Heute vor zehn Jahren starb im Alter von nur 49 Jahren Christoph Schlingensief. Hier ein persönlicher Rückblick auf seine „Parsifal“-Inszenierung in Form von Kritiken aus den Jahren 2004 bis 2006.
Rasant im Tempo und aberwitzig in seiner Bilderflut
Der neue „Parsifal“ in Bayreuth: Ein Sieg für Pierre Boulez – und das Team Schlingensief
Fränkischer Tag, 27. Juli 2004 (ungekürzte Version)
Nein, Christoph Schlingensief ist kein Scharlatan, sondern ein ernst zu nehmender Künstler, der (was nichts Ungewöhnliches ist) nicht ganz fertig geworden ist mit seiner „Parsifal“-Inszenierung und demzufolge noch Nachholbedarf hat: ein Hoch auf die Werkstatt Bayreuth! Der von vielen erwartete Theater-Skandal hat also nicht stattgefunden. Natürlich wird es Verrisse geben, natürlich gab es Pfiffe und Buhrufe, aber sie klangen nicht unbedingt so, als ob sie ein Muss und dringendes Herzensbedürfnis ihrer Urheber gewesen wären. Sie waren eher ein Spiegelbild dafür, dass der in der Festspielgeschichte beispiellose Medien-Hype eben doch seine Spuren hinterlässt. Christoph Schlingensief als Haupturheber wird schon wissen, was er tut, Wolfgang und Katharina Wagner tun das sicher auch.
Erwarten Sie nun bitte nicht, dass ich Ihnen haarklein erkläre, was alles warum so und nicht anders geschieht! Was Schlingensief und sein Team – Daniel Angermayr und Thomas Goerge (Bühnenbild), Tabea Braun (Kostüme), Voxi Bärenklau (Lichtdesign), Ulrich Niepel (Licht), Meika Dresenkamp (Video) und Carl Hegemann (dramaturgische Mitarbeit) – auf die Bühne gestellt haben, entzieht sich zumindest teilweise herkömmlichen Deutungs- und Erläuterungsmustern. Die Bilder- und Assoziationsflut ist schlichtweg zu groß.
Womit auch schon ein wesentlicher Punkt angesprochen wäre. Richard Wagners Bühnenweihfestspiel ist mit dieser Produktion im Hier und Heute, im Jahr 2004 angekommen, ist unmittelbarer Ausdruck einer chaotischen Welt, die nicht mehr weiß wohin mit der Fülle ihrer Bilder und Informationen: der „Parsifal“ als schier endloser und doch kurzweiliger Videoclip, als trashige MTV-Mammutsendung mit Links ins World Wide Web, wo man auf alles und gar nichts eine Antwort findet.
Was Schlingensief weiß, ist nicht unbedingt das, was Operngänger und Wagnerkenner erwarten. Seine Art von Inszenierung hat nicht den Ehrgeiz, die Handlung für den Zuschauer unmittelbar nachvollziehbar zu machen, sondern stellt sie in einen ganz individuellen, wenn man so will egomanischen Interpretationsrahmen, von dem aus man Schritt für Schritt womöglich neue Wege zu „Parsifal“ (der wahrscheinlich das einzige Werk Wagners ist, das einen schlingensiefschen Zugriff aushält) finden kann.
Es ist kein Zufall, dass auch die große diesjährige Festspielausstellung „Wege zu Parsifal“ heißt, deren Titel sich konkret auf einen Programmheftaufsatz des Dirigenten Pierre Boulez aus dem Jahr 1970 bezieht. Schon ein erster Blick auf die Katalogbroschüre und ins aktuelle Programmbuch der diesjährigen Festspiele macht deutlich, worin die aktuelle Produktion sich wesentlich von ihren Vorgängern unterscheidet: Während man den spezifischen Charakter von früheren Interpretationen an einigen wenigen Szenen wiedererkennt, entzieht sich die jetzige solchen Standbildern.
Der neue Bayreuther „Parsifal“ ist von einer stupenden, den Zuschauer fordernden, sicher auch überfordernden Bildkraft, die niemals statisch, sondern stets lebendig, im Fluss ist. Das mit filmischen Mitteln überreich ausgestattete szenische Arrangement ist ein scheint’s nach allen Richtungen sich stetig verändernder, pulsierender Organismus, der konkret und doch irreal ist und sich klar nur dort verorten lässt, wo alles zusammenfließt: im menschlichen Gehirn, in der Erinnerung, in der unendlich schnellen und doch zeitlosen Bilderflut, die unmittelbar dem Tod vorausgeht.
Der Mythos, den das Schlingensief-Team visualisiert hat, ist eine durchaus abenteuerliche Mischung aus Ingredienzien, die für sich genommen auch aberwitzig, abwegig, unreflektiert sein mögen, aber in der Summe Sinn machen. Auf der Drehbühne, die alle Schauplätze synchronisiert, vollzieht sich wie in einem mehrschichtigen, gleichzeitig ablaufenden Film das, was Wagner im „Parsifal“ abhandelt: eine Art Läuterung, ein schmerzensreicher Weg, verbunden mit Ritualen, durch die der Mensch – vergeblich – versucht, seinen eigenen Tod in den Griff zu bekommen.
Der hier wie ein präraffaelitischer Jesus wirkende Parsifal, der sich im 1. Akt noch mit Vertretern aller Weltreligionen, also nicht nur mit dem Christentum konfrontiert sieht und eintaucht in für ihn und uns fremde Kulturen, gewinnt im Vorgriff auf seinen Tod Einsichten, die ihn empfindsam machen für das kreatürliche Leid: Der Schwan, den er getötet hat, ist ein Sinnbild, das Schlingensief mit Bildern von Hasen überlagert, deren mythologische Bedeutung in jedem besseren Nachschlagewerk ausführlich beschrieben ist.
Soll man fragen, warum Kundry im 3. Akt so ausladend kostümiert ist wie die als eine Art Fruchtbarkeitsgöttin fungierende, eindrucksvoll in sich ruhende Statistin im 1. Akt? Muss man unmittelbar verstehen, warum in diesem dem Verfall geweihten Niemandsland Robben sich im Tanz wiegen und eine ältere Dame immer wieder auch ins Auditorium winkt? Darf es angehen, dass auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses wieder einmal Oberammergauer Laientheater stattfindet, obwohl fast alle Protagonisten es nachweislich besser können? Sind Personenregie und Psychologie für Schlingensief Fremdwörter?
Auch Parsifal wird von Gurnemanz viel gefragt und weiß keine Antworten. Der Regisseur und sein Team sind naiv wie Parsifal – und Kundry und Klingsor und Amfortas und Titurel undsoweiter, die ebenso wie auch Richard Wagner ihre Fragen ans Publikum weitergeben. Es sind – ohne erhobenen Zeigefinger – moralische Fragen. Und die tatsächlich bunt zusammengewürfelte Menschenschar auf der Bühne schließt, ohne deshalb in ein beliebiges Friede-Freude-Eierkuchen-Gefühl abzusinken, niemanden aus und alle – selbstverständlich auch Farbige und Behinderte – ein.
Vorausgesetzt man ist überhaupt bereit, sich auf dieses Festspielabenteuer einzulassen! Ein erstklassiges Vorbild dafür ist Pierre Boulez, der die ungewöhnliche Produktion nicht nur nach Kräften unterstützt und gefördert, sondern durch seine musikalische Interpretation erst möglich macht: Er dirigiert den „Parsifal“ ungemein rasch – ins schier Unendliche zerdehnte Längen à la James Levine würden auch die Szene rasch ins Nirwana befördern – und beglaubigt damit das Fortschreiten, das Vorwärtsdrängen, die ständige Bewegung, den Kreislauf der Inszenierung.
Das Festspielorchester nimmt das Tempo auf als wäre es sein ureigener Rhythmus und Atem, spielt traumhaft luzide und leicht, lässt alles Dröhnende und Schwere, den angeblichen Wagnerklang eben, weit hinter sich und findet zu einer Klarheit und Übersicht, wie sie auch dem Schöpfer dieser wunderbaren Musik zu eigen gewesen sein mag, als er die Komposition seinem Festspielhaus auf den hölzernen Klangleib geschrieben hat.
Was den Künstler Pierre Boulez ausmacht, der uns teilhaben lässt an seiner in vielen Jahrzehnten gewachsenen immensen Musik-Erfahrung, wurde auch bei seinem Solobeifall in der Premiere deutlich: Er entzog sich dem einhelligen Jubel und den sich gerade aufbauenden Standing Ovations, indem er dezent und rasch wieder hinter dem Vorhang verschwand und sich fortan nur noch gemeinsam mit den durchweg guten bis sehr guten Solisten, den wie immer herausragenden Choristen unter Eberhard Friedrich und dem Inszenierungsteam zeigte. Bravo Maestro!
Weltabschiedswerk in heiterer Zartheit
Christoph Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“ rundet sich in seinem zweiten Aufführungsjahr.
Fränkischer Tag, 1. August 2005 (ungekürzte Version)
„It’s Wagner“, sagte nach dem Buhgewitter im Zuschauerraum und dem anschließenden Orkan draußen die amerikanische Rockpoetin Patti Smith. „It’s his energy“. Und meinte das in positivem Sinne, auch und gerade in Bezug auf die „Parsifal“-Inszenierung, die den diesjährigen Premierenreigen in Bayreuth beschloss.
Eine außerordentliche Energieleistung in der Tat, und zwar von allen Beteiligten: Jetzt erst, in ihrem zweiten Aufführungsjahr ist – wie vorhergesagt – diese Inszenierung ganz bei sich angekommen. Christoph Schlingensief und sein Team haben die Werkstatt-Chance genutzt, viel geändert und verbessert, insbesondere was die Personenführung betrifft.
Das Bühnenbild mit ganz unterschiedlichen Bauten zwischen eingezäuntem Elendsquartier und klassischen Architekturen auf der randvoll gestellten Drehbühne ist im Wesentlichen gleich geblieben, wurde allerdings spürbar im Kleinteiligen entrümpelt und wirkt dadurch deutlich besser strukturiert und je nach Beleuchtung sogar überraschend transparent.
Auch die im Vorjahr noch alle anderen Eindrücke überlagernden Videobilderfluten auf den viel bewegten Projektionstüchern sind so zurückgenommen, dass sie zwar nach wie vor der Aufführung ihren Stempel aufdrücken, aber auch hier gilt: Weniger ist mehr. Umgekehrt sorgen zwei Doubles für größere szenische Prägnanz. Parsifal und Kundry sind fast ständig präsent und begegnen zuweilen gleichsam sich selbst.
Das klingt verwirrender als es ist. Die Doppelgänger schärfen das Profil der Figuren, geben Einblicke in deren Vorgeschichte oder greifen voraus und ermöglichen die gleichzeitige Darstellung bestimmter Aspekte, die man so noch nie gesehen hat. Das noch im Vorjahr beklagte Laienspieltheater ist einer fast zu stark auf Psychologie fußenden, insgesamt überzeugend sich rundenden Personenregie gewichen.
Wo der Regisseur eindeutig vom Textbuch abweicht, macht es Sinn. So verwundet der schwarze Voodoo-Zauberer Klingsor auch Kundry, deren Stöhnen zu Beginn des Schlussakts damit eine ganz reale Begründung erfährt. Und ausgerechnet der Buhmann Schlingensief beschert dem Publikum letztendlich das, was es in anderen Produktionen so schmerzlich vermisst: ein glückliches Paar! Wie im dritten Akt Kundry und Amfortas zueinander finden, ist ein kleiner großer Theatermoment, der mir auf immer haften bleibt in der Erinnerung.
Solisten, Statisten und die auch stimmlich großartigen Choristen treten wie befreit auf und mit jener Selbstverständlichkeit, die szenische Glaubwürdigkeit erst herstellt. Hier zahlt sich bestimmt auch der Wechsel des Titelprotagonisten aus. Endrik Wottrich, der sich im Premierenjahr nicht zu schade war für eine öffentliche Schlammschlacht gegen Schlingensief, sang den Parsifal bestimmt schöner als jetzt Alfons Eberz. Dafür ist Letzterer aber darstellerisch so intensiv, dass man das allzu Laute und noch Ungefüge gern in Kauf nimmt.
Michelle de Young hat sich hörbar gesteigert; sie kann in den kommenden Aufführungen so viel Selbstvertrauen tanken, dass sich das, was ihrer Kundry noch an stimmlichen Abgründen fehlt, von selbst einstellen wird. John Wegners bezwingender Klingsor, der niemals larmoyante Amfortas von Alexander Marco-Buhrmester und Kwangchul Youn als Titurel singen auf hohem Festspielniveau.
Selbst der darstellerisch oft hölzern wirkende Robert Holl als Gurnemanz beglaubigt die Inszenierung. Er ist sozusagen die historische Instanz und wirkt in seinem Zottelbart und -pelz, in seinem neuen Rupfenkostüm des dritten Akts wie ein ferner Gruß von Emil Scaria aus der Uraufführungsproduktion. Der Regisseur hat also einen Weg gefunden, seiner aufrichtigen Bewunderung der sängerischen Kompetenz Holls den passenden szenischen Rahmen zu geben.
Was diese Inszenierung im Kern von allen bisherigen unterscheidet, ist ihre Weltoffenheit. Von Schlingensief lernen wir, dass der Weltkünstler Wagner nicht eine bestimmte Religion gemeint haben kann, sondern dass es Glauben, Dogmen und Riten überall gibt, dass Wagners Weltabschiedswerk die letzten Dinge zwar zwangsläufig in unserer christlichen Kultur verortet hat, aber weit darüber hinaus interpretiert werden kann und muss – in einem Korridor von Zeit und Raum, wo der Titurel-Sarg von anno 1882 und der Video-Clip aus dem 21. Jahrhundert mit den zu Wagnerklängen sich wiegenden Robben zu einer Einheit finden.
Pierre Boulez im Orchestergraben unterstreicht das. Wie schon im Vorjahr ist seine musikalische Interpretation wunderbar leicht, ganz frei von Schwüle, falscher Süßigkeit, frei von Unzartheit und jeglichem Pathos, frei auch von dem Weihrauch, der sich schon eingefressen hatte bis hin zum absurden „Applausverbot“ nach dem ersten Akt, diesem schrecklich langlebigen Missverständnis.
Es ist ein großes Geschenk, Boulez noch einmal in Bayreuth erleben zu dürfen. Was ihn von den anderen Hügel-Dirigenten unterscheidet, liegt auf der Hand. Selbst ein Komponist findet er im großen Bogen wie im kleinsten Detail einen wissenden und klar strukturierten Weg durch „der Irrnis und der Leiden Pfade“, die hier in einem gleißend hellen Lichtkorridor, im Nirwana des Festspielhauses enden.
Schon der vibratolose Streicherklang, mit dem er das Vorspiel ganz behutsam aus dem Abgrund anwachsen lässt, macht deutlich, dass Diskussionen um seine Schnelligkeit müßig sind. Bei Boulez ist der „Parsifal“ nur zwölf Minuten kürzer als bei der Uraufführung unter Hermann Levi, über dessen „geschleppten“ Tempi sich Richard Wagner – nachzulesen in Cosimas Tagebüchern – immer wieder beklagte.
Und wie in den aufregenden Jahren des Chéreau-„Rings“ 1976 bis 1980 zeigte sich der Dirigent jetzt wieder ostentativ mit einem heftig ausgebuhten Regisseur. Ein denkwürdiger Abend, dem in dieser Konstellation nur noch vier weitere folgen werden. Dann wird der überaus jung gebliebene, 80-jährige Magier Pierre Boulez endgültig seinen Abschied vom Festspielhaus nehmen. Wer das Privileg hat, eine seiner letzten „Parsifal“-Aufführungen zu erleben, der kann das „Hier knien“, das Schlingensief auf den Boden der Drehbühne eingelassen hat, plötzlich nicht mehr nur als ironisches Aperçu sehen. Danke Pierre Boulez.
Im wilden und blutigen Bilderkarussell
Auch im dritten Aufführungsjahr reagiert das Publikum gespalten auf die ungeheure Bilderflut, die der Allround-Künstler Christoph Schlingensief auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses kippt.
Fränkischer Tag, 4. August 2006 (ungekürzte Version)
Was für eine anachronistische Welt! Auf der einen Seite hält sich das Festspielpublikum nach wie vor eisern an das von Wagner dezidiert nicht gewollte Applaus-„Verbot“ nach dem 1. Akt „Parsifal“, auf der anderen brüllen, pfeifen und johlen die Herrschaften am Ende geradezu lustvoll los, als befände man sich nicht in einem altehrwürdigen Theater, sondern auf dem Fußballplatz oder in einer billigen Fernsehshow.
Wo sind wir hier? Hart am Ziel, endlich angekommen im Hier und Jetzt, im 21. Jahrhundert. Christoph Schlingensief, der fröhlich winkende Fahrdienstleiter, hat seinen Parsifallografen nochmals getuned und neu justiert und nimmt die mehrheitlich eher glücklichen Festspielkarteninhaber mit auf seine aberwitzig wilde und blutige Bühnenweihfestspiel-Reise, wo man nicht genau weiß, wird die Zeit hier zum Raum oder ist es doch nicht umgekehrt.
Die rasante Drehbühnenfahrt, die das „Parsifal“-Karussell seit dem Festspielsommer 2004 aufgenommen hat, ist noch lange nicht an einem Endpunkt angekommen. Für die überbordende Fantasie des Künstlers Schlingensief, der schon im Premierenjahr die Opernwelt mit einer inkommensurablen Bilderfülle schockierte, überwältigte, ratlos machte, erstaunte und begeisterte, gibt es offenbar keine Grenzen.
Nach den ersten Überarbeitungen, ein paar Zurücknahmen und Verbesserungen, wie sie in der „Werkstatt Bayreuth“ üblich sind, hat er jetzt – vielleicht auch dank seiner neuen Kundry Evelyn Herlitzius – doch Wesentliches verändert. Die neue und starke Einbeziehung arabischer Schriftzeichen in die Bildwelt der Inszenierung, die jetzt auch arabischen Gewänder für die mehrfach gespaltene Kundry und ihre Doubles mögen auf den ersten Blick politisch-modisch wirken und nach islamistichem Terror riechen, sind aber weit davon entfernt.
Schade, dass es nur in der Pressemappe und nicht für jeden Besucher eine Handreichung gibt, die darüber aufklärt, dass Schlingensief hier einen Text Friedrich Hölderlins aus dem „Hyperion“ in der arabischen Welt verortet: „Wie sollten wir den Trieb, unendlich fortzuschreiten, uns zu läutern, uns zu veredlen, zu befrein, verleugnen?“, heißt es da unter anderem.
War Kundry, die vermeintliche Terroristin, nicht schon vor mehr als zwei Jahrtausenden in der Gegend? Hat sie nicht Balsam von dort mitgebracht für den todwunden Amfortas? Kurz gesagt: Schlingensief nimmt vieles im „Parsifal“, insbesondere die Weihe- und Sterberituale, sehr ernst und spiegelt sie drastisch und in einer Welt, die eben nicht nur aus unserer abendländischen Kultur, sondern aus einer beeindruckenden Vielfalt von Kulturen dieser Welt fußt.
Natürlich könnte man ihm Beliebigkeit vorwerfen. Denn erstens kippt Schlingensief so viele reale, szenische und filmische Bilder, so viele Ideen auf die Bühne, dass die Zuschauer zwangsläufig überfordert sind und auswählen müssen. Und zweitens setzt er sich, so genau er vieles nimmt, auch über das, was in der Handlung vorgegeben ist, und selbst über seine eigenen, schon gefundenen Lösungen immer wieder einfach hinweg: das Schlingensief-Kunstwerk als Perpetuum mobile.
Aber erst jetzt, nachdem ich die ergreifende Szene gesehen habe, wie Parsifal in seiner Klage auch Amfortas umarmt und man nicht mehr weiß, wer da wen tröstet, erst jetzt, wo Klingsor auch im 3. Akt präsent und aktiv ist, habe ich verstanden, warum der Festspiel-Pressesprecher (wie schon berichtet) diese Produktion als „künstlerisch sehr gut ausgereift“ in die schnelle Absetzung nach dem Festspielsommer 2007 weggelobt hat.
Schlingensief soll seinen „Parsifal“ nicht „endlos weiter pflegen“ dürfen. Die Begründung ist eine propagandistische Meisterleistung: Der Hauptgrund sei, „dass man dem Publikum in der heutigen schnelllebigen Zeit immer öfter etwas Neues anbieten müsse“. Aber hallo! Genau das macht dieser aus dem Rahmen gefallene Regisseur doch gerade, und zwar in hohem Maße. Nein, ein derart einfallsreicher Künstler ist ein Angriff auf den Wagneroperngemischtwarenladen, der vor allem reibungslos laufen soll und in Wahrheit längst an allen Ecken und Enden stöhnt und ächzt. „Die Bilder werden bleiben“ steht jetzt sehr gut lesbar auf einem der Bühnenbildteile. Stimmt.
Bleibt noch von dem Glück zu sprechen, das Schlingensief empfunden haben muss, als er mit der ungemein bühnenpräsenten Evelyn Herlitzius zu proben begann. Sie ist bestimmt die Kundry seines Herzens. Sie singt nicht so kultiviert und stimmschön wie Vorgängerin Michelle de Young, aber dafür stehen ihr alle Farben von Zerrissenheit, Sehnsucht und Schmerz zur Verfügung. Der Parsifal von Alfons Eberz ist nach wie vor stimmlich zu laut und ungefüg, aber er passt in diese Inszenierung genauso gut wie der wunderbar sich immer mehr in die Uraufführungszeiten verflüchtigende Gurnemanz von Robert Holl, der magisch-dämonische Klingsor von John Wegner und der wunderbare Schmerzensmann Amfortas von Alexander Marco-Burmester.
Dass die „Parsifal“-Musik unter Adam Fischer anders klingen würde als bei Pierre Boulez, war klar. Aus den lichten Höhen der Klarheit und Leichtigkeit ist das Bühnenweihfestspiel hinabgestürzt in einen soliden und klangmächtigen Wagner-Alltag, wo auch mal schiere Lautstärke sein darf und die von Eberhard Friedrich einstudierten Chöre so auftrumpfen, dass einem fast Angst und bange werden könnte. Aber auch das kann ganz schön großartig sein.
Zitat: „Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod, von nichts zu wissen und vernichtet sein ist eins für uns.“ Aus: Friedrich Hölderlin, Hyperion
2007 durfte ich diese wunden- und wundervolle „Parsifal“-Inszenierung, die insgesamt 21 mal im Festspielhaus aufgeführt wurde, nochmals erleben, habe allerdings nicht darüber geschrieben. Weitere Infos und Links zu Christoph Schlingensief finden Sie im aktuellen Tagestipp vom 21. August bzw. später in den älteren Tipps und Links.
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