„Tannhäuser“ in der Neuinszenierung von Tobias Kratzer ist ein Theatercoup. Bei der Premiere am 25. Juli wurden die überragenden Solisten, Chor und Szeniker gefeiert und Dirigent Valery Gergiev ausgebuht.
Die Festspiele haben eine neue Kultinszenierung, der eigentlich nur noch eines fehlt: ein Dirigent, der mit so viel Einfallsreichtum, Genauigkeit, Kenntnis und Liebe ans Werk geht wie das Inszenierungsteam. Tobias Kratzer ist mit Richard Wagners „Tannhäuser“ ein Theatercoup gelungen, den die wunderbare Sängerriege bravourös umsetzt. Nur Stardirigent Valery Gergiev outete sich bei der Premiere eher als Besetzungsfehler.
Schon im Vorfeld war klar, dass diese Neuinszenierung Außergewöhnliches bieten würde. Schließlich hat es bei den Festspielen zwar mit Grace Bumbry schon eine schwarze Venus gegeben, aber keine Drag-Queen. Der Regisseur bezieht sich witzig, frech, unterhaltsam, intelligent und mit sehr viel Hintergrundwissen nicht nur auf die Festspiel- und Rezeptionsgeschichte. Sondern auch auf Richard Wagners Ausspruch „Kinder, macht Neues! Neues! und abermals Neues!“ von 1852.
Seine Interpretation erzählt ein Künstlerdrama, setzt aber die gegebenen Gegenwelten anders um. Der zumeist mit peinlichen Sexszenen belastete Venusberg entpuppt sich als eine anarchische Zirkustruppe, die frei nach Wagners Revolutionsdevise „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“ und wie in einem Roadmovie unterwegs mit einem Citroen-Camion beim Burger King und einem putzigen Märchenland Station macht und im ersten Akt vor dem ebenso putzigen Festspielhaus endet, mit heutigen Festspielbesuchern als Pilgerchor.
Clown Tannhäuser, stets eine Partitur im Gepäck, kehrt zurück in sein früheres Sängerleben und steigt ein in eine museale Festspielinszenierung. Seine Weggefährten Venus, Le Gateau chocolat und der Blechtrommler Oskar entern das Festspielhaus doppelt und dreifach: ganz real (was man erst draußen in der Pause sieht), in der konservativ langweiligen Bayreuth-Vorstellung des zweiten Akts, die in gedeckten Farben in der unteren Bühnenhälfte abläuft, während oben ein Echtzeitvideo in Schwarz-Weiß zeigt, was Backstage passiert.
In diesen zwei abnehmend parodistischen Akten darf ungewöhnlich oft gelacht werden, was manchem im Publikum gegen den Strich gehen mag. Aber im dritten Akt ist’s endgültig vorbei mit lustig: Der Spannungsbogen, den Regisseur Kratzer, Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüm) und Manuel Braun (Video) kunstvoll und mit ein paar Einschränkungen schlüssig aufgebaut haben, mündet im tragischen Scheitern der Protagonisten, die nun keine Kunstfiguren mehr sind, sondern – und zwar in einem hochpolitischen Kontext – Menschen aus Fleisch und Blut.
Natürlich dürften nicht nur Premierengast Erzbischof Ludwig Schick die gegebenen religiösen Aspekte gefehlt haben. Stattdessen rekurriert die Inszenierung auf den revolutionären Wagner ebenso wie auf Bayreuth als Kunstreligion. Bei den zwei Frauenfiguren geht es nicht mehr um den Gegensatz von Heiliger und Hure, sondern um zwei unglücklich liebende heutige Frauen, die – mit unterschiedlichem Resultat – auch resolut sein können.
Die Ohrfeige, die Elisabeth dem zurückgekehrten Tannhäuser im ersten Akt gibt, steht natürlich nicht im Libretto. Aber sie macht sie zu einer Zeitgenossin, mit der man unmittelbar mitfühlen kann. Erst recht im dritten Akt, wenn sie sich vor ihrem Selbstmord für eine kurze letzte Nummer Wolfram hingibt, der im Lastwägelchen das Clownskostüm Tannhäusers gefunden und angezogen hat. Das ist tatsächlich eine leichenbittere Kostümtauschszene, die sehr viel mehr über Sexualität aussagt als das gängige rhythmische Geturne von Balletttänzern.
Überhaupt geht es hier auch um sexuelle Orientierung, sexuelle Freiheit und ihre Grenzen – die aktuelle MeToo-Debatte eingeschlossen. Wer heute darüber redet, sagt uns der Regisseur, ohne uns etwas aufzuoktroyieren, sollte unter anderem über all die Lügen nachdenken, die damit zusammenhängen. Und genau hinschauen, wo die Freiheit noch fehlt und wo sie aufhört.
Die beiden hinzuerfundenen, fast durchgängig präsenten Akteure, die ganz nebenbei auch noch in der ersten Pause für ein großes Bohei am Weiher im Festspielpark sorgen, stehen dafür – und für noch mehr. Le Gateau chocolat ist die personifizierte Transgenderfigur, hisst denn auch die Regenbogenflagge und steht, dunkel wie sie nun mal ist, gleichermaßen für Rassismus. Nur für die Drag-Queen geht das Ganze übrigens offenbar gut aus.
Der kleinwüchsige Manni Laudenbach als Oskar ist beispielhaft für die gegebene Fülle an Stilzitaten aus der Kunst-, Literatur-, Film- und Theatergeschichte und begleitet das Scheitern von Wagners Tannhäuser-Personal mal herzerfrischend komisch, mal zum Weinen empathisch. Er steht darüber hinaus für alle Menschen, die anders sind als Otto-Normalverbraucher und Lieschen Müller. Und was die beiden Zusatzakteure im Video im berühmten Festspielhausgang der Dirigenten mit den Porträts von zwei bestimmten Pultmagiern anfangen, ist einfach zum Hinknien!
Gleiches gilt für die Solisten, von denen für mich Stephen Gould deshalb herausragt, weil er – anders als in Katharina Wagners „Tristan“-Inszenierung – endlich neben seinem überragenden Heldentenor auch sein darstellerisches Potenzial offenbart. Seine Romerzählung war beim Festakt für Wolfgang Wagner am Abend zuvor musikalisch schöner, aber wenn er wie hier vom Regisseur schauspielerisch derart gefordert wird, kommt etwas hinzu, das auch die sängerische Interpretation wahrhaftiger macht. Ein Solitär, der neu am Festspielhimmel glänzt, ist Lise Davidsens raumfüllende Elisabeth. Markus Eiche als Wolfram von Eschenbach, Elena Zhidkova, die als beherzte Einspringerin die in allen Akten präsente Venus gibt, die weiteren Solisten und der grandiose Festspielchor sorgen für eine hochkarätige Vorstellung.
Nur Valery Gergievs Dirigat hört man leider an, dass er sich seinem Bayreuth-Debüt nicht intensiv genug gewidmet hat. Das Festspielorchester glänzt zwar in den einzelnen Instrumentengruppen und kostbar in den leisen Stellen. Aber die große Linie fehlt und die Koordination mit Chor- und Solistenstimmen wackelt zuweilen bedenklich. Am Ende kriegte der Dirigent die meisten Buhrufe ab. Das Gros des Premierenpublikum feierte Szeniker, Solisten und Chor enthusiastisch.
Besuchte Premiere am 25. Juli 2019, Erstdruck in etwas kürzerer Form im Feuilleton des Fränkischen Tags.
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