Coronatauglicher Chor?

Die kra­chen­de, nein: bo­den­lo­se Nie­der­la­ge der deut­schen Fuß­ball­na­tio­nal­mann­schaft ges­tern hat mich wie von un­ge­fähr an die Co­ro­na-Maß­nah­men-Sit­zun­gen der jüngs­ten Zeit den­ken las­sen. Könn­ten die Da­men und Her­ren Mi­nis­ter­prä­si­den­ten samt Bun­des­trai­ne­rin An­ge­la Mer­kel viel­leicht dar­aus ler­nen, dass es nicht un­be­dingt dar­auf an­kommt, in­di­vi­du­el­le Vor­lie­ben und Ta­len­te zu de­mons­trie­ren, son­dern auf Team­work, auf gute Kom­mu­ni­ka­ti­on, bes­se­re Zu­sam­men­ar­beit und vor al­lem auch auf ge­schlos­se­nes Auftreten?

Hät­te Ri­chard Wag­ner ver­mut­lich nicht viel an­ders ge­se­hen. Schrieb er doch am 26. Mai 1854 an den Chor­lei­ter und Di­ri­gen­ten Jo­hann Bap­tist Ha­gen (1818–1870), der mit dem Wies­ba­de­ner Opern­en­sem­ble eine Auf­füh­rung des „Flie­gen­den Hol­län­ders“ vor­be­rei­te­te, fol­gen­den Hin­weis zur Rea­li­sie­rung des Ge­spens­ter­chors im 3. Akt:

Las­sen Sie die Mann­schaft des flie­gen­den Hol­län­der von den en­er­gischs­ten Sän­gern sin­gen; da es nicht vie­le sein kön­nen (denn sie müs­sen alle auf dem Schif­fe sein), so bit­te ich Sie auch, den Ge­sang meis­tens auf ein „Uni­so­no“ zu re­du­ci­ren, da­mit er durch­schnei­den­de Kraft be­kommt. Nur dann, wenn man auch die Text­wor­te deut­lich ver­steht, kann die rech­te Wir­kung her­aus­kom­men. Wenn der Ma­schi­nist nicht ge­nug er­fin­den kann, um den Spuk wäh­rend sei­ner Dau­er im­mer zu stei­gern, so kür­zen Sie; nichts schreck­li­cher, als eine lang­wei­li­ge Aufregung.

Das klingt fast schon nach ei­ner co­ro­nat­aug­li­chen Lö­sung, oder? Und ähn­lich der Rat­schlag vom 28. Au­gust 1854 an den Kom­po­nis­ten und Ka­pell­meis­ter Gus­tav Schmidt (1816–1882), der im sel­ben Jahr in Frank­furt eben­falls ei­nen „Hol­län­der“ her­aus­brin­gen sollte:

Wenn Sie an den fl. Hol­län­der ge­hen soll­ten, ehe wir uns ein­mal wie­der be­sprä­chen, so gebe ich Ih­nen in Be­zug auf die Spuck-Sce­ne im 3ten Akt fol­gen­den Rath. Wenn Sie nicht Cho­ris­ten und Raum ge­nug ha­ben, um die Mann­schaft des Ge­spens­ter­schif­fes sehr stark zu be­set­zen, so wäh­len Sie nur eine An­zahl be­son­ders gu­ter und en­er­gisch aus­spre­chen­der Sän­ger aus, und ar­ran­gi­ren Sie für die­se die Haupt­stel­len (fast al­les – aus­ser der Rufe) im Uni­so­no. Es ist wich­tig, dass die­ser Ge­sang nicht etwa zur Brum­me­rei wird, son­dern dass gra­de der wil­de Text sehr deut­lich und scharf ver­stan­den wird. Wenn der Spuck (äus­ser­lich – durch Hül­fe des Ma­schi­nis­ten) nicht im fort­wäh­ren­den Wach­sen aus­fällt, so kür­zen Sie – nur hier kei­ne Län­ge, wenn nichts vorfällt.

Man be­ach­te, dass Wag­ner not­falls Kür­zun­gen gut­hei­ßen, ja ge­wis­ser­ma­ßen auf sich sel­ber spu­cken konn­te … Wenn man zum Bei­spiel sieht, wie we­nig Platz auf den Schif­fen in der der Ber­li­ner In­sze­nie­rung von 1909 war, ver­steht man war­um. „Auf­fäl­lig das Miß­ver­hält­nis zwi­schen Schiffs­auf­bau­ten, Mas­ten und Ta­ke­la­ge, das ewi­ge Pro­blem al­ler rea­lis­ti­schen Hol­län­der-In­sze­nie­run­gen“, schreibt denn auch Os­wald Ge­org Bau­er in sei­nem Stan­dard­werk „Ri­chard Wag­ner. Die Büh­nen­wer­ke von der Ur­auf­füh­rung bis heu­te“ (Pro­py­lä­en Ver­lag 1982). Na denn, sau­se Sturm­wind, heu­le zu!

P.S. Falls Sie es noch nicht ent­deckt ha­ben: Mehr­fach wö­chent­lich su­che ich im Co­ro­na-Ta­ge­buch mit Links und Tipps wich­ti­ge Nach­rich­ten aus der co­ro­na­ge­plag­ten Kul­tur­welt aus und lie­fe­re eine um­fas­sen­de Über­sicht zu den über­wie­gend kos­ten­lo­sen Opernstreams.

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