Der „Meister“ wäre wahrscheinlich begeistert gewesen, wenn er diese Uraufführung erlebt hätte. Wie bitte? War die letzte Festspiel-Uraufführung nicht vor 136 Jahren? Ja, aber der „Parsifal“ wurde im Festspielhaus aus der Taufe gehoben, und die Oper „der verschwundene hochzeiter“ des österreichischen Komponisten Klaus Lang am Dienstag im ehemaligen Reichshof-Kino, das sich übrigens nicht als Notlösung, sondern als ideal entpuppte. Doch der Reihe nach.
Im letzten Jahr haben die Festspiele als eigenes Rahmenprogramm erstmals die Reihe „Diskurs Bayreuth“ initiiert, mit einem hochkarätig besetzten Symposium und Konzerten in Haus Wahnfried. Heuer lautet das Generalthema „Verbote (in) der Kunst“, das sich unter anderem im Frageverbot in Wagners „Lohengrin“ spiegelt – und im ersten Auftragswerk der Bayreuther Festspiele, das am Tag vor der Festspieleröffnung uraufgeführt wurde.
Die neue Oper im extrem reduzierten und strukturierten Szenarium und Libretto des Komponisten greift den Stoff einer alten österreichischen Sage auf: Ein Bräutigam wird von einem Fremden zu einer Hochzeit eingeladen, soll sich vergnügen, feiern und tanzen – aber nur so lange die Musik spielt. Der Bräutigam hält sich nicht daran. Als er heimkehrt, erfährt er, dass seit seinem Weggang dreihundert Jahre vergangen sind, und zerfällt zu Staub.
Die Produktion ist in mehrfacher Hinsicht ein Coup – und zumindest, was die Besetzung betrifft, kaum zu toppen. Denn Regisseur Paul Esterhazy, der nicht zum ersten Mal eine Oper von Klaus Lang inszeniert, hat sich erstens als Partner den Videokünstler Friedrich Zorn geholt und zweitens den Hochzeiter in eine Doppelfigur umgesetzt, die auf der Bühne von zwei Tänzern dargestellt wird: das tschechische Zwillingspaar Jiri und Otto Bubenicek, das sich dank virtuoser Videotechnik auch vervielfachen kann.
Wenn laut Textbuch „der raum und die zeit sich öffnen“ – Wagnerianer denken natürlich an den Schlüsselsatz „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“ aus dem „Parsifal“ – sieht man ein schon lange leerstehendes Zimmer mit zwei Fenstern, in dem zunächst meditativ Schnee fällt. Der Bassist Alexander Kiechle (Der Hochzeiter) und der Countertenor Terry Wey (Der Fremde) als Gesangssolisten, der subtile Frauenchor sowie das vom Komponisten geleitete Orchester Ictus Ensemble musizieren verteilt im Raum neben den Zuschauern und vom Rang her, so dass sich immer wieder das Gefühl einstellt, vom Klang eingehüllt zu werden.
Klaus Lang geht es in der neuen Oper vor allem um das Hörbarmachen von Zeit und Zeitlichkeit, um die Wahrnehmung unterschiedlicher Klangwelten, die einerseits wirken sollen wie abstrakte Farbflächenmalerei, wobei die Farbe Weiß ein wiederkehrendes Element ist, andererseits wie ein hyperrealistisches Stillleben. Minimalistisch einlullenden Klangflächen und Gesängen stehen seltene Klangexplosionen gegenüber, die wie aus dem Nichts kommen.
Die rätselhafte Märchenhandlung und ihre brillante szenische Umsetzung mit Trug- und Vexierbildern stützt das musikalische Fließen, in dem die Zeit verstreicht, immer wieder angehalten und selten beschleunigt wird. 5373 genau gezählte Sekunden, also gut eine Stunde und vierzig Minuten, dauert die Oper, die in ihrer auch alphabetischen Struktur hörbar ein bisschen an Malen nach Zahlen erinnert. Die Uraufführung an einem heißen und späten Sommerabend tat das Ihrige, dass nicht wenige im Publikum sich wünschten, sie wäre trotz der auch gegebenen musikalischen Faszination nur halb so lang gewesen.
Den internen Vergleich mit der heutigen musikalischen Avantgarde braucht Richard Wagner also nicht zu fürchten. Allerdings hätte er wer weiß was gegeben, um die bühnentechnischen und vor allem filmischen Möglichkeiten zu haben, mit denen die Inszenierung so überzeugend punktet. Dass dafür ein ehemaliges Kino aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde, ist also keine Notlösung, sondern eine wunderbare Fügung. Mit Wundern kann’s gerne weitergehen.
Besuchte Uraufführung am 24. Juli 2018, Erstveröffentlichung im Feuilleton des Fränkischen Tags vom 26. Juli, weitere Vorstellungen am 26. und 27. Juli um 21 Uhr, Einführungsgespräch um 20 Uhr. Karten per E-Mail unter hochzeiter@bayreuther-festspiele.de
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