Otello als traumatisierter Kriegsheimkehrer

Amé­lie Nier­mey­er in­sze­niert Ver­dis „Otel­lo“ an der Baye­ri­schen Staats­oper mit Jo­nas Kauf­mann, Anja Har­te­ros und Ger­lad Fin­ley ge­gen die Rollenklischees.

Na­tür­lich ist das Pu­bli­kum zu­nächst be­frem­det. Da steht das ak­tu­el­le „Traum­paar der Oper“ auf der Büh­ne, aber die Re­gie greift das nicht auf. Son­dern the­ma­ti­siert et­was Un­er­war­te­tes: Giu­sep­pe Ver­dis Otel­lo ist in der Münch­ner Neu­in­sze­nie­rung zwar kein Mohr, wie es im Text­buch nach Shake­speare heißt. Aber er ist ein trau­ma­ti­sier­ter Kriegs­held, der in der Welt sei­ner durch­aus selbst­be­wuss­ten Frau Des­de­mo­na nicht klar kommt.

Mit ih­rer de­tail­ge­nau­en „Otello“-Neuinszenierung bricht Re­gis­seu­rin Amé­lie Nier­mey­er die Rol­len­kli­schees gleich in mehr­fa­cher Hin­sicht auf. Ein Jo­nas Kauf­mann ohne schwar­ze Lo­cken­pracht, der als Ti­tel­fi­gur un­si­cher wirkt, an sich her­um­nes­telt und nicht weiß, wo­hin mit sei­nen Hän­den in sei­ner grau­en Ar­beits­uni­form, ist eben­so ge­wöh­nungs­be­dürf­tig wie eine Des­de­mo­na, die in der Ver­kör­pe­rung von Anja Har­te­ros nichts zu tun hat mit dem gern vor­ge­führ­ten Un­schulds­lamm (Kos­tü­me: An­ne­lies Vanlaere).

Was die bei­den zei­gen, sind Sze­nen ei­ner Ehe, die trotz al­ler Lie­be schon vor dem Auf­tre­ten von Jago, dem in­tri­gan­ten Ei­fer­suchts­draht­zie­her, auf wack­li­gen Fü­ßen stand. Der Or­kan, mit dem die Oper be­ginnt, spie­gelt sich op­tisch im Ban­gen der Frau in ih­rem karg mö­blier­ten Wohn- und Schlaf­ein­heits­raum, den der aus Lich­ten­fels stam­men­de Büh­nen­bild­ner Chris­ti­an Schmidt Ge­mäl­den von Vil­helm Ham­mershoi nach­emp­fun­den und gleich mehr­fach auf die Büh­ne ge­stellt hat: im sta­ti­schen Groß­for­mat, et­was klei­ner und be­weg­lich so­wie in Pro­jek­tio­nen (Vi­deo Phil­ipp Batereau).

Die trotz di­ver­ser Ka­min­feu­er eher küh­le, von Olaf Win­ter su­perb be­leuch­te­te Bild­äs­the­tik – hier liegt nicht nur eine Be­zie­hung auf dem Se­zier­tisch – geht wun­der­bar auf, weil die mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­ti­on all die Lei­den­schaf­ten ent­fes­selt, die man von Ver­dis vor­letz­tem Meis­ter­werk er­war­ten kann. Di­ri­gent Ki­rill Pe­tren­ko hat nicht nur mit den So­lis­ten hör­bar Fein­ar­beit ge­leis­tet, son­dern rea­li­siert mit dem Staats­or­ches­ter und dem von Jörn Hin­nerk And­re­sen ein­stu­dier­ten Staats­opern­chor ein psy­cho­lo­gisch span­nen­des Mu­sik­dra­ma und Kammerspiel.

Der Di­ri­gent lässt die viel­fäl­tigs­ten Klang­far­ben auf­schei­nen, ohne je dar­in zu schwel­gen, wagt auch Schrä­ges und dy­na­mi­sche Kon­tras­te, die ih­res glei­chen su­chen. Schmer­zend laut kann das sein, aber häu­fi­ger und nicht nur in den So­lis­ten­stim­men so lei­se, so bei­sei­te oder so nach in­nen ge­spro­chen, dass man un­mit­tel­bar nach­emp­fin­det, wor­um es geht. Pe­tren­kos   mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­ti­on ist so be­zwin­gend, dass kein ein­zi­ger Zwi­schen­bei­fall die be­such­te zwei­te Vor­stel­lung unterbrach.

Auch nicht nach dem be­rühm­ten Cre­do Ja­gos, das an die­sem Abend die wohl größ­te sän­ge­ri­sche Leis­tung war. Der ka­na­di­sche Ba­ri­ton Ge­rald Fin­ley er­wies sich als der Star des Abends, weil er nicht nur dar­stel­le­risch, son­dern auch stimm­lich über­zeug­te, ob­wohl ihm  böse Bas­ses­schwär­ze nicht ge­ge­ben ist. Die von der Re­gie be­ton­te Ge­bro­chen­heit der Otel­lo-Fi­gur kommt Jo­nas Kauf­manns Ge­sang ent­ge­gen, der vor al­lem die lei­sen und noch lei­se­ren Stel­len aus­kos­tet und mit sei­ner dun­kel tim­brier­ten Stim­me auch te­no­ral zu glän­zen weiß.

Sei­ne Traum­paar-Part­ne­rin Anja Har­te­ros ist nicht nur re­gie­lich eine rei­fe Des­de­mo­na – stimm­lich eine viel­leicht schon zu rei­fe, die bei der Auf­füh­rung am Mitt­woch erst in der zwei­ten Hälf­te zur ge­wohn­ten In­to­na­ti­ons­klar­heit und Über­zeu­gungs­kraft fand. Ein Son­der­lob ge­bührt dem klei­nen Kin­der­chor in der wun­der­bar in­sze­nier­ten Hul­di­gungs­sze­ne des zwei­ten Akts, die die sich an­kün­di­gen­de Ka­ta­stro­phe sinn­fäl­lig vorwegnimmt.

Alle wei­te­ren So­lis­ten bie­ten sän­ger­dar­stel­le­risch Staats­opern­ni­veau. Die ers­te Vor­stel­lungs­se­rie der „Otello“-Neuinszenierung mit Kauf­mann und Har­te­ros war im Nu rest­los aus­ver­kauft. Ak­tu­ell kön­nen Opern­freun­de sich den­noch ei­nen Ein­blick ver­schaf­fen: Die Auf­füh­rung am 2. De­zem­ber wird ab 19 Uhr un­ter www​.staats​oper​.de im Live­stream über­tra­gen und kann be­reits ab 12 Uhr in­ner­halb von 24 Stun­den als Vi­deo on de­mand kos­ten­los ab­ge­ru­fen wer­den. Die Pre­mie­ren­vor­stel­lung vom 23. No­vem­ber kann man bis 24. De­zem­ber au­ßer­dem auf BR Klas­sik nach­hö­ren. Alle Fo­tos: Wil­fried Hösl

Pre­mie­re am 23. No­vem­ber 2018, be­such­te zwei­te Vor­stel­lung am 28. No­vem­ber, Erst­ver­öf­fent­li­chung der Druck­ver­si­on im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags am1./2. De­zem­ber 2018

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