Die Musikdramen nisten in Wagners Kleidern

Jo­han­na Dom­bo­is und ihr weit­grei­fen­der Vor­trag vom 5. März „Wag­ner­stof­fe – Wag­ners Stof­fe“ fing beim Schlaf an und en­de­te mit der Er­kennt­nis, dass Wag­ners Bio­gra­phie eine „Aus­fal­tung sei­nes Werks in der Zeit“ war [hier und im fol­gen­den zi­tiert aus Dom­bo­is’ un­ver­öf­fent­lich­tem  Ma­nu­skript mit Dank an die Autorin].

Jo­han­na Dom­bo­is bei ih­rem Vor­trag mit ei­ner zum The­ma pas­sen­den Wag­ner-Ka­ri­ka­tur von Ernst Be­ne­dikt Kietz aus dem Jahr 1850 – Foto: Ro­land Gröber

Es ist lei­der und ge­ra­de bei Ri­chard Wag­ner im­mer noch fast Usus, Per­son und Werk tren­nen zu wol­len. Selbst aus­ge­wie­se­ne Fach­leu­te, Mu­sik- und Thea­ter­wis­sen­schaft­ler – von re­nom­mier­ten Wag­ner-In­ter­pre­ten zu schwei­gen – be­nut­zen die­sen Kunst­griff schon des­halb ger­ne, weil man da­mit Wag­ners Kom­po­si­tio­nen, sei­ne Mu­sik­dra­men ver­schont glaubt von sei­nem schwer er­träg­li­chen An­ti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus. Was aber na­tür­lich nicht funk­tio­niert, wenn man ge­nau­er hin­schaut! Ja, es funk­tio­niert nicht mal bei ei­nem ver­meint­lich harm­lo­se­ren Su­jet, bei sei­nen von vie­len bes­ten­falls als pein­lich emp­fun­de­nen Schlaf­rö­cken, sei­ner Vor­lie­be für Samt­kap­pen und sei­de­ne Bein­klei­der, Gir­lan­den, Rü­schen, Riech­kis­sen und Volants.

Umso schö­ner, dass es auch Ex­per­tin­nen wie Jo­han­na Dom­bo­is gibt, die mit die­ser Tren­nung von Le­ben und Werk auf­räu­men, schein­bar um die Ecke den­ken und tat­säch­lich aufs Ge­gen­teil ab­zie­len, aufs Le­ben als Werk. Bei ih­rem ei­gens für Bam­berg kon­zi­pier­ten Vor­trag „Wag­ner­stof­fe – Wag­ners Stof­fe“ ist die viel­fach be­gab­te Li­te­ra­tin, Me­di­en-/Thea­ter­prak­ti­ke­rin und Wag­ner­for­sche­rin be­wusst den ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg ge­gan­gen: Sie voll­führ­te an­hand ih­res The­mas eine span­nen­de Rei­se vom „Werk Wag­ner“ hin zum „Mann Wag­ner“, eben weil aus ih­rer Sicht nicht nur Le­bens­welt­li­ches die Vor­be­din­gung ei­nes Kunst­werks ist:

„Wag­ners Werk ist nicht die ab­ge­spal­te­ne ‚Au­ßen­sei­te‘ oder blo­ße Kon­se­quenz der Wag­ner­schen Bio­gra­phie, son­dern so zu­in­nerst mit Wag­ners per­sön­li­chem, phy­si­schem und psy­chi­schem Ge­we­be ver­knüpft, dass man an den Punkt kommt, die Bio­gra­phie ge­ra­de­wegs als idea­lis­ti­schen Ent­wurf des Werks be­zeich­nen zu wol­len, das sich ‚ihn aus­ge­dacht hat‘. Die Mu­sik­dra­men nis­ten in Wag­ners Klei­dern. Und um­ge­kehrt. Und des­halb geht es heu­te um Nacht­ja­cken und Schlaf­rö­cke, Po­sa­men­ten und Vo­lants und Di­wande­cken […], aber zu­vor not­wen­dig um das Um­feld, aus und in dem dies al­les erscheint.“

Ri­chard Wag­ner 1876 in Trib­schen, por­trä­tiert von Ju­les Bon­net (Aus­schnitt) – Vor­la­ge: Gun­ther Bra­am, „Ri­chard Wag­ner in der zeit­ge­nös­si­schen Fotografie“

In Punkt 1 des Vor­trags – Zu­schau­er­dra­ma­tur­gie und Büh­nen­bau – griff Dom­bo­is vor al­lem auf Er­kennt­nis­se aus ih­rer Dis­ser­ta­ti­on (2007 bei Pe­ter Wapnew­s­ki, TU-Ber­lin) zu­rück: „Die ‚com­pli­cir­te Ruhe‘. Ri­chard Wag­ner und der Schlaf: Bio­gra­phie – Mu­sik­äs­the­tik – Fest­spiel­dra­ma­tur­gie“. Der Schlaf wird hier „als Af­fekt in Wag­ners Bio­gra­phie, als Me­ta­pher in sei­ner Kunst- und Mu­sik­äs­the­tik und als Al­le­go­rie in der Fest­spiel­dra­ma­tur­gie un­ter­sucht“:

„Die Äs­the­tik ei­nes ge­träum­ten Le­bens, zu dem Wag­ners Schlaf­rö­cke und auch alle sons­ti­gen ver­flie­ßen­den Tex­ti­li­en ge­hö­ren, ent­steht schon weit vor der Büh­ne – im Bay­reu­ther Zu­schau­er­raum. Wag­ners Werk, spe­zi­ell ‚Der Ring des Ni­be­lun­gen‘ , ist in der An­la­ge Ge­sell­schafts­ana­ly­se und in der Ab­sicht Ge­sell­schafts­uto­pie. Die To­poi dar­in – das Se­hen im Zwie­licht, der Halb­schlaf, das Träu­men –, all die­se Mo­men­te, die ei­gent­lich krea­tür­li­che, kör­per­lich-ko­gni­ti­ve An­la­gen sind, wa­ren bei Wag­ner von An­be­ginn nie­mals Phy­sio­lo­gie, son­dern Dra­ma­tur­gie und so­zio­po­li­ti­sche Pra­xis.“

Was un­ter Punkt 2 – Vor­hang – Ein­klei­dung des Werks – un­schwer zu be­wei­sen war und im Nach­hin­ein aus­führ­lich nach­zu­le­sen ist in dem von Jo­han­na Dom­bo­is ge­mein­sam mit Ri­chard Klein ver­fass­ten Buch „Ri­chard Wag­ner und sei­ne Me­di­en“ von 2012 aus dem Ver­lag Klett-Cot­ta. Denn wenn sich der Vor­hang im Fest­spiel­haus öff­net, kommt buch­stäb­lich ein ganz be­son­de­res, als Wag­ner-Vor­hang so­gar noch nach heu­ti­ger DIN-Norm pa­ten­tier­tes gro­ßes Stück Stoff ins Spiel, in das „das Werk Wag­ners selbst ein­ge­klei­det ist“.

Mit Punkt 3 – Wer­ke – ver­flie­ßen­de Dra­men – folg­te die Un­ter­maue­rung der The­se, dass Wag­ners Mu­sik­dra­ma und erst recht sei­ne Te­tra­lo­gie „in Wahr­heit nicht aus dem Was­ser ge­bo­ren [ist], son­dern aus dem Schlaf (dem Schlaf Wo­tans wie dem Wag­ners!)“:

„Ge­nau ge­nom­men ex­plo­die­ren die Mu­sik­dra­men vor Schlaf, so dass man sich ei­gent­lich fra­gen muss, wie Hand­lung bei Wag­ner über­haupt flo­riert. Im gan­zen ‚Ring‘ exis­tiert kei­ne ein­zi­ge Sze­ne, in der nicht der Schlaf ein The­ma wäre, ein­ge­rech­net je­ner Se­quen­zen, in de­nen sich ein­zel­ne Fi­gu­ren der Schwer­kraft ei­nes Traums oder ei­ner Hal­lu­zi­na­ti­on, der Hyp­no­se oder dem Som­nam­bu­lis­mus be­wusst zu wi­der­set­zen su­chen. Ich hat­te es ein­mal durch­ge­rech­net: 13 von ins­ge­samt 22 hand­lungs­tra­gen­den Fi­gu­ren oder Fi­gu­ren­grup­pen sind hier af­fek­tiv oder me­ta­pho­risch dem Ein­zugs­be­reich des Schlafs überantwortet.“

Jo­han­na Dom­bo­is – Foto: Ro­land Gröber

Wo­mit wir end­lich bei Punkt 4, den Tex­ti­li­en wä­ren – und da­mit dort, wo Dom­bo­is auf­zeigt, war­um der Stoff­be­griff in zwei­fa­cher Hin­sicht bei Wag­ner Be­deu­tung hat:

„Da­bei gilt es zu­erst, mit ei­nem schat­ten­haft im­mer grö­ßer ge­wor­de­nen, ge­ra­de­zu his­to­ri­schen Miss­ver­ständ­nis auf­zu­räu­men. Wag­ners en­ga­gier­te oder ex­al­tier­te Vor­lie­be (wie man will) für Schlaf­rö­cke und Di­wande­cken, für Haus­ja­cken aus Ei­der­dau­nen, für wei­che, flie­ßen­de Stof­fe, däm­mern­de Zim­mer und zelt­ar­ti­ge In­te­ri­eurs wur­de bis­her als Form ent­we­der ei­nes un­kon­trol­lier­ten Lu­xus­an­spruchs oder, et­was gut­mü­ti­ger, als Re­ak­ti­on auf Haut­krank­hei­ten oder aber auf­klä­re­risch als Si­gnal ei­ner ver­deck­ten Bi-, Homo- oder Trans­se­xua­li­tät ge­deu­tet; an letz­te­rem hängt im Ver­bund mit der Lu­xus­the­se auch die alte, lang­wei­li­ge Fe­tisch­de­bat­te. Die spit­zen Tex­te Da­ni­el Spit­zers, die ta­ge­buch­ar­ti­gen Gold­wag-Brie­fe sind für uns na­tür­lich un­schätz­bar. Aber das Ge­schmäck­le­ri­sche dar­an ist lei­der das Ver­bind­li­che geworden.“ 

Dom­bo­is hin­ge­gen glaubt, dass „die Re­qui­si­ten des Schlafs bei Wag­ner viel eher eine Aura der ‚Künst­lich­keit‘ im Sin­ne von ‚Her­stel­lung‘ von Kunst ge­ne­rier­ten, die am Ende als Teil des Ge­samt­werks ge­le­sen wer­den muss.“ Dar­über hin­aus ist Wag­ners Klei­dung wie jede Klei­dung In­for­ma­ti­ons­trä­ger und les­bar wie Par­ti­tu­ren: „Alle Klei­der sind grund­sätz­lich Auf­fang­for­men, in de­nen sich vie­le Schich­ten ge­sell­schaft­li­cher, also kol­lek­ti­ver Er­fah­rung zu ei­ner tex­ti­len Ma­ni­fes­ta­ti­on verdichten.“

„Wag­ner hat for­mell die Auf­lö­sung der üb­li­chen Her­ren­tracht in das ihr ge­gen­tei­li­ge Ex­trem be­trie­ben. Kurz, das Le­ben Wag­ners ist nicht ei­gent­lich voll von Ver­stö­ßen ge­gen die Klei­der­ord­nung sei­ner Zeit. Son­dern voll von Gegeninterpretationen.“

Rege Dis­kus­si­on nach dem Vor­trag im Kufa-Saal. Im Foto ste­hend Bar­ba­ra Fi­scher-Koh­nert vom Vor­stand des RWV Bam­berg – Foto: Ro­land Gröber

Kleid und Werk – Kleid als Werk: In Punkt 5 ih­res Vor­trags sub­su­miert Dombois:

„Wenn man mit dem Hand­werks­zeug der Kos­tüm­kun­de und Mo­de­theo­rie auf Wag­ners Gar­de­ro­be schaut, etwa auf die fast per­si­fla­ge­ar­ti­ge Zi­ta­ti­on ze­re­mo­ni­el­ler Fal­ten­wür­fe, die Re­ani­ma­ti­on ge­bausch­ter Är­mel und ta­lar­ähn­li­cher Schul­ter­män­tel, das Ver­wäs­sern der fes­ten For­men und die Do­mi­nanz star­ker Far­ben, ja be­son­ders die wei­che, krem­pen­lo­se Kap­pe (auch ‚To­que‘ ge­nannt), die den Zy­lin­der als Sinn­bild des er­starr­ten Bür­ger­tums ins ne­ga­ti­ve Ex­trem her­ab­setz­te, dann zeigt sich in Wag­ners Rö­cken eine un­über­seh­ba­re Wie­der­auf­la­ge der alt­deut­schen Tracht zum ei­nen und der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­ons­mo­de zum andern.

In die­sem Sinn hat sich Wag­ner in­mit­ten der an­geb­lich so ver­spie­ßer­ten Sei­den­welt des Va­sal­len die Not­wen­dig­keit zum Bar­ri­ka­den­kampf er­hal­ten. Er hat sich die Re­vo­lu­ti­on selbst er­hal­ten, die nicht ge­kom­men war, in­dem er sie buch­stäb­lich ‚an­zog‘, er hüll­te sich in sie ein und hat sie auf die­se Wei­se wirk­lich ‚wei­ter­ge­tra­gen‘. Und der Pan­tof­fel­bür­ger, der ‚Pan­tof­fel­mo­ra­list‘, der ‚Re­vo­lu­tio­när im Schlaf­rock‘ – viel­leicht sind dies al­les Zu­schrei­bun­gen, die auf Wag­ner be­zo­gen ih­ren pe­jo­ra­ti­ven Sinn ver­lie­ren. […] Wag­ners Stof­fe wa­ren in der Tat flie­ßend – das Neue lag für ihn nicht un­ter al­len Um­stän­den in der Zukunft.“

Ein für Wag­ners Ge­schmack ty­pi­scher Sei­den­sa­tin aus sei­nem Trib­sche­ner Haus­halt –  Foto: Mo­ni­ka Beer

Schließ­lich Punkt 6, Schluss/​Vorhang. „Wag­ner sei nicht ge­sell­schafts­fä­hig in die­sem und je­nem Mor­gen­rock ge­we­sen, mit dem er durch die Ho­tel­lob­bys ge­stürmt sei. Falsch, denn ge­ra­de das eben war er: ge­sell­schafts­fä­hig im Sinn ei­ner denk­ba­ren Uto­pie, wel­cher ge­sell­schaft­li­che Um­bil­dung und Be­frie­dung vor­aus­zu­ge­hen hat­te, die er, Wag­ner, sich wo­mög­lich stell­ver­tre­tend für alle auf den Leib schnei­dern ließ. […] Paul Bek­ker ge­hört zu de­nen, die schon früh (1924) die The­se ver­tra­ten, dass Wag­ners Le­ben nicht die Vor­be­din­gung des Werk ge­we­sen sei, son­dern um­ge­kehrt, dass die­ses Le­ben ge­ra­de­wegs not­wen­di­ger Aus­schuss des Wer­kes ge­we­sen sei. Ent­waf­fend! Ich wür­de es nur ein we­nig ele­gan­ter for­mu­lie­ren wol­len, ich wür­de sa­gen: Wag­ners Bio­gra­phie war eine Aus­fal­tung sei­nes Werks in der Zeit.“

Bleibt ers­tens noch der Hin­weis dar­auf, dass Bru­no Köpp, Mit­glied des RWV Bam­berg aus der Schweiz und groß­zü­gi­ger Pate die­ses Vor­trags, die Re­fe­ren­tin mit sei­nem zu­sätz­li­chen Ge­schenk – ei­nem klei­nen Stück Sei­den­sa­tin aus dem Trib­sche­ner Haus­halt der Wag­ners – eine un­er­war­te­te gro­ße Freu­de be­rei­tet hat. Und zwei­tens mö­gen alle, die auch an der li­te­ra­ri­schen Spra­che von Jo­han­na Dom­bo­is Ge­fal­len ge­fun­den ha­ben, sich den klei­nen Pro­sa­band „Ret­tungs­we­sen“ aus dem Ver­lag Pa­ra­si­ten­pres­se (Köln 2018, 22023) zu­le­gen.

Nach dem Dank an Vor­trags­pa­ten Bru­no Köpp und der Stoff­über­ga­be von links Mo­ni­ka Beer und Jo­han­na Dom­bo­is – Foto: Ro­land Gröber

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