlere und kleine Häuser den Kraftakt gewagt. Der „Ring“-Tourismus boomt.
Wer wissen will, wie die „Ring“-Interpretation, die seit dem „Jahrhundert-Ring“ 1976 in Bayreuth bis auf wenige Ausnahmen nichts anderes war als Schritt für Schritt eine Entmythologisierung, im 21. Jahrhundert angekommen ist, muß nach Stuttgart fahren. Schon konzeptuell unterscheidet sich diese Produktion von allen anderen. Intendant Klaus Zehelein hat erklärtermaßen nicht auf einen Gesamtentwurf hingearbeitet.
Der Stuttgarter „Ring“ ist vom Ansatz her kein geschlossener Kosmos. Vier verschiedenen Regisseuren und vier verschiedenen Ausstattern wurde die Aufgabe gestellt, die vier Abende der Tetralogie als Einzelteile zu realisieren: ganz für sich genommen, ohne die vielfach schwierigen Verweise auf das Vor- und Nachher, ohne Rücksicht auf den roten Faden durch das große Ganze. Auch die Besetzung der Rollen ist in jedem der vier Teile eigenständig. Einzig der musikalische Leiter Lothar Zagrosek ist die bleibende Konstante – und was für eine! Doch davon später.
Fast alle Beteiligten (Produktionsteams wie Solisten) sind darüber hinaus Debütanten. Der Choreograph Joachim Schlömer realisierte mit dem „Rheingold“ seine erste Opernregie überhaupt; Regisseur Christof Nel und Ausstatter Karl Kneidl hatten mit der „Walküre“ ihr Wagner-Debüt; ebenso das Team aus Jossi Wieler (Regie), Sergio Morabito (Co-Regie) und Anna Viebrock (Ausstattung) mit „Siegfried“. Nur bei der „Götterdämmerung“ trat mit Peter Konwitschny ein Wagner-Routinier auf den Plan – allerdings einer, der immer für Überraschungen gut ist.
Natürlich war dieser Ansatz riskant. Debütanten können furchtbar scheitern. Sie können aber auch glanzvoll bestehen, wie seinerzeit Chéreau in Bayreuth. Der Vorteil des frischen, neugierigen und unverstellten Blicks liegt auf der Hand. Wer die Standards nicht verinnerlicht hat, ist eben in der Lage, zu entdecken und unverkrampft zu zeigen, was auch für die anderen und vor allem jene, die schon alles zu wissen glauben, neu sein kann. In Stuttgart ist genau das zu erleben. Schon deshalb – endlich sei es gesagt! – ist das für mich der wichtigste „Ring“ seit einem Vierteljahrhundert.
Die große Leistung dieses „Ring“ besteht zunächst darin, dass die vier separierten Teile, die vier individuellen Handschriften dennoch ein ästhetisches Ganzes ergeben. Es gibt immer wieder ein paar inszenatorische Versatzstücke und Zeichen, die sich von einem Werk zum anderen fortsetzen. Aber der wichtigste rote Faden durch alle Abende ist die Entmythologisierung der Figuren: Wotan ist in Stuttgart sichtlich am Ende angelangt. Wolfgang Probst im „Rheingold“ sieht haargenau aus wie der Bankrotteur und Baulöwe (!) Dr. Jürgen Schneider, Jan-Hendrick Rootering in der „Walküre“ ist eine Studie von Altkanzler Helmut Kohl privat: die Fleisch gewordene Macht des Aussitzens, erst leger im Jogginganzug, später als Bürohengst, der sich seiner Insignien so schnell entledigt wie der lästig einschnürenden Krawatte. Wolfgang Schöne in „Siegfried“ ist ein ergrauter Hippie in Jeans, Lederjacke, Baseballkappe, Sonnenbrille – und Lichtjahre entfernt von Love and Peace: ein brutaler, zynischer Typ, der mit seiner alten Liebe Erda einen letzten Tango tanzt wie weiland Marlon Brando in Paris.
Apropos: Sexualität ist hier ein durchgängiges Thema. Es nimmt einem die Luft, wenn man sieht, wie die Wälsungen einander sofort verfallen. Die großartige Angela Denoke (Sieglinde) begrüßt den ihr noch fremden Bruder (Robert Gambill) mit einer Begehrlichkeit, die später auch in Form einer Schwertprojektion auf ihrem Körper aufflammt. Ansonsten überwiegen die Frustrierten wie Alberich (prägnant: Esa Ruutunen), Hunding (großartig: Phillip Ens), Fricka (Nancy Maultsby), Hagen (Roland Bracht), Gutrune (Eva-Maria Westbroek) oder der unvergeßliche „Siegfried“-Mime (Heinz Göhrig), den es derart vor Angst schüttelt, daß diese sich auch sexuell entladen muß: ein schonungslos wahrhaftiges, mit der Musik konform gehendes – und herzzerreißendes – Bild.
Die vielleicht bitterste Wahrheit folgt am Ende des 1. Akts „Götterdämmerung“. Wenn Siegfried seine Unschuld verloren, wenn er sein an die Zeiten der Uraufführung gemahnendes Fell-Kostüm gegen Gunthers Anzug ausgetauscht hat und sich anschickt, für den Blutsbruder die Braut zu vergewaltigen, setzt sich ihm Brünnhilde mit einer letzten trotzigen Geste selbstbestimmten Handelns entgegen, zieht selbst ihren Slip nach unten und trippelt derart gefesselt nach hinten, dorthin, wo er ihr die letzte Schmach bereiten wird.
Es gibt weitere durchgängige Zeichen, es gibt viel Entrümpelung: Der Tarnhelm ist – verblüffend schlüssig – nichts anderes als ein Spiegel, und einen Speer gibt es nicht immer, wenn er zwingend gebraucht wird. Die Nibelungen sind ersatzlos gestrichen, die von Wagner ins Spiel gebrachten Tiere kommen bis auf die Kröte nicht vor. Licht- und Schwarzalben, Riesen und Zwerge: Alle handelnden Figuren sind auf immer wieder erheiternde, aber überwiegend auch erschreckende Weise nur Menschen.
Überwältigend ist die durchgängig hohe darstellerische Präsenz der Solisten. Sie alle spielen wie um ihr Leben: Nichts, fast nichts wirkt wie Theater – und schon gar nicht wie Oper! Selbst Sängerinnen und Sänger, die man andernorts als statuarische Langweiler erleben mußte, erwachen zu einem staunenswert vielfältigen, in allen Differenzierungen ausdrucksreichen Bühnenleben sogar dort, wo das nur mit viel Mut und Überwindung zu erreichen ist.
Zweifellos ist dieser „Ring“ auch eine große Zumutung – für die Beteiligten ebenso wie für das Publikum. Immer wieder und zwangsläufig führt die Entmythologisierung auch in die Banalität und in die Parodie. Was in dieser Direktheit zuerst 1982 die Studiobühne Bayreuth mit Uwe Hoppes dreistündiger Sprechtheater-Adaption „Der Ring des Liebesjungen“ gewagt hat, ist gewissermaßen in der 16-stündigen Vollversion auf den Brettern eines Staatstheaters angekommen und auf den Punkt gebracht: Der „Ring“ ist Komödie, Tragödie und Parodie zugleich – und Wagner wird dadurch mitnichten beschädigt. Es tut nur manchmal weh.
Der schmerzvollste Bruch des Stuttgarter „Ring“ wird im 3. Akt „Siegfried“ vollzogen. Wenn der dicke Siegfried in blutbesudeltem T-Shirt, Rapperhosen und billigen Kaufhaus-Turnschuhen in die ihm völlig fremde, glatt getäfelte Schleiflack-Schlafzimmer-Welt Brünnhildens einbricht, ist von vornherein klar, warum er die singende Frau staunend nicht versteht. Ein Siegfried, der sich im Schrank versteckt oder mit dreckigen Turnschuhen auf seidigem Bettzeug herumlatscht, paßt weder zu einer Dame, noch in eine der gängigen Schubladen (und schon gar nicht in die eines „Helden“).
Aber wer kommt mit Schubladendenken schon weit? Selbstverständlich gilt das auch für die ihm so fremde und von sich selbst entfremdete Brünnhilde, die sich in ihrem Negligé neckisch vor dem Spiegel schön macht. Ein ungleicheres Paar ward im 3. Akt „Siegfried“ noch nicht gesehen – und das vertragen selbst aufgeschlossene Besucher nicht ohne weiteres. Aber wie sonst soll man in diesem Kontext das Rätsel von der leuchtenden Liebe und dem lachenden Tod verstehen? Spätestens in diesem unerbittlich-trostlosen „Siegfried“ wird klar: Wagner erzählt im „Ring“ von Anbeginn und in allen Konsequenzen von nichts anderem als einer Menschendämmerung.
Vielleicht sind die wechselnden Besetzungen für Zuschauer, die noch keinen „Ring“ gesehen haben, problematisch. Aber welcher „Ring“-Neuling versteht schon auf Anhieb alles? Umgekehrt beinhalten die wechselnden Protagonisten mehr Differenzierungsmöglichkeiten. Die augenfälligen Wandlungen der Wotan-/Wandererfigur habe ich schon beschrieben, ähnlich verhält es sich mit den Brünnhilden von Nadine Secunde („Walküre“), Lisa Gasteen („Siegfried“) und Luana DeVol („Götterdämmerung“) sowie den Siegfrieden von Jon Fredric West („Siegfried“) und Albert Bonnema („Götterdämmerung“).
Erstaunlich spät komme ich auf die stimmigen Bühnenbilder zu sprechen. Sie stehen eindringlich für sich und bilden doch ein folgerichtiges System dessen, was sich im „Ring“-Zeitalter nach Chéreau als richtig herauskristallisiert hat. Wie ein Nachhall auf die Visualisierung des Kapitalismus als Movens der „Ring“-Handlung spielt das „Rheingold“ bei Jens Kilian in einem Kur- oder Badehaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Hundings Hütte ist der bühnenbildnerische Reflex (von Karl Kneidl) eines malerischen Reflexes (von Anselm Kiefer) auf die Ikonographie des 1. Akts „Walküre“ im 19. Jahrhundert. Das wilde Felsengebirge des 2. Akts ist rigoros kahl: rechts ein (provisorischer?) Treppenaufgang nach Walhall, darunter eine schwarz gähnende, nur von handlichen Heldenstatuetten bevölkerte Leere. Hier, auf seiner blauen Luftmatratze, glaubt Wotan, noch ganz Mensch sein zu dürfen. Im Vorgarten seiner privaten Hölle, die er mit Zähnen und Klauen verteidigen will, erlebt er nicht nur sein Waterloo.
So hoch die Treppe auch führen mag, sie endet stets im Abgrund. Davon wissen auch die zum Schreien komischen Walküren ein Lied zu singen: Sie bevölkern eine Ebene des riesigen Walhall-Gebäudes, die eine gewisse Bahnhofsnähe schon deshalb nicht leugnet, weil es für den Heldentransport eine Art Rollbahn gibt. Sind sie nun leichte Mädchen oder nicht? Hat nicht jede von ihnen ein wunderbares Flügelpaar, das in mythische Höhen entführt? Sie sind mehr als sie scheinen, ihr Gekicher und Gegacker klingt selbstbewußt. Klar, daß sie haushoch über ihre Kundschaft stehen. Nur vor Papa Wotan kuschen sie: Kein Wunder, in seinem totalen Überwachungsstaat …
Auch Brünnhilde in ihrem kurzen roten Rock und den Springerschuhen bleibt keine Wahl. An einem kargen Tisch mit Stuhl zelebriert sie mit ein paar Teelichten den Übergang in ihr künftige Leben als williges Weib, während eine Ebene tiefer Wotan sich in seinem Arbeitszimmer noch einmal durch die Video-Aufzeichnung ihrer letzten Auseinandersetzung zappt. Hat man je zeitgemäßer gezeigt bekommen, was Erinnerung heißt?
Anna Viebrocks Räume für „Siegfried“ sind hoffnungslos endzeitlich. Mime hat es sich mit Siegfried in einer stillgelegten Fabrik kleinbürgerlich-gemütlich gemacht. Der 2. Akt ist ein Coup: Gibt es ein besseres Abbild des deutschen Walds als diesen Stacheldrahtverhau samt Verbotsschildern im Niemandsland? Wer braucht da noch einen Drachen? Außerdem raucht der herumlungernde Alberich, was das Zeug hält und tritt seine Kippen zum Entsetzen der Zuschauer mit scheinbar blanken Füßen aus. Die Bilder des 3. Akts wirken gegensätzlich, obwohl sie es nicht sind: Die aufgelassene Walküren-Aufzuchtstation der Erda/Wanderer-Szene wird gekontert mit dem klinisch sauberen, aber klinisch toten Schlafzimmeralptraum. Wenn hier je Kinder gezeugt werden sollten, was würde wohl aus ihnen? Hier ist Ende. Schlimmer kann es nicht kommen. Schluß, aus. Leuchtende Liebe, lachender Tod.
Der Rest ist Theater, haben sich Peter Konwitschny und Bert Neumann gesagt und folgerichtig die „Götterdämmerung“ auf eine einfache Bretterbühne gestellt, die alles sein kann: das einfache Theater am Rande des Rheins, das nach der ersten und einzigen „Ring“-Aufführung wieder abgerissen werden sollte, die Brechtsche Bühne, ein Vorstadt-Brettl und – weil sich das auch drehen und wenden kann – ein rotierendes Theateruniversum. Das ist eine Welt, eine ganze „Ring“-Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Noch einmal buchstabieren Regisseur und Ausstatter vor, was es heißt, einen „Ring“ auf die Bühne zu wuchten: Der ganze alte und neue Plunder von der romantisierenden Historienmalerei bis hin zu Filmprojektionen, der Zauber und die Entzauberung von Flugapparaten, von Verwandlungen und allerlei Zaubertränken, ein Rachegesang, der nichts als Oper ist, die bis in die Knochen musiktheatralisch bewegten (brillant singenden) Chöre, ein Bär, den Wagner hier nicht vorgesehen hat, aber sichtlich Laune macht, all das sieht man staunend und fragt sich, wie das wohl ausgehen mag.
Es gelingt furios: Auf den ungemein heiteren Beginn des 3. Akts, in dessen verlockende Pseudo-Rheinfluten der junge, naive, nach wie vor ahnungs- und arglose Siegfried augenzwinkernd und clownesk springt, folgt ein harter Umbruch. Wenn Siegfried abgestochen wird und qualvoll stirbt, wenden sich die Choristen wie seinerzeit bei Chéreau fragend ans Publikum. Nur sind diese Männer angezogen wie jedermann, sind keine Kunstfiguren mehr. Das Saallicht geht an und niemand sitzt mehr im Schutz der Dunkelheit. Wir alle sind das, wer sonst? Spätestens wenn die jetzt in eine ganz heutiges, totes Kostüm gekleidete Brünnhilde die Chorsänger und die noch verbliebenen Solisten, also auch den wieder lebendigen Siegfried mit Bestimmtheit von der Bühne wegkomplimentiert, wissen wir, wem die Stunde der „Götterdämmerung“ geschlagen hat. Ein großartig-einsamer Abgesang ist das – und doch einer, an dem nicht nur eine Sängerin mitwirkt, die hier über sich hinauswächst (Luana DeVol), sondern in den die rund 1400 Menschen mit einbezogen werden.
Kann man jetzt, wo die Bretterbühne so schön nackt und kahl ist, noch das ganze Brimborium zeigen, Walhall abfackeln und einstürzen lassen? Natürlich nicht. Und wie im Kino folgen zum Schluß auf der Leinwand Richard Wagners Regieanweisungen. Alles Theater, was sonst? Und doch sind die erschöpften Zuschauer außer sich, denn sie sind mit Wagners Heldinnen und Anti-Helden in manche Höhen und viele Tiefen des Menschseins gefolgt, haben fast gefahrlos ungeahntes Glück und Leid, Komik und abgrundtiefe Grausamkeit in all ihren Facetten miterleben dürfen.
Sind wir Menschen wirklich so? Und warum ist der Spiegel, den uns Wagner mit seinem „Ring“ vorhält, trotz aller Schrecknisse doch so furchtbar schön, daß man sich ihm wieder aussetzen will? Die Antwort gibt, die Antwort ist die Musik. Noch nie habe ich so intensiv erfahren, wie elementar, wie wahrhaftig die „Ring“-Musik ist, sein kann. Lothar Zagrosek ist die Konstante, auf die das Stuttgarter „Ring“-Experiment baut. Der Dirigent ist es, der diesen Kosmos zusammenhält und, wo immer es Sinn macht, aus den Fugen geraten läßt. Er ist es, der kongenial die sich durch alle vier Inszenierungen durchziehende Ästhetik aufgreift und musikalisch beglaubigt. Zagroseks gar nicht hoch genug zu rühmende Gesamtleistung basiert auf einer hellwachen, haargenau charakterisierenden Detailarbeit zu den Leitmotiven und den verschiedenen Instrumentengruppen, wobei die Holz- und Blechbläser hörbar einen Löwenanteil haben.
Neben diesem „Ring“ sind fast alle meine musikalische „Ring“-Erlebnisse plötzlich als allzu glatt und perfektionistisch, als zu beschönigend, als schlichtweg opernhaft verblaßt. Hier, bei Zagrosek, in Wieland Wagners früherem „Winter-Bayreuth“, ist Wagners Musik manchmal zum Fürchten laut und gewalttätig, aber das ist so, weil sie damit genau der musikdramatischen Situation entspricht. Hat man je so bedrohlich tief dröhnende Tuben gehört? Oder derart gellende Hörner und Trompeten, so rasend dahinjagende Streicher? Umgekehrt gibt es in scheinbar größter Leichtigkeit heiter-witzige, hell aufglucksende Stellen, dann wieder Violinenklänge, die gleichzeitig süß schmeicheln und doch alle Falschheit entlarven, schließlich so viele kleine, bissig-böse Passagen, elektrisierende Momente der Einkehr und Besinnung, der Ruhe vor dem Sturm des feindlichen Lebens und zuweilen der nicht viel weniger feindlichen Liebe – vom Verströmen der Sehnsucht, bis einem das Herz zerspringen möchte, von der fahl-bedrohlichen Ruhe nach dem Sturm ganz zu schweigen. Das Orchesters ist Wagners Mund und weiß, wie der Meister aus Sachsen, so unendlich viel zu erzählen, daß es gar nicht mehr aufhören will – bis hin zu jener Modernität, die mit entsprechend schrägem Bläsersound bis zur „Dreigroschenoper“ einschwenkt.
Erst in Stuttgart hat sich mir eingegraben, wie maßlos traurig die Musik ist, die den lustig davonziehenden Helden Siegfried zur Gibichungenhalle begleitet. Womöglich waren es aber auch die Nornen, die mich zum Weinen gebracht haben Drei obdachlose Frauen, denen ihre Welt längst abhanden gekommen ist. Alles, was ist, was sein wird, ist schon geendet. Das wissen wir Wagnerianer ja längst. Und doch wird es uns hier so schmerzlich vor Augen gehalten, daß kein Weg daran vorbeiführt.
Der „Ring“ in Stuttgart ist ein Muß. Er macht allen Jüngeren klar, wie heutig, wie wichtig Wagner und sein „Ring“ sind, und den Älteren wird bewußt, wieviel Zeit seit dem Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ vergangen ist und daß es seither noch eine Menge dazuzulernen gab. Die Nornen werden weiter raunen, auch wenn der Welt Weise nichts mehr melden und eine Entmythologisierung vielleicht nicht mehr stattfinden kann, weil sie in Stuttgart an eine, Endpunkt angelangt ist. Nacht ist’s wieder. Hinab! Zu neuen Taten.
P.S. Meine Blog-Abonnenten seien gerne darauf hingewiesen, dass es hier täglich aktualisierte Streaming-Tipps und Links zu wichtigen Artikeln und Videos, also eine Art Corona-Blog gibt.
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