Cosimas 43. Geburtstag

Kein Ad­vents­ka­len­der mehr. Aber die im Wag­ner­haus­halt üb­li­che Fest­ver­tei­lung – Weih­nach­ten an Hei­lig­abend, Co­si­mas Ge­burts­tags­fei­er dann erst mit ei­nem Tag Ver­spä­tung – soll nicht un­ter den Ga­ben­tisch fal­len. Schließ­lich ver­dan­ken wir der Ta­ge­buch­schrei­be­rin in den letz­ten 24 Ta­gen einiges.

Franz von Len­bach: Co­si­ma Wag­ner, Öl auf Lein­wand 1879 – Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung Bayreuth

Sonn­abend 25ten [De­zem­ber 1880] „Ge­schreib­sel, Ge­bleib­sel!“ … Wie be­schrei­ben, wie nur schrei­ben? … Die Kin­der­chen stim­men ihr Lied an nach der ers­ten Um­ar­mung und sin­gen es herr­lich – dann brin­gen sie mir „die Spin­de“ und was al­les dar­in! … Die vor 50 Jah­ren von R. ab­ge­schrie­be­ne 9te Sym­pho­nie[1], er hat sie für mich von Frl. Uh­l­ig[2] er­obert! Herr­lich ge­schrie­ben, ihn selbst durch den Fleiß er­freu­end, der al­ler­dings, wenn ich den­ke, wie es in die­sem 17jährigen Kop­fe spru­deln muß­te, un­be­greif­lich ist. Dann ein schö­nes al­tes Hals­band, R. nennt es: der Kuß von Frau Vogl[3], weil, wie er es beim An­ti­quar aus­such­te, Frau Vogl her­ein­stürz­te und ihn lei­den­schaft­lich um­arm­te: „So et­was er­le­ben Sie nie wie­der“, sagt R. zu dem Ver­käu­fer, „Sie soll­ten mir die Sa­che 100 Mark wohl­fei­ler las­sen“, „das ist wahr“, mein­te der Mann, und R. sagt, bald hät­te er ihm die Sa­che um­sonst ge­ge­ben. Dann ein gol­de­nes Herz, ein al­tes Salz­fäß­chen und vie­le Klei­nig­kei­ten von den Kin­dern, die alle, eine nach der and­ren, aus den Fä­chern von mir her­aus­ge­nom­men wer­den und von R. und den Kin­dern er­läu­tert. In mei­ner Stu­be fin­de ich ei­nen Tisch, von Fidi[4] mir ge­schrei­nert! und schö­ne, be­zie­hungs­vol­le Skiz­zen von Jou­kow­sky[5]. Der Vor­mit­tag ver­geht in freund­li­chem Glück­wün­schen, und R. sagt, er möch­te in ei­nem fort trin­ken, er kön­ne gar nichts tun, nichts schrei­ben. – Da der Kö­nig[6] gü­tig in ei­ner De­pe­sche mei­ner ge­dacht hat, so dankt ihm R.: und ent­sen­det der Son­ne Ge­burts­tags-Won­ne! Bei Tisch bringt R. mei­ne Ge­sund­heit aus, ich fol­ge schwer, weil das, was uns er­füllt, nicht in Wor­ten vor and­ren, und sei­en es die Nächs­ten, wie­der­zu­ge­ben ist. Nach Tisch sagt er mir: „Du ver­zeihst, daß ich so sprach.“ – Ach! er ist wohl und hei­ter, und ich soll­te eine an­de­re Emp­fin­dung als über­strö­men­den Dank ha­ben. – Am Nach­mit­tag schneit es, Frau Hol­le gra­tu­lie­re mir, sagt R. – Ich be­ge­be mich zur Ruhe, R. auch, dann aber ge­rät er un­ten in ein phi­lo­so­phi­sches Ge­spräch mit Freund Rub.[7], wel­cher die Welt ab­schaf­fen möch­te! - Die Mahl­zeits-Ge­sprä­che gel­ten all den Nö­ten der Über­ra­schun­gen; das Nicht-An­kom­men der Spin­de, die Er­fin­dung von der Ab­rei­se von Frl. Uh­l­ig und vie­les. Abends wird das le­ben­de Bild wie­der­holt, wel­ches R. zu Trä­nen er­greift, und das herr­li­che „Ge­schreib­sel, Ge­bleib­sel“ wie­der­holt. Dann spielt R. mit Rub. die „Euryanthe“-Ouvertüre[8], und wie er sie ge­spielt hat, um­armt er mich, in­dem er aus­ruft: »O We­ber, ich lie­be ihn eben­so wie dich; nein nicht ganz so«, fügt er hin­zu. Er er­geht sich dar­auf in Er­in­ne­run­gen an W.[9], den die Dresd­ner Hum­pel­ma­rie nann­ten, ent­sinnt sich sei­nes Gan­ges, sei­nes Bli­ckes, et­was müde, und er­klär­te den Ernst sei­nes Schaf­fens in ei­nem so ver­wahr­los­ten Gen­re wie der Oper aus dem Be­wußt­sein sei­nes frü­hen To­des. R. führt die­sen Ge­dan­ken ge­rührt, er­grei­fend aus. Dann sagt er den Kin­dern: „Jetzt sin­ge ich et­was für Mama“, und er singt aus dem ers­ten Akt die Stel­le, wo Eur. von Lys­i­art[10] ab­ge­holt wird, in­dem er zu mir die Wor­te wen­det: „Wo du er­scheinst“[11]. – – Dann ge­hen wir zur Be­spre­chung von „Fi­de­lio“ über, wel­chen R. als des Kom­po­nis­ten der Sym­pho­nien nicht wür­dig er­klärt, trotz herr­li­cher Ein­zel­hei­ten; und das Fi­na­le von „Fi­de­lio“ wird vor­ge­nom­men (vor dem Abend­brot hat­te R. die C dur Ouv. durch­ge­nom­men und ihr den Vor­zug vor der gro­ßen Leo­no­ren-Ouv., die mehr al fres­co ge­zeich­net sei, [ge­ge­ben]; die­se C dur aber sei nicht für die Mas­se ge­macht). Wie Jouk[owsky] be­merkt, Beeth[oven] und R. sei­en die Kom­po­nis­ten der Freu­de, meint R., das Fi­na­le des Lo­hen­grin mei­ne er wohl, aber er sei we­nig dazu ge­kom­men, denn das Dra­ma bräch­te im­mer die Lei­den­schaft mit hin­ein. – Mei­ne Ge­sund­heit wird un­auf­hör­lich ge­trun­ken, in hei­trer und er­ha­be­ner Wei­se. U.a. Scher­zen, die R. seit ges­tern öf­ters er­zählt, ge­hört die­ser aus den Fl[iegenden]  Bl[ättern]: Lieu­ten­ant zum and­ren: „Wie viel glau­ben Sie, daß hier Kühe sind?“ – „77“ – „Wie kön­nen Sie das wis­sen?“ „Ganz ein­fach, ich habe die Bei­ne ge­zählt und sie durch 4 di­vi­diert“; R. meint, daß al­les Wis­sen jetzt un­ge­fähr so sei! – – Der Abend wird be­schlos­sen, an­däch­tig kniee ich vor Dem, des­sen Se­gen ein­zig mich sei­ner wür­dig ma­chen kann. Und als wir ru­hig lie­gen, höre ich sei­ne Stim­me lei­se sa­gen: „Ich bin glück­lich, ich bin glück­lich, jetzt könn­te ich ster­ben, denn al­les ist er­füllt – was kommt, ist Zutat.“ – – –

Fuß­no­ten
[1] RW hat­te 1830 die Par­ti­tur von Beet­ho­vens Neun­ter kom­plett ab­ge­schrie­ben und ei­nen Kla­vier­aus­zug zu zwei Hän­den ver­fasst (WWV 9); ers­te­re hat sich er­hal­ten, weil RW das sei­nem Freund Theo­dor Uh­l­ig (sie­he auch Ad­vents­ka­len­der 2. De­zem­ber 1880) ge­wid­me­te und ge­schenk­te Ori­gi­nal von des­sen Toch­ter Elsa 1880 zu­rück­er­hal­ten hat, ver­mut­lich ge­gen eine Geld­sum­me, denn für die Ori­gi­nal­b­rie­fe RWs an Uh­l­ig (der Schrift­wech­sel um­fasst al­lein über 100 Brie­fe RWs) woll­te sie spä­ter 3000 Mark.
[2] Uh­l­ig, Elsa, Toch­ter von RWs früh ver­stor­be­nen Freund Theo­dor Uh­l­ig. RW hat den Wunsch nach Rück­ga­be und Ab­schrif­ten wie folgt be­grün­det: „Die Ver­ge­bung mei­ner Re­li­qui­en an Freun­de war bei mir eine Art von lei­den­schaft­li­cher Für­sor­ge für die­sel­ben, zu ei­ner Zeit, wo ich, ganz kin­der­los, al­lein in der Welt stand. Das Schick­sal hat mir jetzt Fa­mi­lie, und un­ter mei­ner Nach­kom­men­schaft ei­nen hoff­nungs­rei­chen Sohn ver­lie­hen. Wenn ich aus der Welt schei­de, hin­ter­las­se ich Nie­mand, der ein gleich in­ni­ges In­ter­es­se an je­dem Mo­men­te mei­nes Le­bens und sei­ner Wirk­sam­keit hat, als die­sen Sohn.“
[3] Vogl, The­re­se (geb. Tho­ma, 1845–1921), So­pra­nis­tin und Frau des Wag­ner- und Bay­reuth-Te­nors Hein­rich Vogl; bei­de san­gen ab 1869 in Mün­chen die wich­ti­gen Wagnerpartien.
[4] Eine Ab­bil­dung des schrei­nern­den Fidi (= Sieg­fried Wag­ner) fin­det sich im Ad­vents­ka­len­der Nr. 24.
[5] Jou­kow­ski, Paul von (1845–1912), Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog mit nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Fa­mi­lie; aus­führ­li­che­re In­fos im Ad­vent­ka­len­der Nr. 24.
[6] Kö­nig Lud­wig II. von Bay­ern (1845–1886), ab sei­nem Amts­an­tritt 1864 le­bens­lan­ger zen­tra­ler Mä­zen RWs, schick­te ne­ben Ge­schen­ken, die erst spä­ter an­ka­men, ein gro­ßes Blu­men­bou­quet nach Wahn­fried und schrieb in sei­nem an RW ge­rich­te­ten Weih­nachts­brief: „Ich er­su­che Sie, Ih­rer ed­len Gat­tin, die ja auch, wie Sie mir eins­tens sag­ten, ein Weih­nachts­kind ist, mei­ne in­nigs­ten Se­gens­wün­sche, die es mich auch auf die­sem Wege aus­zu­drü­cken drängt, in mei­nem Na­men zu über­mit­teln und auch die Kin­der freund­schaft­lichst von mir zu grü­ßen.“ RW wie­der­um schil­der­te das Dop­pel­fest in Wahn­fried dem Kö­nig wie folgt: „ – – Mein hol­der Freund, – in Wahn­fried reg­te es sich mild und trau­lich. Die Mut­ter ward den Kin­dern wie­der­ge­bo­ren, und diess soll­te – wie Al­les was zu mei­nem theu­ren Wei­be in Be­zie­hung tritt – mit ei­nem ah­nungs­vol­len künst­le­ri­schen Spie­le ge­fei­ert wer­den. Un­ter der ge­fühl­vol­len An­lei­tung un­se­res un­ge­mein wert­hen Freun­des, Paul Jou­kow­sky, ward ein le­ben­des Bild ge­stellt: eine hei­li­ge Fa­mi­lie. Un­ver­gleich­lich schön in Tracht, Hal­tung und Ver­wert­hung der phy­sio­gno­mi­schen Ei­gent­hüm­lich­kei­ten, kam fol­gen­de Grup­pe zum Vor­schein: Mut­ter Ma­ria (Da­nie­la), sor­gen­voll an­be­tend vor dem Kna­ben Je­sus (Sieg­fried), mit dem Ho­bel am Schrei­ner­ti­sche sich übend – (Sieg­fried er­lernt näm­lich auch das Schrei­nern bei ei­nem hie­si­gen Tisch­ler – aus wich­ti­gen Grün­den für sei­ne Er­zie­hung!) –, so­dann hin­ter der Mut­ter, ernst der ver­kün­den­den En­gel­mu­sik lau­schend, Jo­seph (von Pep­pi­no, dem nea­po­li­ta­ni­schen Ad­op­tiv-Soh­ne Joukowsky’s , dar­ge­stellt); dar­über, ganz nach der nai­ven Dar­stel­lungs­wei­se der al­ten ita­lie­ni­schen Ma­ler, drei mu­si­zi­ren­de En­gel: Blan­di­ne (als Lau­ten­spie­le­rin), Eva (als Flö­ten­blä­se­rin) und hoch Isol­de, mit der Vio­la. Hier­zu wur­de auf der klei­nen Haus­or­gel der An­fangs-Cho­ral aus den Meis­ter­sin­gern ge­spielt. Der be­geis­ter­te Aus­druck je­des Ein­zel­nen, so­wie der Ein­druck des Gan­zen wa­ren für mich so über­wäl­ti­gend rüh­rend, dass ich Freund Jou­kow­sky ver­an­lasst habe, das Bild [sie­he Ad­vents­ka­len­der-Nr. 24] hier­von na­tur­ge­treu zu ma­len; diess wird nun sei­ne nächs­te Ar­beit sein, von wel­cher ich mir ganz Vor­züg­li­ches ver­hof­fe. – Das Haupt­ge­schenk für mei­ne Frau mach­te die von mir aus dem Nach­las­se ei­nes längst ver­stor­be­nen Freun­des aquir­ir­te Ab­schrift der neun­ten Sym­pho­nie Beethoven’s [aus], wel­che ich als be­geis­ter­ter, aber nicht reich­lich aus­ge­stat­te­ter, sie­ben­zehn­jäh­ri­ger jun­ger Mensch vor nun ge­ra­de fünf­zig Jah­ren (1830) mir an­ge­fer­tigt, und spä­ter­hin je­nem Freun­de zum An­denken ge­schenkt hat­te, als ich Dres­den 1849 ver­liess. Die­se Ab­schrift ist äus­serst zier­lich, und ist jetzt der Lieb­lings­be­sitz mei­ner Frau.“
[7] Ru­bin­stein, Jo­seph (1847–1884), aus Russ­land stam­men­der jü­di­scher Pia­nist, kam noch in Trib­schen zu Wag­ner, wur­de un­ent­gelt­li­ches Mit­glied der sog. Ni­be­lun­gen­kanz­lei auch in Bay­reuth und Haus­pia­nist der Fa­mi­lie; aus­führ­li­che­re In­fos im Ad­vent­ka­len­der Nr. 16.
[8] Oper von Carl Ma­ria von Weber
[9] We­ber, Carl Ma­ria Fried­rich Ernst von (1786–1826), Kom­po­nist, den RW als Kind noch er­lebt hat­te und den er spä­ter als ei­nen sei­ner Vor­läu­fer ima­gi­nier­te. Von Ge­burt an litt W. an ei­ner Fehl­bil­dung der Hüf­te, erst mit vier Jah­ren, als er schon Sän­ger und Kla­vier­spie­ler war, lern­te er laufen.
[10] Fi­gu­ren aus We­bers Eu­ryan­the.
[11] „Wo du er­scheinst, da wird die Wild­nis hel­le“, Lys­i­art zu Eu­ryan­the, in Eu­ryan­the I, 7. Auftritt.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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