Ob eine Expedition gelingt – auch das erfährt man in der neuen Doppeloper South Pole von Miroslav Srnka –, hängt unter anderem von der Qualität der Vorbereitung ab. Fehlentscheidungen im Vorfeld können sich bitter rächen, ja tödlich sein. So gesehen hat Nikolaus Bachler, Expeditionsleiter der South Pole-Uraufführung an der Bayerischen Staatsoper, nichts falsch, sondern fast alles richtig gemacht. Denn das Event, das diese Uraufführung war und ist, kommt nicht von ungefähr. Schon lange vorher wurden Medien und Publikum nach allen Regeln der Umwerbungskunst neugierig und wach getrommelt: mit erstklassigen und prominenten Mitwirkenden, mit einem superben Begleitprogramm, das vor allem eines suggerierte: Wer über zeitgenössische Opernkunst reden will, kommt an München und seinem aktuellen Auftragswerk nicht vorbei. Was eindrucksvoll funktionierte. Zur Premiere am 31. Januar 2016 waren alle fünf Vorstellungen der ersten Aufführungsserie im Nationaltheater mit seinen rund 2100 Plätzen schon vorab ausverkauft.
Und das bei einem noch weithin unbekannten tschechischen Komponisten, dessen sperriger Name sich bei uns spontan der Aussprache verschließt. Immerhin war Miroslav Srnka in München kein unbeschriebenes Notenblatt mehr. Mit der Kammeroper Make No Noise, ebenfalls im englischsprachigen Libretto des australischen Dramatikers Tom Holloway, gab er bei den Münchner Opernfestspielen 2011 seine musikalische Visitenkarte ab. Das erste gemeinsame abendfüllende Werk South Pole nennt sich Doppeloper – und das heißt, dass der für ein Team tödlich endende Wettlauf des Norwegers Roald Amundsen und des Briten Robert Falcon Scott zum Südpol im Jahr 1911 tatsächlich parallel dargestellt wird, im Geschehen auf der Bühne und, was nicht so einfach ist, immer wieder auch in der Musik.
Mal sind es unheilvoll dräuende, mal neutral vorbeiziehende, mal fahl aufleuchtende, mal irisierende Klangwolken, die zuweilen mit wirkungsmächtigen Zusammenballungen aufwarten und deren Zusammensetzung aus lauter mikroskopischen Eiskristallen man bis ins kleinste Detail nachvollziehen kann. Der riesige, von Kirill Petrenko transparent und souverän geführte Orchesterapparat mit den mehrfach geteilten Streichern, solistischen Bläsergruppen, Harfe, Akkordeon, Klavier und jede Menge Schlagzeug – Ratschen, Rainmakers, Eirasseln, Sprungfedern, Schmirgelpapier und Eierschneider inklusive – produziert eine schier endlose Frost-, Winter-, Sturm- und Windmusik, die zwar eher selten aufbraust, sich aber mit Nachdruck unter die (Gänse-)Haut zu setzen weiß. Sie fordert das genaue, das differenzierende Hinhören.
Was sich auch am Gesang ablesen lässt, der schon in der Besetzungsliste die kompositorische Symmetrie spiegelt: Scott (leider sängerisch überfordert und darstellerisch überdreht: Rolando Villazón) und seine vier Begleiter sind allesamt Tenöre, die dazugehörigen, durch Statisten dargestellten Ponys sind musikalisch durch sechs Hörner auf der Bühne präsent; das von Amundsen (rundherum überzeugend: Thomas Hampson) angeführte Team besteht aus fünf Baritonisten, während die exakt geführten Hunde durch sechs Klarinetten ihre Stimme bekommen. Der teils elektronisch verstärkte, überwiegend in sängerfreundlicher Mittellage gesetzte oratorische Sprechgesang entwickelt sich bei den zwei Hauptfiguren erst im Verlauf des gut zweistündigen Abends spürbar auseinander, während die jeweils exzellent ausgewählten Begleiter von vornherein sehr unterschiedliche Stimmfarben mitbringen.
Die sängerischen Glanzlichter in dieser ruhm- und rekordsüchtigen Männerwelt sind von vorneherein irreal: In ihrer selbst gewählten Hölle aus Eis, Kälte, Schnee und gleißendem Licht imaginieren die Polarforscher wie von selbst warme, liebende und mahnende Frauenfiguren – Scott seine offenbar dominante Ehefrau Kathleen (dunkel leuchtend: Tara Erraught), der unverheiratete Amundsen die sogenannte Landlady (treffsicher in höchsten Höhen: Mojca Erdmann), deren Selbstmord er nicht verhindert hat. Das führt zu einem unglaublich suggestiven Quartett, in dem die Zeit endlich still zu stehen scheint, auch wenn der äußere Wettlauf unerbittlich weiter geht, in einem subtilen Traum-Duett gipfelt und schließlich endet, wie er begonnen hat: mit dem monotonen Dah-di-di-dit der gemorsten Telegramme, die die an erst amüsanten, dann zunehmend in jeder Hinsicht extremen Grenzsituationen nicht arme Handlung rahmen.
Ein Glücksgriff war, dass für die Inszenierung Hans Neuenfels gewonnen werden konnte. Der Regietheater-Altmeister und sein Team (Bühne: Katrin Connan, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer, Licht: Stefan Bolliger) haben die zweifelhafte Eroberung des Südpols in eindringliche Bilder und in eine Körpersprache gefasst, die das richtige Maß zwischen Abstraktion und Bühnenrealismus finden. Großer Jubel und ein Fragezeichen ganz am Schluss, das zeitversetzt auch in der TV-Übertragung auf Arte zu erleben war: Warum schlug der 40-jährige Komponist die Hände vors Gesicht, als er zum Schlussapplaus kam? War das echte oder doch nur inszenierte Bescheidenheit?
Besuchte Premiere am 31. Januar 2016, weitere, noch nicht ausverkaufte Aufführung am 5. Juli 2016, Kartenvorverkauf: Telefon 089/21 85 19 20, Infos unter www.staatsoper.de
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