Die Frauen haben die Hosen an

Der viel­be­schäf­tig­te Bar­rie Kos­ky be­glückt die Münch­ner Hän­del-Freun­de mit ei­ner zeit­ge­nös­si­schen „Agrip­pi­na“ im Prinzregententheater.

Lä­cheln für den Fo­to­gra­fen: „Agrippina“-Gruppenfoto in der Münch­ner In­sze­nie­rung von Bar­rie Kos­ky Alle Sze­nen­fo­tos: Wil­fried Hösl

Kann eine Ba­rock­oper, die be­rühmt-be­rüch­tig­te Fi­gu­ren aus dem an­ti­ken Rom auf­greift, uns heu­te noch et­was sa­gen? Sie kann, und wie! Wenn zwei Groß­meis­ter des Mu­sik­thea­ters wie der Di­ri­gent Ivor Bol­ton und der Re­gis­seur Bar­rie Kos­ky am Werk sind, die am Diens­tag im Prinz­re­gen­ten­thea­ter ihre ge­fei­er­te Ver­si­on von Ge­org Fried­rich Hän­dels „Agrip­pi­na“ prä­sen­tiert haben.

Wahr­schein­lich hat Kar­di­nal Vin­cen­zo Gri­ma­ni das Li­bret­to für Hän­dels zwei­te ita­lie­ni­sche Oper ge­schrie­ben. Das 1709 beim Kar­ne­val in Ve­ne­dig ur­auf­ge­führ­te Werk des 24-jäh­ri­gen Kom­po­nis­ten soll­te also in ers­ter Li­nie der Un­ter­hal­tung die­nen – und zwar hand­fest. Es ist ein iro­nisch grun­dier­tes Fa­mi­li­en-, Po­lit- und Lie­bes­dra­ma, in dem fünf Män­ner und eine Ne­ben­fi­gur um zwei Frau­en kreisen.

Es geht also nicht nur um Agrip­pi­na, die ih­rem Sohn Nero(ne) in vir­tuo­sem Macht- und In­tri­gen­spiel den Thron si­chert. Son­dern auch um Pop­pea, die spä­ter, aber nicht in die­ser Oper, Ne­ros zwei­te Frau sein wird und hier im Kampf um ihre wah­re Lie­be Ot­to­ne min­des­tens ge­nau­so raf­fi­niert zu Werk geht wie die um eine Ge­ne­ra­ti­on äl­te­re Gat­tin des Kai­sers Claudius.

Ali­ce Coo­te als Agrip­pi­na: hier in der One-Woman-Show

Dass in die­ser Two-Wo­men-Show die Frau­en zwar wir­kungs­mäch­ti­ge Klei­der (Kos­tü­me: Klaus Bruns), aber die Ho­sen an­ha­ben, ist schon in der Oper so an­ge­legt. Wäh­rend die Män­ner – Clau­dio, Ne­ro­ne, Ot­to­ne so­wie die bei­den Mit­läu­fer Pal­lan­te und Nar­ciso – ein­di­men­sio­na­ler an­ge­legt sind, sind die bei­den Frau­en cha­rak­ter­lich sehr dif­fe­ren­ziert gezeichnet.

Das ist ein ge­fun­de­nes Fres­sen für den nicht nur hand­werk­lich ge­nia­len Re­gis­seur. Bar­rie Kos­ky ist  näm­lich ein Thea­ter­ma­cher, der die Fi­gu­ren, die er auf der Büh­ne zum Le­ben er­weckt, nicht nur vor­ur­teils­los an­sieht, son­dern liebt. Er ur­teilt nicht über die Men­schen, die er in sei­nen In­sze­nie­run­gen vor­stellt. Er zeigt sie viel­mehr – ob gut, ob böse – in all ih­ren Fa­cet­ten, ih­ren Schwä­chen und Stär­ken, in ih­ren er­füll­ten und un­er­füll­ten Wün­schen, in ge­mein­sa­mer Lust und schreck­lich ein­sa­mem Leid. Der stäh­ler­ne, kalt und tech­no­id wir­ken­de Con­tai­ner­bau mit Ja­lou­sien und Trep­pe (Büh­ne: Re­bec­ca Ringst) bie­tet alle Mög­lich­kei­ten, um die ge­ge­be­nen Ver­wick­lun­gen vir­tu­os umzusetzen.

Die Baye­ri­sche Staats­oper bie­tet auch in ih­rer zwei­ten gro­ßen Opern­fest­spiel-Pro­duk­ti­on eine So­lis­ten­be­set­zung auf, die ih­res­glei­chen sucht. Si­cher gibt es So­lis­tin­nen, die eine Agrip­pi­na mu­si­ka­lisch per­fek­ter dar­bie­ten kön­nen als Ali­ce Coo­te. Aber ers­tens ist das tat­säch­lich eine Bom­ben­rol­le für eine vi­ri­le, sehr er­fah­re­ne, nicht mehr jun­ge Frau, und zwei­tens zählt sän­ger­dar­stel­le­ri­sche Wahr­haf­tig­keit mehr als blo­ßer Schöngesang.

Gi­an­lu­ca Bur­at­to als Clau­dio und Elsa Be­noit als Poppea

Die traum­haft schö­nen Kan­ti­le­nen und Ko­lo­ra­tu­ren sind oh­ne­hin eher der jün­ge­ren Pop­pea vor­be­hal­ten, die mit Elsa Be­noit ide­al be­setzt ist. Auch ihre Leis­tung ist ein­fach bra­vou­rös. Dass ne­ben den do­mi­nie­ren­den Frau­en die Män­ner nicht un­ter­ge­hen, ist eben­falls der ge­ge­be­nen sän­ger­dar­stel­le­ri­schen Spit­zen­klas­se zu dan­ken – und der bei Re­zi­ta­ti­ven wie Da capo-Ari­en aus­ge­feil­ten, wirk­lich span­nen­den Personenregie.

Fran­co Fa­gio­li als Ne­ro­ne und Ali­ce Coo­te als Agrippina

Un­ter den Coun­ter­te­nö­ren ra­gen Fran­co Fa­gio­li als um­wer­fend ju­gend­li­cher, im An­satz schon wir­rer Ne­ro­ne und Ies­tyn Da­vies als selbst­los lie­ben­der Ot­to­ne her­aus. Aber auch Gi­an­luc­ca Bur­at­to (Clau­dio), An­drea Mastro­ni (Pal­lan­te), Eric Ju­re­nas (Nar­ciso) und Mar­kus Suih­ko­nen (Les­bo) ha­ben ihre gro­ßen Momente.

Ge­spielt wird eine von Di­ri­gent Ivor Bol­ton er­ar­bei­te­te Fas­sung, die trotz ei­ner Spiel­dau­er von vier Stun­den mit Pau­se kei­ne Se­kun­de lang­weilt, weil aus­ge­feil­te sze­ni­sche und mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­ti­on so­wohl bei den Re­zi­ta­ti­ven als auch bei den Da-capo-Ari­en Hand in Hand ge­hen. Ein gro­ßer Abend nicht zu­letzt für das Baye­ri­sche Staats­or­ches­ter samt Continuo-Ensemble.

Be­such­te Pre­mie­re am 23. Juli, die wei­te­ren ak­tu­el­len Vor­stel­lun­gen sind aus­ver­kauft. Der kos­ten­lo­se Live­stream am 28. Juli ab 18 Uhr auf www​.staats​oper​.tv ist bis 12. Au­gust zu se­hen. Erst­druck im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags.