Enrico Lübbe und seinem Team ist in Leipzig eine Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“ gelungen, die sowohl der Handlung als auch dem philosophischen Überbau gerecht wird.
Wer kennt sie nicht, die Angst des Opernbesuchers vor dem Wort „Video“ auf der Besetzungsliste – die Angst vor der Überflutung durch Projektionen aller Art? Die Neuinszenierung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ am Opernhaus Leipzig durch Enrico Lübbe und sein Team ist ein Musterbeispiel dafür, dass Videos keine Ablenkung, sondern eine echte Bereicherung sein können.
Das Künstlerduo Momme Hinrichs und Torge Møller, das unter dem Namen fettFilm längst eine Größe in Schauspiel und Oper ist und unter anderem Stefan Herheims Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung von 2008 mit bebildert hat, glänzt hier in einer Produktion, bei der alle Beteiligten gekonnt eine für die tragische Liebes- und Dreiecksgeschichte ideale Szenerie errichtet haben.
Im subtilen Drehbühnenbild von Étienne Pluss, das sowohl an versunkene Schiffsbauten als auch an Palastruinen denken lässt, verschwimmen die Grenzen noch mehr, wenn die Projektionen Bühnenelemente, Requisiten, Treppen und Gänge aus anderer Perspektive überblenden: Im virtuosen Licht von Olaf Freese entsteht eine surreale Seelenlandschaft, durch die Figuren von Odilon Redon oder von René Magritte spazieren könnten.
Tatsächlich sind neben den Sängern und Choristen (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint) auch Doubles für Tristan und Isolde unterwegs, deren Sinnfälligkeit sich zuweilen nur dem zeigt, der nahe genug an der Bühne sitzt: Nicht alle Zuschauer dürften erkennen, dass die zwei Statisten im zweiten Akt jeweils die Texte der anderen Figur von sich geben, um so das Verschmelzen der beiden zu illustrieren. Umso eindrucksvoller die Fiebervisionen Tristans im dritten Akt mit der versiebenfachten Isolden.
Die Kostüme von Linda Redlin, sind schnörkellos heutig, lösen aber spätestens durch Isoldes Seidenmorgenmantel im zweiten Akt auch rückwärtsgewandte historisierende Assoziationen aus. Der Clou der Inszenierung ist der Rahmen aus Leuchtstoffröhren um das in Leipzig sehr breite Bühnenportal. Der Leipziger Schauspieldirektor Enrico Lübbe und sein Co-Regisseur Torsten Buß lassen Tristan und Isolde immer wieder hinaustreten aus der realen Handlung.
Die Welt zwischen Kornwall und Kareol wird dann ausgeblendet: Tristan und Isolde tauchen ein ins plötzlich schwarze Nichts, ins Nirwana der Liebes- und Todesnacht des zweiten und dritten Akts. Selbst wenn sie bühnenbreit unendlich weit getrennt sind – sie kommen sich aber durchaus auch näher! –, spürt man, wie vereint sie sind und versteht plötzlich, dass es Wagner um viel mehr als um Liebestragik ging. Die Inszenierung erschließt die philosophische, die metaphysische Ebene der Handlung.
Das funktioniert auch deshalb so gut, weil die Titelprotagonisten sich darin offenbar gut aufgehoben fühlen. Während Meagan Miller (die mir schon vom „Ring“ der Bamberger Symphoniker 2013 in Luzern als Sieglinde in Erinnerung geblieben ist) bei ihrem stimmlich beeindruckenden, sehr jugendlich wirkenden Isolden-Debüt darstellerisch im ersten Akt noch zu zurückhaltend ist, stürzt sich Daniel Kirch erwartbar vehement und stimmlich manchmal zu tief in Tristans Leben, Sterben und das unerwartete Wiederauferstehen. Mit größter Selbstverständlichkeit verlässt der seinen Bühnentod gestorbene Tristan am Ende vor Isoldes Schlussgesang die Welt der Handlung, tritt vor den Leuchtrahmen und lauscht glücklich der Verklärung.
Vielleicht sind sie gar nicht tot? Sind König Marke (ein nachhaltiges Rollendebüt: Sebastian Pilgrim) und Brangäne (souverän: Barbara Kozela) die wahren Unglücklichen? Vielleicht finden Tristan und Isolde jetzt ihre große Freiheit, fern von allen Belastungen und Feindseligkeiten, vielleicht bedeutet das Ende die Auflösung der Individualisierung. „Man sollte in diesem Werk“, stellt Torsten Buß denn auch im Programmheft fest, „den Tod also als etwas Positives denken.“ Was Wagners Musik dazu schon immer beglaubigt hat.
Das Heraustreten aus dem Geschehen, die Doubles und dass das Englischhorn (Gundel Jannemann-Fischer) im dritten Akt als personifizierte Musik auftritt, sind wohlgemerkt keine neuen Regieideen; Peter Konwitschny in München, Double-Weltmeister Claus Guth, Hermann Schneider in Würzburg und Dmitri Tcherniakov in Berlin haben schon Ähnliches gezeigt. Dennoch wirkt die Inszenierung Enrico Lübbes wie ein Befreiungsschlag, weil sie dem Gesang und der Musik in beeindruckender Ästhetik den notwendigen Raum und die notwendige Ruhe gibt.
Schade nur, dass der musikalische Leiter Ulf Schirmer nicht in der Lage ist, gleichermaßen mit den Solisten zu atmen. Vor allem im zweiten Akt verwechselt der Generalmusikdirektor und Intendant der Oper Leipzig Intensität mit Lautstärke und bringt seine Hauptsolisten, weil er das an sich formidable Gewandhausorchester zu sehr anpeitscht, in Bedrängnis. Dennoch großer berechtigter Jubel nach der Premiere.
Unter sämtlichen Bühnenwerken Wagners, die in Schirmers Großprojekt 2022 auf dem Programm der Oper Leipzig stehen werden, dürfte dieser „Tristan“ das Prädikat „unbedingt sehenswert“ haben – neben dem „Liebesverbot“ in der Inszenierung von Aron Stiehl und Calixto Bieitos „Tannhäuser“.
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