Unsere Stipendiatin Marlene Lou Kleinerüschkamp hat, wie es sich für eine Literaturwissenschaftlerin gehört, ihre Eindrücke von den Stipendiatentagen für uns auch sprachlich faszinierend zusammengefasst.
Montag – Vorabend
Ein schlichtes Gebäude, davor ein paar junge Menschen. Man grüßt sich, weiß man doch, auch wenn man sich nicht kennt, dass hier alle zusammengehören. Die Woche beginnt mit dem Fränkischen Abend. Als Wahl-Bambergerin bin ich gespannt, noch etwas Neues über meine Wahlheimat zu erfahren. Wird es wohl fränkischen Tanz geben, fränkische Dialekte, eine hitzige Debatte zwischen Vertretern Wein- und Bier-Frankens? Ich betrete den kleinen Innenhof, der mit Bierbänken und –tischen versehen und bereits voller Menschen ist. Schnell verstehe ich: Kultur ist am Vorabend auf das Wesentliche reduziert: es gibt ein Bayreuther Kulturgut: Wörscht – mit langem „ö“; für die Vegetarier/-innen Laugenstangen. Ich schließe mich zwei jungen Frauen an, die etwas abseits aus Platzmangel auf den breiten Fenstersimsen sitzen. Die eine studiert Gitarre und Geige und seit neuestem auch Gesang, die andere ist Sopransängerin. Eine neue Welt tut sich mir auf. An diesem Abend lerne ich spanische, italienische, süd-koreanische, schwedische und natürlich auch deutsche Stipendiat/-innen kennen, sie studieren Gesang, Klavier, Korrepetition, Komposition, Dirigat. Während der ersten Unterhaltung werfen sie sich Zitate aus Libretti zu und stimmen Arien an, um sich über bekannte Stücke zu unterhalten, viel öfter noch, um einen Scherz zu machen. Ich fühle mich, wie in einem Zoo voll der exotischsten Tiere, ich lerne wundervolle Menschen kennen, die ich sonst nur vom Zuschauerraum aus sehen würde. Gleichzeitig erlebe ich ein unerwartetes Interesse an meinen eigenen Fächern, Germanistik und Anglistik. Mein für mich so gewöhnliches Studium erscheint den anderen wiederum fremdartig und neu und ein begeisterter Austausch entsteht. Mit meiner so neu gefundenen Gruppe bleibe ich bis ein Uhr nachts im Hof sitzen und als die anderen noch mit einer Flasche Wein auf die angrenzenden Felder ziehen wollen, werde ich von anderen Nachteulen nach Hause gefahren, u.a. von Andreas Hörl, den ich bereits am nächsten Abend auf der Bühne des Festspielhauses als Meistersinger in den Meistersingern wiedersehen werde.
Dienstag – 1. Akt
Walhall-Lounge, klingt schon mal gut. In Sichtweite des Festspielhauses, auf der nächsten Hügelkuppe, findet der erste von mehreren Empfängen dieser Woche statt. Bei Sonnenschein und Apfelschorle sprechen unter anderem Stipendien-Geschäftsführer Dr. Stephan Specht und Festspielhaus-Geschäftsführerin Katharina Wagner. Letztere scheint es eilig zu haben. Künstlerisch ganz in schwarz gekleidet und mit einer gewaltigen, schwarzen Sonnenbrillen auf der Nase, obwohl ihr die Sonne im Rücken steht, spricht sie kurz und trotz der Kürze mit vielen Wortwiederholungen. Vom hastigen Aufbruch kann sie durch ein Foto gerade noch aufgehalten werden. Anschließend werden wir in Gruppen durch das Festspielhaus geführt. Neben zahlreichen interessanten und wissenswerten Details über die Architektur, die der Akustik dienende Hohlräume, die den Finanzen geschuldete ungewöhnliche Holzverkleidung, den Steinboden im Foyer, der einen fließenden Übergang zu den Pflastersteinen vor dem Haus bildete, ist der Besuch des Orchestergrabens das unübertroffene Highlight der Rundführung. Sechs breite Stufen führen in die Tiefe der hintersten Reihe, von der aus der Kopf des Dirigenten nur noch zu sehen ist, weil dieser auf einem Hochstuhl sitzt, anstatt zu stehen. Die unglaubliche Akustik wird uns von hier unten erklärt: wie die Orchestermusik hoch zum Dirigenten, dann auf die Bühne und zuletzt in den Zuschauerraum gelangt, so dass ein akustisches Zickzackmuster entsteht. Auf der Bühne werden gerade Requisiten aufgebaut, als ich mich auf den Dirigentenstuhl setze. Erhaben und unwirklich scheint dieser Überblick über die tiefe Schwärze des Orchestergrabens und die helle Weite der Bühne vor und über mir.
„Die Meistersinger von Nürnberg“
Der Meistersinger-Aufführung, als die diesjährige Neuinszenierung im Grunde das Opern-Highlight der Woche, gehe ich sehr skeptisch entgegen. Ich hatte bereits Fotos des 1. Akts gesehen, dem Original-Wagnerclan in heimeliger Spießigkeit des Wahnfriedszuhauses. Dann höre ich auch noch, dass die Meistersinger-Darsteller in mittelalterlicher Tracht daherkommen würde und bin vollends verschreckt: sollte dies etwa eine naturalistische, Wagner-beweihräuchernde Inszenierung werden? Einzig der Kommentar meines Sitznachbarn unmittelbar vor Aufführungsbeginn, dass in einer Szene die Nürnberger Prozesse dargestellt würden, gibt mir etwas – verwirrte – Hoffnung.
Der Vorhang hebt sich und noch bevor sich historistische Flair ausbreiten kann, werden ich und wir alle vor den heimischen Fernseher oder in den Kinosaal zurückversetzt: wie in einem Film mit historischer Vorlage werden weiß auf schwarz die Jahres- und Ortskoordinaten des Geschehens auf eine Netzwand projiziert. Das seriöse, durch den üblichen Gebrauch gleichzeitig beinahe pathetische Moment wird zugleich durch die Karikatur seiner selbst durchbrochen, denn nicht nur Jahreszahlen, Ort, an- und abwesende Personen werden genannt, sondern sogar die genaue Uhrzeit sowie die Außentemperatur (23°C) erfahren wir. Der Effekt ist gelungen und amüsiertes Gelächter begleitet die übertrieben detaillierten Informationen.
Zwar finden wir uns daraufhin tatsächlich im Saal der Villa Wahnfried wieder und ja, das sollen ganz unverkennbar Richard und Cosima Wagner, Franz Liszt und Hermann Levi sein – aber von Beweihräucherung kann Gott sei Dank keine Rede sein. Vor allem »der Meister« selbst bekommt sein Fett weg, wirkt lächerlich, wenn er Liszt vom Flügel scheucht und zutiefst unsympathisch in seiner Radikalität und seinem Fanatismus, den gebrechlichen, jüdischen Levi zum christlichen Gebet auf die Knie zu zwingen.
Nicht alles macht Sinn in dieser Inszenierung. Die grüne Wiese, die im 2. Akt im Nürnberger Gerichtssaal ausgerollt ist, soll wohl etwas zu platt das Sprichwort verbildlichen, dass Gras über eine Sache, in diesem Fall über die schwierige deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, gewachsen ist. Der monströs große Kopf eines jüdischen Mannes, der die deutlichen Züge antisemitischer Schmähzeichnungen trägt und der Levi/Beckmesser erdrückt, ist ein Schlag mit dem Hammer für alle, die bis dahin das Thema der Inszenierung noch nicht verstanden haben – was im Grunde nicht möglich ist.
Trotzdem überzeugt mich die Darstellung zunehmend: noch nie habe ich so an meinem Opernglas gehangen, um auch ja keine Gesichtsregung und keinen Blick der Figuren zu verpassen, insbesondere in der Kollaborationsszene von Hans Sachs und Walther von Stolzing. Und gänzlich unerwartet ist auch die Darstellung Sixtus Beckmessers als Opfer einer (antisemitischen) Verschwörung gegen ihn, anstatt als Bösewicht und Gegenspieler Sachs’ und Stolzings dargestellt zu werden. Ich bin durchaus beeindruckt von diesem ersten Opernabend und überrascht von dem erfrischenden Innovationsgeist inmitten der altehrwürdigen und allgegenwärtigen Wagner-Geschichte.
Mittwoch – 2. Akt
Eine Kranzniederlegung ist ja immer eine etwas düstere Angelegenheit. Passend dazu hatte es am Morgen geregnet und als wir uns am Vormittag um Richard Wagners Grab versammeln, tropft der Regen von den Blättern der Bäume und Büsche um uns, plätscherte das Wasser des Springbrunnens nicht weit entfernt und durch den Regen ist alles dunkel-grün und intensiv braun gefärbt. Die Stimmung eines kühlen Urwalds. Nach einem anschließendem Einführungsvortrag im Festspielhaus, treffen wir uns zum gemeinsamen Mittagessen.
Mittlerweile haben sich Grüppchen gebildet und ich fühle mich vertraut mit einem engeren Kreis, während ich gleichzeitig jeden Tag neue Menschen kennenlerne. Die musikalischen Erfahrungen dieser Woche sind unvergleichlich, aber als am meisten bereichernd erlebe ich ohne Zweifel die großartigen Menschen, die ich kennenlernen darf. Am Abend treffe ich unter anderem endlich auf Sophie Quander, die zweite Germanistin, von der ich schon seit Tagen gerüchtehalber gehört hatte. Am ersten Festspielabend hatte es nach der Aufführung stark angefangen zu regnen und wir waren alle schnell zum Shuttle, oder in meinem Fall zur nahen Unterkunft geeilt. Aber an diesem Abend bleibt das Wetter gut und der Bus hält für uns in der Innenstadt, so dass wir als eine größere Gruppe gemeinsam ins Oskar gehen und dort bis halb zwei in der Nacht den Abend ausklingen lassen.
„Tristan und Isolde“
Diesem Abend blicke ich aus reiner Neugierde gespannt entgegen. Über Inszenierungen von Katharina Wagner habe ich schon Einiges gehört und leider nicht viel Gutes. Umso mehr möchte ich mir selbst ein Bild machen. In der Einführung höre und sehe ich bereits, dass das Bühnenbild des 1. Akts aus beweglichen Treppenläufen bestehen wird, was einen Menschen meiner Generation wohl unweigerlich an das Treppenhaus der Zauberschule Hogwarts aus Harry Potter erinnert. Dieser ungewöhnlichen Interpretation eines Alptraum-Szenarios sehe ich durchaus aufgeschlossen entgegen. Nach dem phänomenal-emotionalen Spiel der Darsteller in den Meistersingern, bildet diese Inszenierung leider einen starken Kontrast. Die meiste Zeit des 1. Akts stehen Isolde und Tristan zehn Meter voneinander entfernt und die angeblich intensiven Blicke, die sie sich zuwerfen, bleiben bei mir leider wirkungslos. Da diese Oper, meiner Meinung nach, doch eigentlich erst durch das innere Leben der Protagonisten an Dynamik gewinnt, scheint mir das ganze Potential durch die emotionale, schauspielerische Kälte der Darstellung verloren. Ein anderer Stipendiat, der Theatermanagement studiert, fasst die Inszenierung so zusammen: Katharina Wagner habe den Raum entworfen, in diesem Fall den Raum der Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, aber ihn dann nicht bespielt. Und genauso wirkte es: man weiß, was sie will, mit der wiederholten Dreiecksform, den auf Emotionen abgestimmten Kostümen, dem schwarz-grauen Bühnenbild, aber der Effekt geht verloren, die Inszenierung lebte nicht. Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich Wagner-Opern interpretiert und inszeniert werden können.
Donnerstag – Lange Pause
Ein weiterer Empfang, dieses Mal im Neuen Rathaus durch die Oberbürgermeisterin Brigitte Merk-Erbe, die sich viel Zeit für uns nimmt. In dieser Woche sehen wir sie immer wieder, auch bei der Walhall-Lounge hatte sie bereits zu uns gesprochen. Ein reichhaltiges Büffet beschert uns außerdem ein zweites Frühstück, das als Stärkung für die anschließende Stadtführung dient. Ich schließe mich der Gruppe einer ehemaligen Lehrerin an, eine ausgezeichnete Wahl wie sich herausstellen wird. Sie erzählt voller Witz die Geschichte Bayreuths anhand einprägsamer Anekdoten. Nach zwei sehr informativen Stunden können wir die Freizeit nutzen, um kostenlos die Museen in und um Wahnfried zu besuchen. Es ist ein warmer, sommerlicher Nachmittag und um das Wetter zu genießen, spaziere ich am Abend mit einem neuen Bekannten, dem spanischen Baritonsänger Sebastiá Peris schon früh zum Konzertsaal, in dem das internationale Sitpendiatenkonzert stattfinden wird. Dieser Abend wird einer der einprägsamsten der Woche. Es ist phänomenal, einige meiner Mitstipendiat/-innen nun in ihrem Element auf der Bühne zu sehen. Viele sind mir gänzlich unbekannt, andere kenne ich bereits persönlich und fiebere ihren Auftritten besonders entgegen, so u.a. denen von Bass Tijl Faveyts, Pianist Raúl Canosa und Saxophonist Salvatore Castellano.
Danach werden wir mal wieder auf Speis und Trank eingeladen, denn vor dem Gebäude ist ein reichhaltiges, warmes Büffet aufgebaut worden. Der Höhepunkt des Abends bildet aber eine Überraschung, denn gegen elf Uhr nachts erklingt aus dem Saal plötzlich wieder Musik. Viele der Stipendiat/-innen sitzen verstreut im Saal und auf der Bühne singt ein asiatischer Tenor eine Puccini-Arie begleitet von einer süd-koreanischen Korrepetitorin. Begeisterter Applaus verabschiedet sie von der Bühne und ermutigt die nächsten, es ihnen gleich zu tun. Ein italienischer Sopran singt ohne Aufwärmung die Arie der Königin der Nacht, der italienischer Saxophonist, der bereits zuvor im Programm aufgetreten war, jammt nun mit einem deutschen Musiktheoretiker im Duo Saxophon-Piano. Die Stimmung ist ausgelassen und befreit. Ich schließe die Augen und gebe mir selbst auf, mir diesen Moment gut einzuprägen.
Freitag – 3. Akt
Da ich den Einführungsvortrag zur Walküre bereits kenne, treffe ich mich am Vormittag stattdessen mit einem italienischen Bekannten, Stefano Ragusini, dem Assistenten des Chordirektors der Wiener Staatsoper, um die Liszt– und Jean-Paul-Museen zu besuchen.
„Die Walküre“
Da es der letzte Opern-Abend ist, scheint es mir ein wenig schade, anstelle von etwas Neuem, eine mir bereits bekannte Inszenierung zu sehen. Aber weit gefehlt! Anders als bei meinem ersten Besuch zu Festspielbeginn, bei dem ich die Walküre von der Galerie aus und nur mit Sichtbehinderung (halbe Bühne) sehen konnte, habe ich nun ein vollkommen anderes Opernerlebnis. Da ich an diesem Abend das Glück habe, im Parkett zu sitzen, werde ich zum ersten Mal Zeugin der vollen Wirkung der berühmten Festspielakustik. Der ganze Klangkörper aus Orchestermusik und Sängerstimmen kommt nun voller und runder bei mir an und zusätzlich kann ich die Sprache auch noch klarer verstehen. Das ganze Erlebnis ist einheitlicher und ich entdeckte Vieles auf der lebendig bespielten Bühne, das mir zuvor entgangen war.
Auch beim zweiten Mal Sehen bleiben einige Regieentscheidungen unklar: warum der Truthahnstall auf der Bühne und weshalb darin Castorfs Assistent als Landstreicher? Auch das Publikum reagiert interessanterweise anders als es in der Premierenwoche der Fall war. Sieglindes weit aufgerissene Augen im Schauspielstyle der 1920er-Jahre-Stummfilme, haben beim erstmaligen Sehen auf mich eher stümperhaft und fehl am Platz gewirkt, nun lachte das Publikum dabei und die bewusste Selbstironie der Geste wird mir bewusst. Womöglich auch dem Einsatz der Kameras und Videoaufzeichnungen geschuldet, ist die Resonanz der Inszenierung bei meinen Mit-Stipendiat/-innen große, für viele bildete diese Inszenierung den Höhepunkt der Operntage.
Um uns noch mal alle zusammenzubringen, werden wir zu einem Abschlussempfang im Steigenberger Festspielrestauration geladen. Wehmut beginnt sich mit fortschreitender Stunde über uns alle zu legen. Egal wen ich spreche, jeder wünscht, die Woche möge noch weitergehen, oder ein Alumni-Treffen stattfinden, so dass wir uns bald wiedersehen können. Das starke Gefühl der Zusammengehörigkeit bindet uns noch mal besonders zusammen, gepaart mit der Gewissheit, dass ein Erlebnis wie dieses so nicht wiederkommen wird.
Mit einigen Deutschen breche ich gegen Mitternacht in Richtung Innenstadt auf und in Bahnhofsnähe kehren wir bis zwei Uhr nachts ein – die Bedienung hatte den Fehler gemacht, uns zu sagen, sie blieben offen, bis der letzte Gast ginge. Die anderen ziehen anschließend noch weiter, doch ich gehe euphorisch und melancholisch zugleich nach Hause, mit der Sehnsucht, das Ende dieser Woche noch etwas hinauszögern zu wollen.
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