Johanna Dombois und ihr weitgreifender Vortrag vom 5. März „Wagnerstoffe – Wagners Stoffe“ fing beim Schlaf an und endete mit der Erkenntnis, dass Wagners Biographie eine „Ausfaltung seines Werks in der Zeit“ war [hier und im folgenden zitiert aus Dombois’ unveröffentlichtem Manuskript mit Dank an die Autorin].
Es ist leider und gerade bei Richard Wagner immer noch fast Usus, Person und Werk trennen zu wollen. Selbst ausgewiesene Fachleute, Musik- und Theaterwissenschaftler – von renommierten Wagner-Interpreten zu schweigen – benutzen diesen Kunstgriff schon deshalb gerne, weil man damit Wagners Kompositionen, seine Musikdramen verschont glaubt von seinem schwer erträglichen Antisemitismus und Rassismus. Was aber natürlich nicht funktioniert, wenn man genauer hinschaut! Ja, es funktioniert nicht mal bei einem vermeintlich harmloseren Sujet, bei seinen von vielen bestenfalls als peinlich empfundenen Schlafröcken, seiner Vorliebe für Samtkappen und seidene Beinkleider, Girlanden, Rüschen, Riechkissen und Volants.
Umso schöner, dass es auch Expertinnen wie Johanna Dombois gibt, die mit dieser Trennung von Leben und Werk aufräumen, scheinbar um die Ecke denken und tatsächlich aufs Gegenteil abzielen, aufs Leben als Werk. Bei ihrem eigens für Bamberg konzipierten Vortrag „Wagnerstoffe – Wagners Stoffe“ ist die vielfach begabte Literatin, Medien-/Theaterpraktikerin und Wagnerforscherin bewusst den entgegengesetzten Weg gegangen: Sie vollführte anhand ihres Themas eine spannende Reise vom „Werk Wagner“ hin zum „Mann Wagner“, eben weil aus ihrer Sicht nicht nur Lebensweltliches die Vorbedingung eines Kunstwerks ist:
„Wagners Werk ist nicht die abgespaltene ‚Außenseite‘ oder bloße Konsequenz der Wagnerschen Biographie, sondern so zuinnerst mit Wagners persönlichem, physischem und psychischem Gewebe verknüpft, dass man an den Punkt kommt, die Biographie geradewegs als idealistischen Entwurf des Werks bezeichnen zu wollen, das sich ‚ihn ausgedacht hat‘. Die Musikdramen nisten in Wagners Kleidern. Und umgekehrt. Und deshalb geht es heute um Nachtjacken und Schlafröcke, Posamenten und Volants und Diwandecken […], aber zuvor notwendig um das Umfeld, aus und in dem dies alles erscheint.“
In Punkt 1 des Vortrags – Zuschauerdramaturgie und Bühnenbau – griff Dombois vor allem auf Erkenntnisse aus ihrer Dissertation (2007 bei Peter Wapnewski, TU-Berlin) zurück: „Die ‚complicirte Ruhe‘. Richard Wagner und der Schlaf: Biographie – Musikästhetik – Festspieldramaturgie“. Der Schlaf wird hier „als Affekt in Wagners Biographie, als Metapher in seiner Kunst- und Musikästhetik und als Allegorie in der Festspieldramaturgie untersucht“:
„Die Ästhetik eines geträumten Lebens, zu dem Wagners Schlafröcke und auch alle sonstigen verfließenden Textilien gehören, entsteht schon weit vor der Bühne – im Bayreuther Zuschauerraum. Wagners Werk, speziell ‚Der Ring des Nibelungen‘ , ist in der Anlage Gesellschaftsanalyse und in der Absicht Gesellschaftsutopie. Die Topoi darin – das Sehen im Zwielicht, der Halbschlaf, das Träumen –, all diese Momente, die eigentlich kreatürliche, körperlich-kognitive Anlagen sind, waren bei Wagner von Anbeginn niemals Physiologie, sondern Dramaturgie und soziopolitische Praxis.“
Was unter Punkt 2 – Vorhang – Einkleidung des Werks – unschwer zu beweisen war und im Nachhinein ausführlich nachzulesen ist in dem von Johanna Dombois gemeinsam mit Richard Klein verfassten Buch „Richard Wagner und seine Medien“ von 2012 aus dem Verlag Klett-Cotta. Denn wenn sich der Vorhang im Festspielhaus öffnet, kommt buchstäblich ein ganz besonderes, als Wagner-Vorhang sogar noch nach heutiger DIN-Norm patentiertes großes Stück Stoff ins Spiel, in das „das Werk Wagners selbst eingekleidet ist“.
Mit Punkt 3 – Werke – verfließende Dramen – folgte die Untermauerung der These, dass Wagners Musikdrama und erst recht seine Tetralogie „in Wahrheit nicht aus dem Wasser geboren [ist], sondern aus dem Schlaf (dem Schlaf Wotans wie dem Wagners!)“:
„Genau genommen explodieren die Musikdramen vor Schlaf, so dass man sich eigentlich fragen muss, wie Handlung bei Wagner überhaupt floriert. Im ganzen ‚Ring‘ existiert keine einzige Szene, in der nicht der Schlaf ein Thema wäre, eingerechnet jener Sequenzen, in denen sich einzelne Figuren der Schwerkraft eines Traums oder einer Halluzination, der Hypnose oder dem Somnambulismus bewusst zu widersetzen suchen. Ich hatte es einmal durchgerechnet: 13 von insgesamt 22 handlungstragenden Figuren oder Figurengruppen sind hier affektiv oder metaphorisch dem Einzugsbereich des Schlafs überantwortet.“
Womit wir endlich bei Punkt 4, den Textilien wären – und damit dort, wo Dombois aufzeigt, warum der Stoffbegriff in zweifacher Hinsicht bei Wagner Bedeutung hat:
„Dabei gilt es zuerst, mit einem schattenhaft immer größer gewordenen, geradezu historischen Missverständnis aufzuräumen. Wagners engagierte oder exaltierte Vorliebe (wie man will) für Schlafröcke und Diwandecken, für Hausjacken aus Eiderdaunen, für weiche, fließende Stoffe, dämmernde Zimmer und zeltartige Interieurs wurde bisher als Form entweder eines unkontrollierten Luxusanspruchs oder, etwas gutmütiger, als Reaktion auf Hautkrankheiten oder aber aufklärerisch als Signal einer verdeckten Bi-, Homo- oder Transsexualität gedeutet; an letzterem hängt im Verbund mit der Luxusthese auch die alte, langweilige Fetischdebatte. Die spitzen Texte Daniel Spitzers, die tagebuchartigen Goldwag-Briefe sind für uns natürlich unschätzbar. Aber das Geschmäcklerische daran ist leider das Verbindliche geworden.“
Dombois hingegen glaubt, dass „die Requisiten des Schlafs bei Wagner viel eher eine Aura der ‚Künstlichkeit‘ im Sinne von ‚Herstellung‘ von Kunst generierten, die am Ende als Teil des Gesamtwerks gelesen werden muss.“ Darüber hinaus ist Wagners Kleidung wie jede Kleidung Informationsträger und lesbar wie Partituren: „Alle Kleider sind grundsätzlich Auffangformen, in denen sich viele Schichten gesellschaftlicher, also kollektiver Erfahrung zu einer textilen Manifestation verdichten.“
„Wagner hat formell die Auflösung der üblichen Herrentracht in das ihr gegenteilige Extrem betrieben. Kurz, das Leben Wagners ist nicht eigentlich voll von Verstößen gegen die Kleiderordnung seiner Zeit. Sondern voll von Gegeninterpretationen.“
Kleid und Werk – Kleid als Werk: In Punkt 5 ihres Vortrags subsumiert Dombois:
„Wenn man mit dem Handwerkszeug der Kostümkunde und Modetheorie auf Wagners Garderobe schaut, etwa auf die fast persiflageartige Zitation zeremonieller Faltenwürfe, die Reanimation gebauschter Ärmel und talarähnlicher Schultermäntel, das Verwässern der festen Formen und die Dominanz starker Farben, ja besonders die weiche, krempenlose Kappe (auch ‚Toque‘ genannt), die den Zylinder als Sinnbild des erstarrten Bürgertums ins negative Extrem herabsetzte, dann zeigt sich in Wagners Röcken eine unübersehbare Wiederauflage der altdeutschen Tracht zum einen und der französischen Revolutionsmode zum andern.
In diesem Sinn hat sich Wagner inmitten der angeblich so verspießerten Seidenwelt des Vasallen die Notwendigkeit zum Barrikadenkampf erhalten. Er hat sich die Revolution selbst erhalten, die nicht gekommen war, indem er sie buchstäblich ‚anzog‘, er hüllte sich in sie ein und hat sie auf diese Weise wirklich ‚weitergetragen‘. Und der ‚Pantoffelbürger‘, der ‚Pantoffelmoralist‘, der ‚Revolutionär im Schlafrock‘ – vielleicht sind dies alles Zuschreibungen, die auf Wagner bezogen ihren pejorativen Sinn verlieren. […] Wagners Stoffe waren in der Tat fließend – das Neue lag für ihn nicht unter allen Umständen in der Zukunft.“
Schließlich Punkt 6, Schluss/Vorhang. „Wagner sei nicht gesellschaftsfähig in diesem und jenem Morgenrock gewesen, mit dem er durch die Hotellobbys gestürmt sei. Falsch, denn gerade das eben war er: gesellschaftsfähig im Sinn einer denkbaren Utopie, welcher gesellschaftliche Umbildung und Befriedung vorauszugehen hatte, die er, Wagner, sich womöglich stellvertretend für alle auf den Leib schneidern ließ. […] Paul Bekker gehört zu denen, die schon früh (1924) die These vertraten, dass Wagners Leben nicht die Vorbedingung des Werk gewesen sei, sondern umgekehrt, dass dieses Leben geradewegs notwendiger Ausschuss des Werkes gewesen sei. Entwaffnend! Ich würde es nur ein wenig eleganter formulieren wollen, ich würde sagen: Wagners Biographie war eine Ausfaltung seines Werks in der Zeit.“
Bleibt erstens noch der Hinweis darauf, dass Bruno Köpp, Mitglied des RWV Bamberg aus der Schweiz und großzügiger Pate dieses Vortrags, die Referentin mit seinem zusätzlichen Geschenk – einem kleinen Stück Seidensatin aus dem Tribschener Haushalt der Wagners – eine unerwartete große Freude bereitet hat. Und zweitens mögen alle, die auch an der literarischen Sprache von Johanna Dombois Gefallen gefunden haben, sich den kleinen Prosaband „Rettungswesen“ aus dem Verlag Parasitenpresse (Köln 2018, 22023) zulegen.
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