Unsere Stipendiatin Danielle Cîmpean (Sopran) setzt ihren Bayreuth-Aufenthalt um in ein Plädoyer für die Bedeutung des zwischenmenschlichen Umgangs als Voraussetzung für eigene Erfahrungen – auch und gerade bei Wagner und den Festspielen.
Als ich das Gelände des Festspielhauses in Bayreuth zum ersten Mal betrat, verbanden mich mit dem Komponisten Richard Wagner ein gelesenes Textbuch von Kurt Pahlen zur Oper „Tannhäuser“, ein paar wenige Arien aus Wagners Feder, die ich mir angehört hatte, eine biografische Dokumentation zum Komponisten, vor allem aber viel Hörensagen und Meinungen zu Wagner und den Festspielen, aufgeschnappt von unterschiedlichsten Menschen. Davon war einzig die textliche Einführung mit Kommentar zum „Tannhäuser“ ein ganz aktiver Beitrag gewesen, um das mir an diesem Abend bevorstehende Werk allgemein besser verstehen zu können.
Diese spärlich gesäten Berührungspunkte mit dem Kosmos Richard Wagner boten für mich keine Basis, mir eine – vor allem subjektive – detailliertere Meinung bezüglich seiner Musik zu bilden, und so fieberte ich dem Beginn der ersten von drei Opern, die mich erwarteten, sehr entgegen.
Nie hatte ich vorher das Gelände des Festspielhauses kennengelernt, geschweige denn im Festspielhaus gesessen oder dessen Interieur anderweitig gesehen. Aber obgleich ich ein paar Gedanken der Auswahl und Angemessenheit meiner Garderobe schenkte, lag mein Fokus ganz auf der Musik, dem Grund, weshalb ich gekommen war: meinen persönlichen Höreindruck zu haben.
Vieles glitt an meiner Wahrnehmung vorbei, bis ich endlich meinen Platz im Festspielhaus eingenommen hatte, fixiert auf die ersten Klänge des „Tannhäuser“. Nun saß ich noch eine Weile da und ließ meine Gedanken schweifen, vieles reflektierend, was ich bisher von Wagner, seiner Musik, den Festspielen und den auftretenden Künstlern hier wusste und noch wissen wollte.
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Ein großes Maß an Skepsis hatte mich in der Vergangenheit ergriffen, überwiegend ausgelöst durch krasse Kontroversen und häufig aufgeladene Gefühlsäußerungen, die um Wagners Welt kreisten. Oft schwang in diesen Aussagen für mich ein Alles oder Nichts mit großer Dramatik mit.
„Wagner, der größte Komponist aller Zeiten“, „Wagner höre ich nicht, weil er Nazi war“ oder „Sowas Brutales kann man nicht Musik nennen“, „Wagner hat ewig lange Opern, das gebe ich mir nicht“ oder „Wagner war größenwahnsinnig, aber genial“, „Man muss einmal im Festspielhaus gewesen sein, es gibt keine besserer Akustik“, „Nach Bayreuth kommen nur die besten Sänger“ – so manche der Stimmen, denen ich gelauscht hatte.
Was tun mit solchen teils sehr absoluten Aussagen, fragte ich mich. Häufig gingen Gespräche mit vorhergenannten Zitaten auch in eine Richtung, die ich eher als drängende Überzeugungsversuche empfand – und das störte mich gewaltig. Möglicherweise entfernte es mich sogar noch mehr, als dass ich Interesse oder Begeisterung zu Wagner-Themen empfinden konnte. Übernahm ich die Meinungen der Überzeuger nicht, kam es nicht selten zu für mich unangenehmen Momenten, wodurch ich mich zum sonderbaren Einzelgänger verwiesen fühlte.
Weder zu Wagnerianern noch zu Wagners Feinden wollte ich mich stellen, wusste ich doch gefühlt kaum etwas über all das, worüber diese Fronten sprachen. So blieb mir der unbeeindruckte Leitsatz: Lasst mir mein eigenes Bild; lasst mich eigenständig entscheiden, wie ich denn nun Wagner, seine Musik oder alles andere dazu finde.
Der Kult und die emotionale Erregung um die Festspiele und Wagner hatten mich in mehrerlei Hinsicht verunsichert. Wie prestige- und traditionsbeladen war ein Festspielhaus-Besuch und was ging damit alles einher? Was musste ich im Voraus noch beachten? Am Ende des Tages waren es in meinen Augen Lappalien gewesen, die es zu beachten gegeben hatte. Fanfare bedeutet „Jetzt reingehen“, Ticket- und Personalausweiskontrolle erfolgt an mehreren Stellen, FFP2-Maske wird im Haus konstant getragen, Stück während des Aktes verlassen bedeutet draußen bleiben bis zur Pause, Essen und Getränke sind überdurchschnittlich hoch bepreist und daher ist Eigenverpflegung empfehlenswert undsoweiter. Über unbequeme Stühle war ich in Kenntnis gesetzt worden, befand sie dann allerdings beim Sitzen als völlig ausreichend für den Zweck und akzeptabel.
Und ja, elegante Kleidung wurde mir ans Herz gelegt, was ich auch berücksichtigte, aber beim Gang den Festspielhügel hinauf – der mir in seiner frappierenden Ähnlichkeit zum Pilgertum fast unheimlich wirkte – stellte ich freudig fest, dass unter Anzügen und Abendkleidern auch Sportschuhe und kurze Hosen vertreten waren, suggerierte mir dies doch eine gewisse Offenheit seitens des Festspielhauses für die individuelle Garderobe.
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Auf diese Weise ging mir Verschiedenstes durch den Kopf, während ich also auf den Beginn der Oper wartete. Zuletzt flammte in mir der Gedanke auf, ob ich je unvoreingenommen Musik hören könnte, was ein großer Wunsch meinerseits war (indes vielleicht ein realitätsferner). Mantrahaft wiederholte ich meinen Leitsatz und versuchte mich von allen mir begegneten Wagner-Meinungen oder Überzeugungen frei zu machen, als die Lichter langsam ins Dunkel verglommen.
Es herrschte bald Schweigen.
Dann, in die Stille hinein, erklang die Ouvertüre des „Tannhäuser“ und als die Streicher einsetzten, dauerte es wenige Augenblicke, bis mir plötzlich Tränen aufstiegen, welche allmählich, Takt um Takt, ihren Weg hinab fanden. Unaufhaltsam schien mir die Kraft, mit der die beginnende Melodie der Celli auf mich einwirkte und mit jedem Oktavsprung an meiner Brust zerrte, mit jeder chromatischen Linie mein willenlos ausgeliefertes Herz im Wechsel zusammenpresste und wieder frei gab, nur um es später mit jeder Wiederholung der Melodie von Neuem dieser süßen Qual auszusetzen.
Endlich hatte ich selbst gesehen, gehört, gefühlt und musste unweigerlich lächeln, weil es mir wie eine Erlösung nach spannungsreichem Harren war. Das war einer der ersten Pinselstriche meines Bildes von Wagner.
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Und so verging der Abend und mein Bild bekam weitere Ausführungen, auch die ein oder andere Revision, während es sich von groben Umrissen nach und nach Einzelheiten zuwandte.
Die Inszenierung führte mich anschaulich durch die Realität zweier gegensätzlicher Welten, die vor allem im zweiten Akt deutlich durch den Einsatz verschiedener Hilfsmittel (z.B. Aus- & Eintreten aus Bilderrahmen) auf der Bühne kontrastierten. Auch sonst konnte ich der Umsetzung des Werkes auf der Bühne viel abgewinnen, wie beispielsweise die Einbettung der Handlung in das Alltagsgeschäft der Künstler am Festspielhaus. Die geschickte Verwebung von Projektionen als Live-Übertragung zu sonst für den Zuschauer nicht sichtbaren Geschehnissen eröffnete mir teils auf humoristische (ich hatte an manchen Stellen wirklich gut gelacht) und doch sehr realitätsnahe Art die Welt hinter der Bühne in Ausschnitten.
Schnell flog meine Aufmerksamkeit und Empathie der Rolle des Wolfram von Eschenbach zu, nicht bloß wegen der für mich höchst ansprechenden Stimme des Sängers. Von all den Figuren in der Oper war er mir der tiefgründigste und komplexeste Charakter, hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Standpunkten und Aufgaben, die er in dieser Aufführung übernahm: Wortgewandter Streitschlichter, ein Gewissen für Gewissenlose, heimlicher Verehrer, eine starke, platonische Schulter für Trost und letztlich auch schamloser Ausnutzer zur Umsetzung seiner persönlichen Begierden. Oft degradiert zum dritten Rad am Wagen, war niemand anders als Wolfram von Eschenbach für mich so zentral in der Beeinflussung der Handlung. Trotz all seiner Bemühungen gab es am Ende kein Heil und keinen Seelenfrieden für irgendwen, außer vielleicht im Jenseits.
Mit diesen Eindrücken wurde ich in den späten Abend entlassen und war dankbar für dieses Erlebnis. Die erfrischende Luft holte mich langsam aus meinem musikalischen Trunkenheitszustand zurück ins Hier und Jetzt, das während der Oper in den Hintergrund getreten war.
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Mit „Lohengrin“, „Der Fliegende Holländer“ und Ausflügen durch Bayreuth hatte ich in den Folgetagen weitere Möglichkeiten, mich mit Wagner auseinanderzusetzen und stellte bald fest, dass meine Meinung zur Handlung der Opern, Wagners Musik, Wagner als Mensch, dem Festspielhaus und sonstigem Wagnerischen keine pauschale, sondern eine differenzierte und variierende wurde.
Hatte ich wirklich viel Gefallen am Tonmaterial und der Handlung des „Tannhäuser“ gefunden, so war beides davon für mich im „Lohengrin“ völlig reizlos gewesen, während sich „Der Fliegende Holländer“ wiederum in der Mitte von beidem aufhielt.
Eigentlich hätte mich diese Perspektive nicht überraschen sollen, da ich schon früher bei der Frage „Wer ist Dein Lieblingskomponist?“ ähnliche Empfindungen und Stellungnahmen dazu hatte und ein starkes Widerstreben empfand, wenn ich mich auf Geheiß meines Gesprächspartners in eine Schublade der Superlative sortieren sollte („Du musst doch irgendjemanden haben, den Du am meisten magst!“).
Verbauen einem Pauschalisierungen nicht eher potenzielle Wege und Erlebnisse? Und steuern sie nicht auch unablässig zu einer Verhärtung der Fronten bei, so wie ich sie vormals erlebt hatte?
Vielleicht ist im Zuge der Schaffung eines ansprechenden Zugangs zum Wagner-Stoff und allem damit Verknüpften für junge Menschen oder Menschen ganz allgemein nicht nur vorrangig, was man letztlich künstlerisch auf der Bühne präsentiert, in welches Gewand man sich kleidet, wie realistisch eine Inszenierung an verschiedene Lebenswelten herantritt oder welche Kanäle man zur Erreichung und Verbreitung einer größeren Popularität verwendet – sondern vor allem ein respektvoller und offener Umgang miteinander, geprägt von Verständnis für sein Gegenüber und Achtung dessen persönlicher Grenzen.
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