Heute vor 210 Jahren wurde Richard Wagner geboren. Am 22. Mai 1853, seinem 40. Geburtstag, dirigierte er ein drittes und letztes Mal das Programm seiner Züricher Maikonzerte.
Die neun Jahre, die der in seinem Geburtsland steckbrieflich gesuchte Richard Wagner von Ende Mai 1849 bis August 1858 in seinem Züricher Exil verbrachte, gehören zu seinen produktivsten überhaupt. In keiner Stadt außer Bayreuth hat der Komponist länger gelebt, hier verfasste er seine ästhetischen Hauptschriften, hier entstanden entweder ganz oder in Teilen seine Werke ab dem „Ring“, hier trat er nicht nur als Konzert- und Operndirigent maßgeblich in Erscheinung, sondern leitete im Mai 1853 mit einer ausschließlich seinen Werken gewidmeten Konzertserie gewissermaßen die ersten Wagner-Festspiele, das Züricher Musikfest im Aktientheater.
In diesen Maikonzerten setzte Wagner erstmals alle wichtigen Elemente der Festspielidee um: Diese Musteraufführungen eigener Werke fanden mit eigens für diesen Anlass ausgewählten und engagierten Instrumentalisten und Sängern in einer begrenzten Zahl von Aufführungen mit Festcharakter statt und wurden durch Anteilscheine finanziert. Letzteres will heißen, dass acht vermögende Männer aus Zürich, darunter Otto Wesendonck, für die Festwoche bürgten und am Ende das Defizit von fast 2000 Franken beglichen.
Das Orchester führte 70 Musiker aus Zürich, Winterthur, Schaffhausen, St. Gallen, Bern, Basel, Solothurn, Muri, Zofingen, Lenzburg, Thun, Biel, La Chaux-de-Fonds, Lausanne, Freiburg i. Br., Wiesbaden, Mainz und Weimar zusammen. Wagner berichtete dazu Franz Liszt in einem Brief: „Ich hatte fast lauter Concertmeister und Musikdirectoren: 20 ganz vorzügliche Violinen, 8 Bratschen, 8 vortreffliche Violoncelle und 5 Contrabässe; Alle hatten ihre besten Instrumente mitgebracht, und in dem, nach meiner Angabe construirten, Schallgehäuse klang das Orchester über die Maaßen hell und schön.“ Den Chor bildeten 110 Sänger aus Züricher Gesangsvereinen, zu den Solisten zählten Emilie Heim (Sopran), Franz Puchon (Bassbariton) und Carl Castelli (Tenor).
In der ersten Maiwoche 1853 verfasste Wagner zunächst das 16-seitige Programm mit einer Vorbemerkung und Erläuterungen zu den einzelnen Werken. Einstudiert und aufgeführt wurden:
1. Friedensmarsch aus „Rienzi“.
2. „Der fliegende Holländer“: Ballade der Senta, Lied norwegischer Matrosen, „Des Holländers Seefahrt“.
3. „Tannhäuser“: Festlicher Einzug der Gäste auf Wartburg mit Chor „Freudig begrüßen wir die Halle“, Tannhäusers Bußfahrt (=Instrumentaleinleitung zum III. Akt) und Gesang der heimkehrenden Pilger.
4. „Lohengrin“: „Der heilige Gral“ (Vorspiel), Männerszene und Brautzug, Hochzeitsmusik (=Instrumentaleinleitung zum III. Akt) und Brautlied.
Mit der zweiten Maiwoche begann laut Max Fehr, einem Schweizer Wagner-Biographen, für den Dichterkomponisten der „eigentliche Festrummel“. Zu den Chor- und Solistenproben kamen noch drei Vorlesungen der Textbücher hinzu. Hier der Zeitplan:
Montag, 9. Mai: Gesangprobe im Musiksaal
Dienstag, 10. Mai: Vorlesung von „Der Fliegende Holländer“ im Kasinosaal
Mittwoch, 11. Mai: Gesangprobe im Musiksaal
Donnerstag, 12. Mai: Vorlesung von „Tannhäuser“ im Kasinosaal
Freitag, 13. Mai: Gesangprobe
Samstag 14. Mai: Vorlesung von „Lohengrin“
Sonntag, 15. Mai: Ankunft der auswärtigen Musiker. Abends 7 Uhr Vorbesprechung mit denselben im Theater
Montag, 16. Mai: Vormittags und nachmittags Probe im Theater
Dienstag, 17. Mai: Vormittags und nachmittags Probe im Theater
Mittwoch, 18. Mai: Vormittags Hauptprobe bei geschlossenen Türen.
Über eine der Vorlesungen des Librettos berichtete Julius Edele im „Bund“ wie folgt:
Am Abend, als Wagner in dem dichtgefüllten Kasinosaal den Text zu seinem „Lohengrin“ vorlas, saß ich neben einem Manne, aus dessen Gespräch ich vernahm, daß er ein Müller ist, sechs Stunden von Zürich wohnt, mit seiner Braut zu dieser Vorlesung kam und nach derselben in später Nacht wieder heim fuhr. Aus seinen Reden entnahm ich, daß er sämtliche Texte zu Wagners Opern kennt und liebt.
Wagner selbst berichtete später davon in seinem Brief vom 30. Mai auch Franz Liszt:
Für jetzt hat es mich aber auch unerhörte Anstrengung gekostet: in der Woche vorher las ich – und zwar auch meine Weise, die Du noch kennen lernen wirst – öffentlich und gratis vor einem sehr großen Publikum die drei Operndichtungen vor, und freute mich hier schon eines sehr starken Eindruckes auf meine Zuhörerschaft. Dazwischen studirte ich Dilettanten meine Chöre so ein, daß diese sehr zahmen vierstimmigen Menschen endlich sangen, als ob sie den Teufel im Leibe hätten. – Nun bin ich denn auch etwas – gelähmt und müde! –
Schon die Premiere am 18. Mai im Aktientheater war ein großer Erfolg gewesen: „Besonders die Stücke aus ‚Lohengrin‘ wirkten bezaubernd auf das Publikum, das sie mit Wagner zum erstenmal hörte.“ Die „Eidgenössische Zeitung“ resümierte: „Wie die Fürsten ihre stolzen Hoffeste feiern, so haben wir gestern ein Musikfest gefeiert, um das uns wegen seines Glanzes und Gehaltes alle Residenzstädte Europas hätten beneiden können. Auch wir haben einen König in unserer Mitte, der uns mit seiner Huld erfreut, sein Reich aber ist die Kunst.“
Am 21. Mai, dem freien Tag zwischen dem zweiten und dritten Konzert gab es nach einer Dampfbootfahrt zu Ehren der Mitwirkenden auf Wunsch Wagners ein gemeinsames Abendessen im Casino Zürich. Wagner hatte alle auf seine Kosten eingeladen, die „Allgemeine Musikgesellschaft“ Zürich übernahm aber die Kosten. In seiner Autobiographie „Mein Leben“ schrieb er später von diesem Festessen als „dem ersten und außer einem späteren in Pest, dem einzigen, davon mir je die Ehre erwiesen wurde. Hier ergriff mich wirklich die Rede des hochbetagten Präsidenten der Musikgesellschaft, Herrn Ott-Usteri; er machte darin die von so verschiedenen Ortem zusammengetroffenen Musiker auf die Bedeutung dieser ihrer Vereinigung aufmerksam und empfahl ihnen als sicheres Geleite für die Heimfahrt die gewiß von jedem gewonnene Überzeugung, daß sie hier mit einer neuen großen Erscheinung auf dem Kunstgebiete in eine innige und fruchtbare Berührung getreten seien.“
Am dritten Konzerttag, dem 22. Mai, hatte die Dampfschiffgesellschaft vom Zürichsee eigens die Rückfahrt der Boote für die Konzertbesucher hinausgeschoben: „Aber schon am frühen Nachmittag mußte nach mehreren Ortschaften des Seeufers telegraphiert werden, daß keine Plätze mehr zu haben seien.“ Vor Beginn des Konzertes ging ein Diener von Wagners Mäzen Otto Wesendonck von Loge zu Loge und verteilte Blumensträuße. Die „Eidgenössische Zeitung“ schrieb:
Der gestrige letzte Festtag setzte den früheren die Krone auf. Mit der wiederholten Anhörung der Tonwerke wuchs ihr Verständnis und mit ihm der Enthusiasmus für dieselben. Neben dem frischen und kecken Matrosenlied aus dem „Holländer“ machte wiederum die Musik zu „Lohengrin“ die edelste, innerlichste und zarteste, vor allem aus den gewaltigsten und nachhaltigsten Eindruck. Als die letzten schmetternden Töne des Hochzeitsfestes und damit auch des Musikfestes verklangen, flogen Kränze und Bouquets von allen Seiten, das ganze Haus jubelte, die Musiker fielen ein mit ihrem Tusch. Ein Sänger trat vor und rezitierte ein Gedicht, welches das Wirken des hochbegabten Mannes würdig feierte, und die schönste der Frauen überreichte ihm den Lorbeerkranz, den der bescheidene Meister sich nicht auf die Stirne drücken ließ. Eine zweite Dame überreichte ihm als freundliches Andenken im Namen der Sängerinnen einen silbernen Pokal. Vor Wonne trunken und aufs Tiefste ergriffen von so vielen Beweisen der Liebe und Verehrung, brachte der Gefeierte nur die Worte hervor: „Welch eine große und rührende Freude bereitet ihr mir heute!“ Es war zufällig sein vierzigster Geburtstag. Beseligt und gerührt ging Alles auseinander. Die Tage dieses Festes werden unvergessen und unauslöschlich bleiben. So wirkt die Kunst und die edelste Menschlichkeit.
Das erwähnte Huldigungsgedicht wurde von Wilhelm Niedermann-Studer, Sattlermeister, Mitgründer des Sängervereins Harmonie und ein „sehr begabter Deklamator“, vorgetragen. Es wird übrigens Mathilde Wesendonck zugeschrieben:
An Richard Wagner
nach seinem 3. Konzerte in Zürich
an seinem 40. Geburtstage
den 22. Mai 1853
Hernieder sank der heilige Gral,
Ergoß in das Leben den ewigen Quell,
Von Herz zu Herzen und Well auf Well,
Und Gottes Kraft beseligt die Welt.
Die Erde trinkt in tiefem Zug,
Und was sie zu wildem Sturme trieb,
Befreit in ihr die göttliche Lieb,
Und endlös blüht die schöne Welt.
Und ewig blüht mit ihr das Herz.
Und ewig frei der Geist sich ringt,
Und alle Welt ein Kranz umschlingt,
Besiegelt von der Liebe Kuß.
Den tiefsten Zug hast Du getan,
Du freier Mann mit Leier und Schwert.
Des heiligen Kampfes hast Du begehrt,
Und hehr des Friedens Werk vollbracht.
Du greifst mit Deiner kühnen Hand
In alle Saiten der Natur,
Und auf der Töne lichter Spur
Steigt höchste Wahrheit Dir empor.
Dir ist Natur und Geist Akkord,
In Deinem Reich der Harmonie
Trennt Wahrheit sich vom Leben nie,
Wird reinster Tugend freie Tat.
So blüht aus Deiner Seele Grund
Zu Tag der schönste Maienkranz;
Des Frühlings Wehn, sein Duft, sein Glanz
Strömt warm und hell aus Deinem Lied.
Die Hoffnung so begraben lag,
Du trägst sie lebensstark voran,
Daß Schritt um Schritt auf Deiner Bahn,
Der Freiheit Siegesjubel schallt.
Ein Gott die Leier Dir beschied.
O, greif hinein mit frischem Mut
Und laß des Herzens tiefste Glut
Zum Flammenlichte auferstehn!
Es faßt die stille Alpenwelt
Des großen Meisters ernsten Chor,
Sie trägt zum Himmel ihn empor,
Im Echo durch die ganze Welt.
Es steht um Dich ein freies Volk;
Trieb Dich der Sturm vom Vaterort,
Dir blieb fortan der beste Hort:
Der freien Männer treues Herz!
Gepriesen sei die heilge Kunst,
Die frei ins volle Leben dringt
Und jubelnd sich zum Höchsten schwingt,
Mit allem, was die Brust empfand!
Gespriesen sei des Meisters Kraft,
Die alle Herzen sich erschließt,
Ins ärmste höchste Wonne gießt,
Dem ganzen Volk ein Segensborn.
Es winkt ein klares Morgenrot.
In dieses jungen Tages Lauf
Geht nun der Schönheit Blüte auf,
Und dir gehört der Ehrenkranz.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtete am 23. Mai 1853:
Gestern hat die dritte Musikaufführung von Richard Wagner stattgehabt. Alle Billets waren ausgegeben, da eine Menge Zuhörer aus der Ferne herbeigeströmt war und das Dampfschiff bekanntlich einen Extrakurs verheißen hatte. Schon diese Menschenmasse, Orchester und Publikum zu einem großen Amphitheater vereint, machte einen imposanten Eindruck. Der Beifall war wie immer außerordentlich. Das Matrosenlied wurde gerufen, der große Meister am Schluß mit Kränzen beworfen und mit einer ihn als den Erschließer einer freiern Zeitentwicklung begrüßenden Deklamation gefeiert, eine Zeremonie, die Wagner sehr einfach mit einem herzlichen Dank und Händedruck der Prima Donna beantwortete. Über die Befähigung des gefeierten Mannes lassen wir den Experten das Wort, so viel haben wir aber doch verstanden, daß die Schule hier so viel leistet, als das Genie erzeugt. Das Eigenthümliche der Erscheinung liegt nicht in der Methode, sondern in der Individualität dieses Mannes. Wir bezweifeln auch, daß er Schüler haben wird, die ihm’s nachmachen. Eins ist uns besonders aufgefallen an der Wagnerschen Musik. Sie kann Alles, nur nicht heiter sein. Ihrer Lustigkeit ist immer etwas Unheimliches beigemischt, an ihrem blausten Himmel hängt eine Wolke, in der man schon den Blitz ahnt, der auf Schiff herunterstürtzt. Es will uns fast vorkommen, als wollte Richard Wagner mit seiner Musik unsere neuste Geschichte schreiben.
Fünf Tage nach den Maikonzerten war in der „Züricher Freitagszeitung“ zu lesen: „Der Kanton Zürich wird es nie zu bereuen haben, daß er diesem Flüchtling ein Asyl gewährte; man sollte ihm hier eine neue Heimat geben. Ein solcher Bürger wäre ein Ehrenbürger im wahrsten Sinne des Wortes!“
Quellen: Max Fehr, Richard Wagners Schweizer Zeit, Band I, 1934; Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Band 5, 1993; Bernhard Hangartner 2013, Durch Richard Wagners Zürich. Ein Stadtrundgang 2012; Neue Zürcher Zeitung, 200 Jahre Richard Wagner, Fokus-Dossier.
Ähnliche Beiträge
- Adventskalender 1871 (5) 5. Dezember 2021
- Minna-Briefe-Kalender (24) 24. Dezember 2022
- Zimelien, Schätze und Trouvaillen 11. April 2023
- Minnas einziges Kind 22. Februar 2020
- Adventskalender 1871 (1) 1. Dezember 2021