„Menschendämmerung“ aus Stuttgart

Ab 3. Juli bis Mo­nats­en­de zeigt die Staats­oper Stutt­gart in wö­chent­li­chem Wech­sel noch ein­mal im Stream die erst­mals von vier ver­schie­de­nen Re­gis­seu­ren rea­li­sier­te „Ring“-Inszenierung von 1999/2000.

Rhein­töch­ter­sze­ne aus Joa­chim Schlö­mers „Rheingold“-Inszenierung – Sze­nen­fo­to: A. T. Schae­fer/​Staatsoper Stuttgart

Nach mei­nem „Ring“-Schlüsselerlebnis mit Pa­tri­ce Ché­re­aus 1976 bis 1980 in Bay­reuth ge­zeig­ter In­ter­pre­ta­ti­on war der nächs­te „Ring“-Markstein für mich die 1999/2000 erst­mals rea­li­sier­te Stutt­gar­ter Pro­duk­ti­on un­ter der mu­si­ka­li­schen Lei­tung von Lo­thar Zag­ro­sek. Die In­sze­nie­run­gen von Joa­chim Schlö­mer, Chris­tof Nel, Jos­si Wie­ler und Ser­gio Mo­rabi­to so­wie Pe­ter Kon­wit­sch­ny ste­hen ab 3. Juli um 17 Uhr im wö­chent­li­chen Wech­sel im kos­ten­lo­sen Strea­ming-Pro­gramm der Staats­oper Stutt­gart wie folgt zur Ver­fü­gung: „Das Rhein­gold“ (ab 3. Juli 17 Uhr bis 10. Juli 16.59 Uhr), „Die Wal­kü­re“ (ab 10. Juli 17 Uhr bis 17. Juli 16.59 Uhr), „Sieg­fried“ (ab 17. Juli 17 Uhr bis 24. Juli 16.59 Uhr) und „Göt­ter­däm­me­rung“ (ab 24. Juli 17 Uhr bis 31. Juli 16.59 Uhr).

Mei­ne hohe Ein­schät­zung des Stutt­gar­ter „Rings“ hat wie­der­um lan­ge ge­hal­ten. Erst im De­zem­ber 2018 konn­te ich, was viel­leicht kein Zu­fall ist, beim „weib­li­chen Ring“ in Chem­nitz, der von vier ver­schie­de­nen Re­gis­seu­rin­nen rea­li­siert wur­de, trotz der miss­glück­ten „Wal­kü­re“ wie­der von ei­nem Mei­len­stein der jün­ge­ren In­sze­nie­rungs­ge­schich­te schrei­ben und spe­zi­ell die „Göt­ter­däm­me­rung“ (Re­gie: Eli­sa­beth Stöpp­ler) in ei­nem Atem­zug mit Ché­reau nen­nen. Hier zur Ein­stim­mung auf die kos­ten­lo­sen Juli-Streams aus Stutt­gart mei­ne Kri­tik von da­mals, die zu­erst im Frän­ki­schen Tag und in der aus­führ­li­che­ren Ver­si­on in Gon­droms Fest­spiel­ma­ga­zin 2000 mit dem Ti­tel „Eine Men­schen­däm­me­rung bis zu bit­te­ren Nei­ge“ er­schie­nen ist.

Ri­chard Wag­ners Te­tra­lo­gie „Der Ring des Ni­be­lun­gen“ hat Kon­junk­tur. Rund ein Dut­zend Opern­häu­ser hat sich noch vor der Jahr­tau­send­wen­de auf­ge­macht, das in je­der Hin­sicht auf­wen­di­ge Büh­nen­fest­spiel für drei Tage und ei­nen Vor­abend zu rea­li­sie­ren. Die Zei­ten, da alle Welt nach Bay­reuth blick­te, weil die Fest­spie­le in der Wag­ner­in­ter­pre­ta­ti­on stil­bil­dend wa­ren, sind – wie­der ein­mal – Fest­spiel­ge­schich­te. Längst ha­ben die gro­ßen Staats­büh­nen, aber auch mitt­le­re und klei­ne Häu­ser den Kraft­akt ge­wagt. Der „Ring“-Tourismus boomt.

Wer wis­sen will, wie die „Ring“-Interpretation, die seit dem „Jahr­hun­dert-Ring“ 1976 in Bay­reuth bis auf we­ni­ge Aus­nah­men nichts an­de­res war als Schritt für Schritt eine Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung, im 21. Jahr­hun­dert an­ge­kom­men ist, muß nach Stutt­gart fah­ren. Schon kon­zep­tu­ell un­ter­schei­det sich die­se Pro­duk­ti­on von al­len an­de­ren. In­ten­dant Klaus Ze­helein hat er­klär­ter­ma­ßen nicht auf ei­nen Ge­samt­ent­wurf hingearbeitet.

Der Stutt­gar­ter „Ring“ ist vom An­satz her kein ge­schlos­se­ner Kos­mos. Vier ver­schie­de­nen Re­gis­seu­ren und vier ver­schie­de­nen Aus­stat­tern wur­de die Auf­ga­be ge­stellt, die vier Aben­de der Te­tra­lo­gie als Ein­zel­tei­le zu rea­li­sie­ren: ganz für sich ge­nom­men, ohne die viel­fach schwie­ri­gen Ver­wei­se auf das Vor- und Nach­her, ohne Rück­sicht auf den ro­ten Fa­den durch das gro­ße Gan­ze. Auch die Be­set­zung der Rol­len ist in je­dem der vier Tei­le ei­gen­stän­dig. Ein­zig der mu­si­ka­li­sche Lei­ter Lo­thar Zag­ro­sek ist die blei­ben­de Kon­stan­te – und was für eine! Doch da­von später.

Fast alle Be­tei­lig­ten (Pro­duk­ti­ons­teams wie So­lis­ten) sind dar­über hin­aus De­bü­tan­ten. Der Cho­reo­graph Joa­chim Schlö­mer rea­li­sier­te mit dem „Rhein­gold“ sei­ne ers­te Opern­re­gie über­haupt; Re­gis­seur Chris­tof Nel und Aus­stat­ter Karl Kneidl hat­ten mit der „Wal­kü­re“ ihr Wag­ner-De­büt; eben­so das Team aus Jos­si Wie­ler (Re­gie), Ser­gio Mo­rabi­to (Co-Re­gie) und Anna Vie­b­rock (Aus­stat­tung) mit „Sieg­fried“. Nur bei der „Göt­ter­däm­me­rung“ trat mit Pe­ter Kon­wit­sch­ny ein Wag­ner-Rou­ti­nier auf den Plan – al­ler­dings ei­ner, der im­mer für Über­ra­schun­gen gut ist.

Na­tür­lich war die­ser An­satz ris­kant. De­bü­tan­ten kön­nen furcht­bar schei­tern. Sie kön­nen aber auch glanz­voll be­stehen, wie sei­ner­zeit Ché­reau in Bay­reuth. Der Vor­teil des fri­schen, neu­gie­ri­gen und un­ver­stell­ten Blicks liegt auf der Hand. Wer die Stan­dards nicht ver­in­ner­licht hat, ist eben in der Lage, zu ent­de­cken und un­ver­krampft zu zei­gen, was auch für die an­de­ren und vor al­lem jene, die schon al­les zu wis­sen glau­ben, neu sein kann. In Stutt­gart ist ge­nau das zu er­le­ben. Schon des­halb – end­lich sei es ge­sagt! – ist das für mich der wich­tigs­te „Ring“ seit ei­nem Vierteljahrhundert.

Die gro­ße Leis­tung die­ses „Ring“ be­steht zu­nächst dar­in, dass die vier se­pa­rier­ten Tei­le, die vier in­di­vi­du­el­len Hand­schrif­ten den­noch ein äs­the­ti­sches Gan­zes er­ge­ben. Es gibt im­mer wie­der ein paar in­sze­na­to­ri­sche Ver­satz­stü­cke und Zei­chen, die sich von ei­nem Werk zum an­de­ren fort­set­zen. Aber der wich­tigs­te rote Fa­den durch alle Aben­de ist die Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung der Fi­gu­ren: Wo­tan ist in Stutt­gart sicht­lich am Ende an­ge­langt. Wolf­gang Probst im „Rhein­gold“ sieht haar­ge­nau aus wie der Bank­rot­teur und Bau­lö­we (!) Dr. Jür­gen Schnei­der, Jan-Hendrick Roo­te­ring in der „Wal­kü­re“ ist eine Stu­die von Alt­kanz­ler Hel­mut Kohl pri­vat: die Fleisch ge­wor­de­ne Macht des Aus­sit­zens, erst le­ger im Jog­ging­an­zug, spä­ter als Bü­ro­hengst, der sich sei­ner In­si­gni­en so schnell ent­le­digt wie der läs­tig ein­schnü­ren­den Kra­wat­te. Wolf­gang Schö­ne in „Sieg­fried“ ist ein er­grau­ter Hip­pie in Jeans, Le­der­ja­cke, Base­ball­kap­pe, Son­nen­bril­le – und Licht­jah­re ent­fernt von Love and Peace: ein bru­ta­ler, zy­ni­scher Typ, der mit sei­ner al­ten Lie­be Erda ei­nen letz­ten Tan­go tanzt wie wei­land Mar­lon Bran­do in Paris.

Ro­bert Gam­bill und An­ge­la De­no­ke als Sieg­mund und Sieg­lin­de in Chris­tof Nels   Stutt­gar­ter „Walküre“-Inszenierung – Sze­nen­fo­to: A. T. Schae­fer/​Staatsoper Stuttgart

Apro­pos: Se­xua­li­tät ist hier ein durch­gän­gi­ges The­ma. Es nimmt ei­nem die Luft, wenn man sieht, wie die Wäl­sun­gen ein­an­der so­fort ver­fal­len. Die groß­ar­ti­ge An­ge­la De­no­ke (Sieg­lin­de) be­grüßt den ihr noch frem­den Bru­der (Ro­bert Gam­bill) mit ei­ner Be­gehr­lich­keit, die spä­ter auch in Form ei­ner Schwert­pro­jek­ti­on auf ih­rem Kör­per auf­flammt. An­sons­ten über­wie­gen die Frus­trier­ten wie Al­be­rich (prä­gnant: Esa Ruut­unen), Hun­ding (groß­ar­tig: Phil­lip Ens), Fri­cka (Nan­cy Mault­s­by), Ha­gen (Ro­land Bracht), Gut­ru­ne (Eva-Ma­ria West­br­oek) oder der un­ver­geß­li­che „Siegfried“-Mime (Heinz Göh­rig), den es der­art vor Angst schüt­telt, daß die­se sich auch se­xu­ell ent­la­den muß: ein scho­nungs­los wahr­haf­ti­ges, mit der Mu­sik kon­form ge­hen­des – und herz­zer­rei­ßen­des – Bild.

An­ge­la De­no­ke als Sieg­lin­de mit Not­hung – Sze­nen­fo­to: A. T. Schae­fer/​Staatsoper Stuttgart

Die viel­leicht bit­ters­te Wahr­heit folgt am Ende des 1. Akts „Göt­ter­däm­me­rung“. Wenn Sieg­fried sei­ne Un­schuld ver­lo­ren, wenn er sein an die Zei­ten der Ur­auf­füh­rung ge­mah­nen­des Fell-Kos­tüm ge­gen Gun­thers An­zug aus­ge­tauscht hat und sich an­schickt, für den Bluts­bru­der die Braut zu ver­ge­wal­ti­gen, setzt sich ihm Brünn­hil­de mit ei­ner letz­ten trot­zi­gen Ges­te selbst­be­stimm­ten Han­delns ent­ge­gen, zieht selbst ih­ren Slip nach un­ten und trip­pelt der­art ge­fes­selt nach hin­ten, dort­hin, wo er ihr die letz­te Schmach be­rei­ten wird.

Es gibt wei­te­re durch­gän­gi­ge Zei­chen, es gibt viel Ent­rüm­pe­lung: Der Tarn­helm ist – ver­blüf­fend schlüs­sig – nichts an­de­res als ein Spie­gel, und ei­nen Speer gibt es nicht im­mer, wenn er zwin­gend ge­braucht wird. Die Ni­be­lun­gen sind er­satz­los ge­stri­chen, die von Wag­ner ins Spiel ge­brach­ten Tie­re kom­men bis auf die Krö­te nicht vor. Licht- und Schwarz­al­ben, Rie­sen und Zwer­ge: Alle han­deln­den Fi­gu­ren sind auf im­mer wie­der er­hei­tern­de, aber über­wie­gend auch er­schre­cken­de Wei­se nur Menschen.

Über­wäl­ti­gend ist die durch­gän­gig hohe dar­stel­le­ri­sche Prä­senz der So­lis­ten. Sie alle spie­len wie um ihr Le­ben: Nichts, fast nichts wirkt wie Thea­ter – und schon gar nicht wie Oper! Selbst Sän­ge­rin­nen und Sän­ger, die man an­dern­orts als sta­tua­ri­sche Lang­wei­ler er­le­ben muß­te, er­wa­chen zu ei­nem stau­nens­wert viel­fäl­ti­gen, in al­len Dif­fe­ren­zie­run­gen aus­drucks­rei­chen Büh­nen­le­ben so­gar dort, wo das nur mit viel Mut und Über­win­dung zu er­rei­chen ist.

Zwei­fel­los ist die­ser „Ring“ auch eine gro­ße Zu­mu­tung – für die Be­tei­lig­ten eben­so wie für das Pu­bli­kum. Im­mer wie­der und zwangs­läu­fig führt die Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung auch in die Ba­na­li­tät und in die Par­odie. Was in die­ser Di­rekt­heit zu­erst 1982 die Stu­dio­büh­ne Bay­reuth mit Uwe Hop­pes drei­stün­di­ger Sprech­thea­ter-Ad­ap­ti­on „Der Ring des Lie­bes­jun­gen“ ge­wagt hat, ist ge­wis­ser­ma­ßen in der 16-stün­di­gen Voll­ver­si­on auf den Bret­tern ei­nes Staats­thea­ters an­ge­kom­men und auf den Punkt ge­bracht: Der „Ring“ ist Ko­mö­die, Tra­gö­die und Par­odie zu­gleich – und Wag­ner wird da­durch mit­nich­ten be­schä­digt. Es tut nur manch­mal weh.

Der schmerz­volls­te Bruch des Stutt­gar­ter „Ring“ wird im 3. Akt „Sieg­fried“ voll­zo­gen. Wenn der di­cke Sieg­fried in blut­be­su­del­tem T-Shirt, Rap­per­ho­sen und bil­li­gen Kauf­haus-Turn­schu­hen in die ihm völ­lig frem­de, glatt ge­tä­fel­te Schleif­lack-Schlaf­zim­mer-Welt Brünn­hil­dens ein­bricht, ist von vorn­her­ein klar, war­um er die sin­gen­de Frau stau­nend nicht ver­steht. Ein Sieg­fried, der sich im Schrank ver­steckt oder mit dre­cki­gen Turn­schu­hen auf sei­di­gem Bett­zeug her­um­latscht, paßt we­der zu ei­ner Dame, noch in eine der gän­gi­gen Schub­la­den (und schon gar nicht in die ei­nes „Hel­den“).

Aber wer kommt mit Schub­la­den­den­ken schon weit? Selbst­ver­ständ­lich gilt das auch für die ihm so frem­de und von sich selbst ent­frem­de­te Brünn­hil­de, die sich in ih­rem Ne­gli­gé ne­ckisch vor dem Spie­gel schön macht. Ein un­glei­che­res Paar ward im 3. Akt „Sieg­fried“ noch nicht ge­se­hen – und das ver­tra­gen selbst auf­ge­schlos­se­ne Be­su­cher nicht ohne wei­te­res. Aber wie sonst soll man in die­sem Kon­text das Rät­sel von der leuch­ten­den Lie­be und dem la­chen­den Tod ver­ste­hen? Spä­tes­tens in die­sem un­er­bitt­lich-trost­lo­sen „Sieg­fried“ wird klar: Wag­ner er­zählt im „Ring“ von An­be­ginn und in al­len Kon­se­quen­zen von nichts an­de­rem als ei­ner Menschendämmerung.

Lisa Gas­teen und Jon Fred­ric West als Brünn­hil­de und Sieg­fried im 3. Akt der „Siegfried“-Inszenierung von Jos­si Wie­ler und Ser­gio Mo­rabi­to – Sze­nen­fo­to: A. T. Schae­fer/​Staatsoper Stuttgart

Viel­leicht sind die wech­seln­den Be­set­zun­gen für Zu­schau­er, die noch kei­nen „Ring“ ge­se­hen ha­ben, pro­ble­ma­tisch. Aber wel­cher „Ring“-Neuling ver­steht schon auf An­hieb al­les? Um­ge­kehrt be­inhal­ten die wech­seln­den Prot­ago­nis­ten mehr Dif­fe­ren­zie­rungs­mög­lich­kei­ten. Die au­gen­fäl­li­gen Wand­lun­gen der Wo­tan-/Wan­de­rer­fi­gur habe ich schon be­schrie­ben, ähn­lich ver­hält es sich mit den Brünn­hil­den von Na­di­ne Se­cun­de („Wal­kü­re“), Lisa Gas­teen („Sieg­fried“) und Lu­a­na De­Vol („Göt­ter­däm­me­rung“) so­wie den Sieg­frie­den von Jon Fred­ric West („Sieg­fried“) und Al­bert Bon­ne­ma („Göt­ter­däm­me­rung“).

Er­staun­lich spät kom­me ich auf die stim­mi­gen Büh­nen­bil­der zu spre­chen. Sie ste­hen ein­dring­lich für sich und bil­den doch ein fol­ge­rich­ti­ges Sys­tem des­sen, was sich im „Ring“-Zeitalter nach Ché­reau als rich­tig her­aus­kris­tal­li­siert hat. Wie ein Nach­hall auf die Vi­sua­li­sie­rung des Ka­pi­ta­lis­mus als Mo­vens der „Ring“-Handlung spielt das „Rhein­gold“ bei Jens Ki­li­an in ei­nem Kur- oder Ba­de­haus, das schon bes­se­re Zei­ten ge­se­hen hat. Hun­dings Hüt­te ist der büh­nen­bild­ne­ri­sche Re­flex (von Karl Kneidl) ei­nes ma­le­ri­schen Re­fle­xes (von An­selm Kie­fer) auf die Iko­no­gra­phie des 1. Akts „Wal­kü­re“ im 19. Jahr­hun­dert. Das wil­de Fel­sen­ge­bir­ge des 2. Akts ist ri­go­ros kahl: rechts ein (pro­vi­so­ri­scher?) Trep­pen­auf­gang nach Wal­hall, dar­un­ter eine schwarz gäh­nen­de, nur von hand­li­chen Hel­den­sta­tu­et­ten be­völ­ker­te Lee­re. Hier, auf sei­ner blau­en Luft­ma­trat­ze, glaubt Wo­tan, noch ganz Mensch sein zu dür­fen. Im Vor­gar­ten sei­ner pri­va­ten Höl­le, die er mit Zäh­nen und Klau­en ver­tei­di­gen will, er­lebt er nicht nur sein Waterloo.

So hoch die Trep­pe auch füh­ren mag, sie en­det stets im Ab­grund. Da­von wis­sen auch die zum Schrei­en ko­mi­schen Wal­kü­ren ein Lied zu sin­gen: Sie be­völ­kern eine Ebe­ne des rie­si­gen Wal­hall-Ge­bäu­des, die eine ge­wis­se Bahn­hofs­nä­he schon des­halb nicht leug­net, weil es für den Hel­den­trans­port eine Art Roll­bahn gibt. Sind sie nun leich­te Mäd­chen oder nicht? Hat nicht jede von ih­nen ein wun­der­ba­res Flü­gel­paar, das in my­thi­sche Hö­hen ent­führt? Sie sind mehr als sie schei­nen, ihr Ge­ki­cher und Ge­ga­cker klingt selbst­be­wußt. Klar, daß sie haus­hoch über ihre Kund­schaft ste­hen. Nur vor Papa Wo­tan ku­schen sie: Kein Wun­der, in sei­nem to­ta­len Überwachungsstaat …

Auch Brünn­hil­de in ih­rem kur­zen ro­ten Rock und den Sprin­ger­schu­hen bleibt kei­ne Wahl. An ei­nem kar­gen Tisch mit Stuhl ze­le­briert sie mit ein paar Tee­lich­ten den Über­gang in ihr künf­ti­ge Le­ben als wil­li­ges Weib, wäh­rend eine Ebe­ne tie­fer Wo­tan sich in sei­nem Ar­beits­zim­mer noch ein­mal durch die Vi­deo-Auf­zeich­nung ih­rer letz­ten Aus­ein­an­der­set­zung zappt. Hat man je zeit­ge­mä­ßer ge­zeigt be­kom­men, was Er­in­ne­rung heißt?

Anna Vie­b­rocks Räu­me für „Sieg­fried“ sind hoff­nungs­los end­zeit­lich. Mime hat es sich mit Sieg­fried in ei­ner still­ge­leg­ten Fa­brik klein­bür­ger­lich-ge­müt­lich ge­macht. Der 2. Akt ist ein Coup: Gibt es ein bes­se­res Ab­bild des deut­schen Walds als die­sen Sta­chel­draht­ver­hau samt Ver­bots­schil­dern im Nie­mands­land? Wer braucht da noch ei­nen Dra­chen? Au­ßer­dem raucht der her­um­lun­gern­de Al­be­rich, was das Zeug hält und tritt sei­ne Kip­pen zum Ent­set­zen der Zu­schau­er mit schein­bar blan­ken Fü­ßen aus. Die Bil­der des 3. Akts wir­ken ge­gen­sätz­lich, ob­wohl sie es nicht sind: Die auf­ge­las­se­ne Wal­kü­ren-Auf­zucht­sta­ti­on der Er­da/­Wan­de­rer-Sze­ne wird ge­kon­tert mit dem kli­nisch sau­be­ren, aber kli­nisch to­ten Schlaf­zim­mer­alp­traum. Wenn hier je Kin­der ge­zeugt wer­den soll­ten, was wür­de wohl aus ih­nen? Hier ist Ende. Schlim­mer kann es nicht kom­men. Schluß, aus. Leuch­ten­de Lie­be, la­chen­der Tod.

Der Rest ist Thea­ter, ha­ben sich Pe­ter Kon­wit­sch­ny und Bert Neu­mann ge­sagt und fol­ge­rich­tig die „Göt­ter­däm­me­rung“ auf eine ein­fa­che Bret­ter­büh­ne ge­stellt, die al­les sein kann: das ein­fa­che Thea­ter am Ran­de des Rheins, das nach der ers­ten und ein­zi­gen „Ring“-Aufführung wie­der ab­ge­ris­sen wer­den soll­te, die Brecht­sche Büh­ne, ein Vor­stadt-Brettl und – weil sich das auch dre­hen und wen­den kann – ein ro­tie­ren­des Thea­ter­uni­ver­sum. Das ist eine Welt, eine gan­ze „Ring“-Welt  – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Al­bert Bon­ne­ma als Sieg­fried im 1. Akt der „Götterdämmerung“-Inszenierung von Pe­ter Kon­wit­sch­ny – Sze­nen­fo­to: A. T. Schae­fer/​Staatsoper Stuttgart

Noch ein­mal buch­sta­bie­ren Re­gis­seur und Aus­stat­ter vor, was es heißt, ei­nen „Ring“ auf die Büh­ne zu wuch­ten: Der gan­ze alte und neue Plun­der von der ro­man­ti­sie­ren­den His­to­ri­en­ma­le­rei bis hin zu Film­pro­jek­tio­nen, der Zau­ber und die Ent­zau­be­rung von Flug­ap­pa­ra­ten, von Ver­wand­lun­gen und al­ler­lei Zau­ber­trän­ken, ein Ra­che­ge­sang, der nichts als Oper ist, die bis in die Kno­chen mu­sik­thea­tra­lisch be­weg­ten (bril­lant sin­gen­den) Chö­re, ein Bär, den Wag­ner hier nicht vor­ge­se­hen hat, aber sicht­lich Lau­ne macht, all das sieht man stau­nend und fragt sich, wie das wohl aus­ge­hen mag.

Es ge­lingt fu­ri­os: Auf den un­ge­mein hei­te­ren Be­ginn des 3. Akts, in des­sen ver­lo­cken­de Pseu­do-Rhein­flu­ten der jun­ge, nai­ve, nach wie vor ah­nungs- und arg­lo­se Sieg­fried au­gen­zwin­kernd und clow­nesk springt, folgt ein har­ter Um­bruch. Wenn Sieg­fried ab­ge­sto­chen wird und qual­voll stirbt, wen­den sich die Cho­ris­ten wie sei­ner­zeit bei Ché­reau fra­gend ans Pu­bli­kum. Nur sind die­se Män­ner an­ge­zo­gen wie je­der­mann, sind kei­ne Kunst­fi­gu­ren mehr. Das Saal­licht geht an und nie­mand sitzt mehr im Schutz der Dun­kel­heit. Wir alle sind das, wer sonst? Spä­tes­tens wenn die jetzt in eine ganz heu­ti­ges, to­tes Kos­tüm ge­klei­de­te Brünn­hil­de die Chor­sän­ger und die noch ver­blie­be­nen So­lis­ten, also auch den wie­der le­ben­di­gen Sieg­fried mit Be­stimmt­heit von der Büh­ne weg­kom­pli­men­tiert, wis­sen wir, wem die Stun­de der „Göt­ter­däm­me­rung“ ge­schla­gen hat. Ein groß­ar­tig-ein­sa­mer Ab­ge­sang ist das – und doch ei­ner, an dem nicht nur eine Sän­ge­rin mit­wirkt, die hier über sich hin­aus­wächst (Lu­a­na De­Vol), son­dern in den die rund 1400 Men­schen mit ein­be­zo­gen werden.

Kann man jetzt, wo die Bret­ter­büh­ne so schön nackt und kahl ist, noch das gan­ze Brim­bo­ri­um zei­gen, Wal­hall ab­fa­ckeln und ein­stür­zen las­sen? Na­tür­lich nicht. Und wie im Kino fol­gen zum Schluß auf der Lein­wand Ri­chard Wag­ners Re­gie­an­wei­sun­gen. Al­les Thea­ter, was sonst? Und doch sind die er­schöpf­ten Zu­schau­er au­ßer sich, denn sie sind mit Wag­ners Hel­din­nen und Anti-Hel­den in man­che Hö­hen und vie­le Tie­fen des Mensch­seins ge­folgt, ha­ben fast ge­fahr­los un­ge­ahn­tes Glück und Leid, Ko­mik und ab­grund­tie­fe Grau­sam­keit in all ih­ren Fa­cet­ten mit­er­le­ben dürfen.

Sind wir Men­schen wirk­lich so? Und war­um ist der Spie­gel, den uns Wag­ner mit sei­nem „Ring“ vor­hält, trotz al­ler Schreck­nis­se doch so furcht­bar schön, daß man sich ihm wie­der aus­set­zen will? Die Ant­wort gibt, die Ant­wort ist die Mu­sik. Noch nie habe ich so in­ten­siv er­fah­ren, wie ele­men­tar, wie wahr­haf­tig die „Ring“-Musik ist, sein kann. Lo­thar Zag­ro­sek ist die Kon­stan­te, auf die das Stutt­gar­ter „Ring“-Experiment baut. Der Di­ri­gent ist es, der die­sen Kos­mos zu­sam­men­hält und, wo im­mer es Sinn macht, aus den Fu­gen ge­ra­ten läßt. Er ist es, der kon­ge­ni­al die sich durch alle vier In­sze­nie­run­gen durch­zie­hen­de Äs­the­tik auf­greift und mu­si­ka­lisch be­glau­bigt. Zag­ro­seks gar nicht hoch ge­nug zu rüh­men­de Ge­samt­leis­tung ba­siert auf ei­ner hell­wa­chen, haar­ge­nau cha­rak­te­ri­sie­ren­den De­tail­ar­beit zu den Leit­mo­ti­ven und den ver­schie­de­nen In­stru­men­ten­grup­pen, wo­bei die Holz- und Blech­blä­ser hör­bar ei­nen Lö­wen­an­teil haben.

Ne­ben die­sem „Ring“ sind fast alle mei­ne mu­si­ka­li­sche „Ring“-Erlebnisse plötz­lich als all­zu glatt und per­fek­tio­nis­tisch, als zu be­schö­ni­gend, als schlicht­weg opern­haft ver­blaßt. Hier, bei Zag­ro­sek, in Wie­land Wag­ners frü­he­rem „Win­ter-Bay­reuth“, ist Wag­ners Mu­sik manch­mal zum Fürch­ten laut und ge­walt­tä­tig, aber das ist so, weil sie da­mit ge­nau der mu­sik­dra­ma­ti­schen Si­tua­ti­on ent­spricht. Hat man je so be­droh­lich tief dröh­nen­de Tu­ben ge­hört? Oder der­art gel­len­de Hör­ner und Trom­pe­ten, so ra­send da­hin­ja­gen­de Strei­cher? Um­ge­kehrt gibt es in schein­bar größ­ter Leich­tig­keit hei­ter-wit­zi­ge, hell auf­gluck­sen­de Stel­len, dann wie­der Vio­li­nen­klän­ge, die gleich­zei­tig süß schmei­cheln und doch alle Falsch­heit ent­lar­ven, schließ­lich so vie­le klei­ne, bis­sig-böse Pas­sa­gen, elek­tri­sie­ren­de Mo­men­te der Ein­kehr und Be­sin­nung, der Ruhe vor dem Sturm des feind­li­chen Le­bens und zu­wei­len der nicht viel we­ni­ger feind­li­chen Lie­be – vom Ver­strö­men der Sehn­sucht, bis ei­nem das Herz zer­sprin­gen möch­te, von der fahl-be­droh­li­chen Ruhe nach dem Sturm ganz zu schwei­gen. Das Or­ches­ters ist Wag­ners Mund und weiß, wie der Meis­ter aus Sach­sen, so un­end­lich viel zu er­zäh­len, daß es gar nicht mehr auf­hö­ren will – bis hin zu je­ner Mo­der­ni­tät, die mit ent­spre­chend schrä­gem Blä­ser­sound bis zur „Drei­gro­schen­oper“ einschwenkt.

Erst in Stutt­gart hat sich mir ein­ge­gra­ben, wie maß­los trau­rig die Mu­sik ist, die den lus­tig da­von­zie­hen­den Hel­den Sieg­fried zur Gi­bi­chun­gen­hal­le be­glei­tet. Wo­mög­lich wa­ren es aber auch die Nor­nen, die mich zum Wei­nen ge­bracht ha­ben Drei ob­dach­lo­se Frau­en, de­nen ihre Welt längst ab­han­den ge­kom­men ist. Al­les, was ist, was sein wird, ist schon ge­en­det. Das wis­sen wir Wag­ne­ria­ner ja längst. Und doch wird es uns hier so schmerz­lich vor Au­gen ge­hal­ten, daß kein Weg dar­an vorbeiführt.

Der „Ring“ in Stutt­gart ist ein Muß. Er macht al­len Jün­ge­ren klar, wie heu­tig, wie wich­tig Wag­ner und sein „Ring“ sind, und den Äl­te­ren wird be­wußt, wie­viel Zeit seit dem Bay­reu­ther „Jahr­hun­dert-Ring“ ver­gan­gen ist und daß es seit­her noch eine Men­ge da­zu­zu­ler­nen gab. Die Nor­nen wer­den wei­ter rau­nen, auch wenn der Welt Wei­se nichts mehr mel­den und eine Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung viel­leicht nicht mehr statt­fin­den kann, weil sie in Stutt­gart an eine, End­punkt an­ge­langt ist. Nacht ist’s wie­der. Hin­ab! Zu neu­en Taten.

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