Ach, Amerika!

Hans Ru­dolf Va­get und sein in­spi­rie­ren­der Vor­trag: In Ri­chard Wag­ners Be­zie­hun­gen zu den Ver­ei­nig­ten Staa­ten steckt mehr, als selbst gut in­for­mier­te Wag­ne­ria­ner bis­her dachten.

Fried­helm Marx vom Lehr­stuhl für Neue­re deut­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft (links) und Hans Ru­dolf Va­get – Foto: Mo­ni­ka Beer

Ri­chard Wag­ner und Ame­ri­ka? Wer hät­te ge­dacht, dass das ein so span­nen­des The­ma sein könn­te? Aber schließ­lich war mit Hans Ru­dolf Va­get auch ein Re­fe­rent am Werk, der gro­ßes De­tail­wis­sen mit noch grö­ße­rer Über­sicht zu ver­bin­den weiß. Und so durf­ten die Zu­hö­rer im bild­schö­nen Hör­saal U2/00.25 un­ter an­de­rem mit der neu­en Er­kennt­nis nach Hau­se ge­hen, dass Wag­ner ers­tens sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Zahn­arzt ein über­ra­schend ge­dul­di­ger Pa­ti­ent war. Zwei­tens wur­de klar, dass sei­ne in un­ter­schied­li­chen Pha­sen sei­nes Le­bens ge­äu­ßer­ten  Aus­wan­de­rungs­plä­ne nicht nur so da­hin­ge­sagt wa­ren, son­dern zu­neh­mend ei­nen erns­ten Hin­ter­grund hat­ten. Und drit­tens zeig­te sich auch, dass Wag­ner viel­leicht doch nicht so deutsch war, wie er selbst be­haup­tet hat­te mit sei­ner Aus­sa­ge, er sei „der deut­sches­te Künst­ler, den es je gab“.

Hans Ru­dolf Va­get – Foto: Ro­land Gröber

Schon al­lein der Zahn­arzt war eine Über­ra­schung. Denn der aus Mas­sa­chu­setts stam­men­de Dr. Ne­well Sill Jenk­ins (1840–1919), der in Dres­den sei­ne in höchs­tem Ruf ste­hen­de Pro­mi­nen­ten­pra­xis hat­te, aber auch im Wie­ner Ho­tel Im­pe­ri­al, auf Adels­land­sit­zen so­wie in Wahn­fried prak­ti­zier­te, war der ein­zi­ge Ame­ri­ka­ner, den Wag­ner per­sön­lich kann­te. An die­sen Pio­nier der kos­me­ti­schen Zahn­me­di­zin rich­te­te Wag­ner im Fe­bru­ar 1880 aus Nea­pel ei­nen Brief, in dem er um Un­ter­stüt­zung bei sei­nen Emi­gra­ti­ons­plä­nen bat. Wag­ner, so Va­get, „hal­te es nicht für un­mög­lich, dass er sich in sei­nem Al­ter noch ent­schlie­ße, mit sei­ner gan­zen Fa­mi­lie und sei­nem letz­ten Wer­ke für im­mer nach Ame­ri­ka aus­zu­wan­dern. Er set­ze kei­ne Hoff­nun­gen mehr auf Deutsch­land und fürch­te, dass er es bald be­reu­en wür­de, den Sa­men sei­ner künst­le­ri­schen Ideen nicht längst schon ei­nem frucht­ba­re­ren und hoff­nungs­rei­che­ren Bo­den über­ge­ben zu ha­ben.“ Nicht nur meh­re­re Kon­zert­ein­la­dun­gen und ein gut do­tier­ter Kom­po­si­ti­ons­auf­trag hat­ten ihn dazu ge­bracht. Kurz ge­sagt: Für eine Mil­li­on Dol­lar sei er be­reit, die Fest­spie­le und die Ur­auf­füh­rung des „Par­si­fal“ nach Ame­ri­ka zu verpflanzen.

Dass das in ers­ter Li­nie er­pres­se­risch ge­gen­über Kö­nig Lud­wig II. und der Hof­bü­ro­kra­tie ge­meint war, liegt auf der Hand. Die Fest­spie­le la­gen seit ih­rem ers­ten de­fi­zi­tä­ren Durch­gang 1876 auf Eis, be­reits zwei­mal hat­te Wag­ner sei­nem größ­ten Mä­zen ge­gen­über ge­droht, Bay­reuth in Rich­tung Ame­ri­ka zu ver­las­sen. Lud­wig ver­sprach schließ­lich, er wer­de „mit Freu­den“ al­les in sei­nem Kräf­ten Ste­hen­de tun, um Wag­ners „schwer­müt­hi­ge“ Stim­mung zu he­ben. Die Fort­set­zung der Fest­spie­le in Bay­reuth war ge­si­chert, „Par­si­fal“ wur­de im Som­mer 1882 ur­auf­ge­führt, un­ter den von Wag­ner per­sön­lich ein­ge­la­de­nen Eh­ren­gäs­ten war ne­ben Lud­wig auch das Ehe­paar Jenkins.

Hans Ru­dolf Va­get – Foto: Ro­land Gröber

„Es wäre nun aber“, so Va­get, „sehr ver­fehlt und zu kurz ge­grif­fen, aus der Schein­haf­tig­keit von Wag­ners Emi­gra­ti­ons­plan auf sei­ne Be­deu­tungs­lo­sig­keit zu schlie­ßen.“ Zu­mal Wag­ner dem Kö­nigs­brief aus Nea­pel die bit­te­re Selbst­aus­sa­ge an­füg­te: „In Wahr­heit gibt es kein iro­ni­sche­res Schick­sal als das mei­ni­ge.“ Tat­säch­lich über­se­he man an­ge­sichts des um­fang­rei­chen, un­auf­rich­ti­gen und po­sen­rei­chen Brief­wech­sels der bei­den, welch psy­chi­sches Un­ge­mach es bei Wag­ner aus­lös­te, von die­sem im­mer mehr im An­ci­en Ré­gime ver­wur­zel­ten Kö­nig ab­hän­gig zu sein. Wag­ner „litt an der schrei­en­den Dis­kre­panz zwi­schen sei­nen re­pu­bli­ka­ni­schen Über­zeu­gun­gen und de­nen sei­nes kö­nig­li­chen För­de­rers.“ Der Emi­gra­ti­ons­plan sei „als das Sym­p­ton ei­nes an­schwel­len­den Phan­tom­schmer­zes zu deu­ten – ei­nes heim­li­chen Schmer­zes über den Ver­lust ei­ner einst es­sen­ti­el­len, nun aber ver­dräng­ten Di­men­si­on sei­nes We­sens, sei­nes Republikanismus.“

Span­nend vor al­lem auch die ab­schlie­ßen­de Hy­po­the­se, was denn aus den Fest­spie­len und der Wag­ner­re­zep­ti­on ge­wor­den wäre, wenn der Ame­ri­ka­plan real ge­wor­den wäre. Va­get: „Wäre Wag­ner in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten aus­ge­wan­dert und hät­te dort im Sin­ne sei­nes Selbst­be­wusst­seins zu wir­ken ver­sucht, so wäre sein Schei­tern sehr bald of­fen­bar ge­wor­den. Die Be­reit­schaft der Welt, am deut­schen We­sen zu ge­ne­sen, war selbst im Ge­wan­de der Mu­sik weit be­grenz­ter, als Wag­ner es sich vor­stel­len moch­te.“ An­ders die Kon­se­quen­zen in Deutsch­land: „Mit Si­cher­heit hät­te die völ­ki­sche und na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­ein­nah­mung von Wag­ners ‚Deutsch­heit‘ an­ge­sichts sei­ner Aus­wan­de­rung aus frei­en Stü­cken den Schein ih­rer Glaub­wür­dig­keit ein­ge­büßt. Und Bay­reuth hät­te nicht zu ei­nem die Hit­ler-Dik­ta­tur prä­lu­die­ren­den und ihr vor­ar­bei­ten­den Ge­gen-Wei­mar auf­ge­baut wer­den können.“

Blick in den Hör­saal – Foto: Ro­land Gröber
Hans Ru­dolf Va­get beim Si­gnie­ren sei­nes Buchs „Ri­chard Wag­ners Ame­ri­ka“ – Foto: Ul­ri­ke Müller

Wer den Vor­trag am 14. No­vem­ber ver­passt hat, den der Ri­chard-Wag­ner-Ver­band Bam­berg und der Lehr­stuhl für Neue­re deut­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bam­berg er­mög­licht ha­ben, kann sich auch nach­träg­lich noch schlau ma­chen: Hans Va­gets Aus­gra­bun­gen zu „Ri­chard Wag­ners Ame­ri­ka“ sind 2022 un­ter die­sem Ti­tel als Band 24 der Rei­he „Wag­ner in der Dis­kus­si­on“ im Ver­lag Kö­nigs­hau­sen & Neu­mann er­schie­nen (188 S., mit Abb., 29,80 €).

Noch of­fen ge­blie­ben ist der un­frei­wil­li­ge Man­tel­tausch nach der Ver­an­stal­tung. Ein Be­su­cher ist ver­se­hent­lich im fal­schen Man­tel heim­ge­gan­gen. An­ge­zo­gen hat er ei­nen schwar­zen, au­ßen glat­ten, mit Reiß­ver­schluss und Knöp­fen zu schlie­ßen­den, in­nen mit ei­nem ab­nehm­ba­ren war­men Stepp­fut­ter ver­se­he­nen Her­ren­man­tel mitt­le­rer Län­ge, bei dem die Ta­sche rechts et­was aus­ge­ris­sen ist. Im Vor­raum des Hör­saals U2/00.25 be­las­sen hat­te er ei­nen schwar­zen, au­ßen glat­ten, ein­wand­frei­en Kurz­man­tel (oder lan­ge Ja­cke) der Mar­ke Gil­ber­to, eben­falls mit Reiß­ver­schluss und Knöp­fen zu schlie­ßen. Zur ge­gen­sei­ti­gen Rück­ga­be ist eine E-Mail an info@rwv-bamberg.de erbeten.

Hans Ru­dolf Va­get, ge­bo­ren 1938 in Ma­ri­en­bad, ist eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor of Ger­man Stu­dies und Com­pa­ra­ti­ve Li­te­ra­tu­re am Smith Col­lege (Nort­hamp­ton, Mas­sa­chu­setts) und Mit­be­grün­der der Goe­the So­cie­ty of North Ame­ri­ca. Schwer­punk­te sei­ner mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten For­schung sind Goe­the, Wag­ner und Tho­mas Mann, zu de­nen er zahl­rei­che Ar­bei­ten vor­ge­legt hat, dar­un­ter „‚Weh­vol­les Erbe‘. Ri­chard Wag­ner in Deutsch­land: Hit­ler, Knap­perts­busch, Mann“ (2017). Va­get ist Mit­her­aus­ge­ber der Gro­ßen kom­men­tier­ten Frank­fur­ter Aus­ga­be Tho­mas Manns und war von 2005 bis 2013 Mit­her­aus­ge­ber der Zeit­schrift wag­ner­spec­trum, de­ren Ku­ra­to­ri­um er nach wie vor an­ge­hört. In Bam­berg hat­te er zu­letzt 2019 über den Wag­ner­kult im Drit­ten Reich und „Die Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“ ge­spro­chen. Den Vor­trag über Wag­ners Ame­ri­ka wird er in ei­ner eng­li­schen Ver­si­on im Ja­nu­ar 2024 in Wa­shing­ton und im Fe­bru­ar in New York halten.

 

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