Am 21. November 1874 vollendete Richard Wagner in Wahnfried die Partitur der „Götterdämmerung“ und damit der kompletten „Ring“-Tetralogie.
Vom 21. November 1874 existiert neben der Partitur selbst offenbar nur noch eine Primärquelle: der Eintrag ins Tagebuch von Cosima Wagner. Sie nahm ihre regelmäßigen Notizen danach übrigens erst am 3. Dezember wieder auf und schrieb: „Seit diesem Tag habe ich nicht wieder in mein Tagebuch schreiben können, war zu erschüttert. Abends, nachdem ich die Zeilen niedergeschrieben, kam R., umarmte mich und meinte, wir liebten uns zu heftig, dies verursache unsere Leiden.“ Hier Cosimas Schilderung:
Sonnabend 21ten [November 1874] Dreifach heiliger, denkwürdiger Tag! Gegen die Mittagsstunde ruft mir R. hinauf, ich möchte ihm die Zeitungen hinabreichen; da er mir gestern geklagt, wie angestrengt er sei, und noch versichert, er würde erst Sonntag fertig, vermeinte ich, er könne vor Müdigkeit nicht mehr arbeiten, scheu wich ich der Frage aus; um ihn zu zerstreuen, warf ich ihm den eben erhaltenen Brief des Vaters hin, vermeinend – da er freundlich in Bezug auf unsere Reise nach Pest war – ihn zu zerstreuen. Es läutet zu Mittag, ich treffe ihn, den Brief lesend, er verlangt Erklärungen von mir, ich sage ihm, was ich hierüber zu antworten gedenke, vermeide mit Absicht, auf das Partiturblatt zu blicken, um ihn nicht zu kränken. Gekränkt zeigt er mir, es sei vollendet, und sagt bitter zu mir: Wenn ein Brief des Vaters käme, sei alle Teilnahme für ihn, alles weggewischt – ich unterdrücke den Schmerz des Mittags, doch wie R. nachher die bittre Klage wiederholt, so muß ich in Tränen ausbrechen und weine noch jetzt, indem ich dies schreibe. So ist mir denn diese höchste Freude geraubt worden, und gewiß nicht durch die schlimmsten Regungen in mir! „Daß wissend würde ein Weib.“ Daß ich unter Schmerzen mein Leben diesem Werke geweiht habe, erwarb mir nicht das Recht, seine Vollendung in Freude zu feiern. So feiere ich sie im Schmerze, segne das hehre, wundervolle Werk mit meinen Tränen und danke es dem argen Gott, welcher mir auferlegte, diese Vollendung zuerst durch meinen Schmerz zu sühnen. Wem ihn sagen, wem ihn klagen diesen Schmerz, gegen R. kann ich nur schweigen, diesen Blättern vertraue ich es an, meinem Siegfried, sie mögen ihn lehren: keinen Groll, keinen Haß, grenzenloses Mitleid mit dem armseligsten Geschöpf, dem Menschen. Und so freue ich mich meines Schmerzes und falte dankbar die Hände. – Was mir ihn verhängte, war nichts Übles, ihn von ganzer Seele hinzunehmen ohne Groll gegen das Los, ohne Vorwurf gegen irgendeinen, bleibt meine Stütze. – Mögen andere Schmerzen durch diesen einen, so unaussprechlichen gesühnt sein. Die Kinder sehen mich weinen, weinen mit, sind bald getröstet. R. geht zur Ruhe mit einem letzten bittren Wort, ich suche nach Tristanischen Klängen auf dem Klavier; jedes Thema ist aber zu herb für meine Stimmung, ich kann nur in mich versinken, beten, anbeten! Wie könnte ich weihevoller diesen Tag begehen! Wie könnte ich anders danken als durch Vernichtung einer jeden Regung zum persönlichen Sein: Sei mir gegrüßt, Tag des Ereignisses, sei mir gegrüßt, Tag der Erfüllung, sollte der Genius so hoch seinen Flug vollenden, was durfte das arme Weib? In Liebe und Begeisterung leiden.
Das Brünnhilden-Zitat „Daß wissend würde ein Weib“ passt übrigens vorzüglich zum 21. November 2020: Heute feiert die feministische Musikwissenschaftlerin Eva Rieger ihren 80. Geburtstag, die vor über vierzig Jahren in ihrem Buch „Frau, Musik und Männerherrschaft“ erstmals ausführlich beschrieben hat, wie Frauen im Musikbetrieb, das heißt in der Musikpädagogik, in der Musikwissenschaft und in der Musikausübung, systematisch verdrängt und ausgeschlossen werden. Unter ihren bisherigen Veröffentlichungen sind etliche Wagner-Titel, darunter „Minna und Richard Wagner. Stationen einer Liebe“ 2003, „Leuchtende Liebe, lachender Tod. Richard Wagners Bild der Frau im Spiegel seiner Musik“ 2009, „Ein Platz für Götter. Richard Wagners Wanderungen in der Schweiz“ (mit Hiltrud Schroeder) 2009, „Friedelind Wagner. Die rebellische Enkelin Richard Wagners“ 2012. Ihr jüngstes Buchprojekt (gemeinsam mit Wagner-Urenkelin Dagny Beidler) über Richard Wagners Tochter Isolde ist in Vorbereitung; Rieger und Beidler-Hablützel waren übrigens 2016 als Referentinnen zu Gast bei uns in Bamberg und sprachen über die Wagner-Freundin Malwida von Meysenbug. Ein tolles aktuelles Interview mit Eva Rieger gibt es in der F.A.Z. zu lesen, und einen weiteren Beitrag in diesem Blog, der sich mit Wissen aus Eva Riegers Buch „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ speist.
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