Kein Adventskalender mehr. Aber die im Wagnerhaushalt übliche Festverteilung – Weihnachten an Heiligabend, Cosimas Geburtstagsfeier dann erst mit einem Tag Verspätung – soll nicht unter den Gabentisch fallen. Schließlich verdanken wir der Tagebuchschreiberin in den letzten 24 Tagen einiges.
Sonnabend 25ten [Dezember 1880] „Geschreibsel, Gebleibsel!“ … Wie beschreiben, wie nur schreiben? … Die Kinderchen stimmen ihr Lied an nach der ersten Umarmung und singen es herrlich – dann bringen sie mir „die Spinde“ und was alles darin! … Die vor 50 Jahren von R. abgeschriebene 9te Symphonie[1], er hat sie für mich von Frl. Uhlig[2] erobert! Herrlich geschrieben, ihn selbst durch den Fleiß erfreuend, der allerdings, wenn ich denke, wie es in diesem 17jährigen Kopfe sprudeln mußte, unbegreiflich ist. Dann ein schönes altes Halsband, R. nennt es: der Kuß von Frau Vogl[3], weil, wie er es beim Antiquar aussuchte, Frau Vogl hereinstürzte und ihn leidenschaftlich umarmte: „So etwas erleben Sie nie wieder“, sagt R. zu dem Verkäufer, „Sie sollten mir die Sache 100 Mark wohlfeiler lassen“, „das ist wahr“, meinte der Mann, und R. sagt, bald hätte er ihm die Sache umsonst gegeben. Dann ein goldenes Herz, ein altes Salzfäßchen und viele Kleinigkeiten von den Kindern, die alle, eine nach der andren, aus den Fächern von mir herausgenommen werden und von R. und den Kindern erläutert. In meiner Stube finde ich einen Tisch, von Fidi[4] mir geschreinert! und schöne, beziehungsvolle Skizzen von Joukowsky[5]. Der Vormittag vergeht in freundlichem Glückwünschen, und R. sagt, er möchte in einem fort trinken, er könne gar nichts tun, nichts schreiben. – Da der König[6] gütig in einer Depesche meiner gedacht hat, so dankt ihm R.: und entsendet der Sonne Geburtstags-Wonne! Bei Tisch bringt R. meine Gesundheit aus, ich folge schwer, weil das, was uns erfüllt, nicht in Worten vor andren, und seien es die Nächsten, wiederzugeben ist. Nach Tisch sagt er mir: „Du verzeihst, daß ich so sprach.“ – Ach! er ist wohl und heiter, und ich sollte eine andere Empfindung als überströmenden Dank haben. – Am Nachmittag schneit es, Frau Holle gratuliere mir, sagt R. – Ich begebe mich zur Ruhe, R. auch, dann aber gerät er unten in ein philosophisches Gespräch mit Freund Rub.[7], welcher die Welt abschaffen möchte! - Die Mahlzeits-Gespräche gelten all den Nöten der Überraschungen; das Nicht-Ankommen der Spinde, die Erfindung von der Abreise von Frl. Uhlig und vieles. Abends wird das lebende Bild wiederholt, welches R. zu Tränen ergreift, und das herrliche „Geschreibsel, Gebleibsel“ wiederholt. Dann spielt R. mit Rub. die „Euryanthe“-Ouvertüre[8], und wie er sie gespielt hat, umarmt er mich, indem er ausruft: »O Weber, ich liebe ihn ebenso wie dich; nein nicht ganz so«, fügt er hinzu. Er ergeht sich darauf in Erinnerungen an W.[9], den die Dresdner Humpelmarie nannten, entsinnt sich seines Ganges, seines Blickes, etwas müde, und erklärte den Ernst seines Schaffens in einem so verwahrlosten Genre wie der Oper aus dem Bewußtsein seines frühen Todes. R. führt diesen Gedanken gerührt, ergreifend aus. Dann sagt er den Kindern: „Jetzt singe ich etwas für Mama“, und er singt aus dem ersten Akt die Stelle, wo Eur. von Lysiart[10] abgeholt wird, indem er zu mir die Worte wendet: „Wo du erscheinst“[11]. – – Dann gehen wir zur Besprechung von „Fidelio“ über, welchen R. als des Komponisten der Symphonien nicht würdig erklärt, trotz herrlicher Einzelheiten; und das Finale von „Fidelio“ wird vorgenommen (vor dem Abendbrot hatte R. die C dur Ouv. durchgenommen und ihr den Vorzug vor der großen Leonoren-Ouv., die mehr al fresco gezeichnet sei, [gegeben]; diese C dur aber sei nicht für die Masse gemacht). Wie Jouk[owsky] bemerkt, Beeth[oven] und R. seien die Komponisten der Freude, meint R., das Finale des Lohengrin meine er wohl, aber er sei wenig dazu gekommen, denn das Drama brächte immer die Leidenschaft mit hinein. – Meine Gesundheit wird unaufhörlich getrunken, in heitrer und erhabener Weise. U.a. Scherzen, die R. seit gestern öfters erzählt, gehört dieser aus den Fl[iegenden] Bl[ättern]: Lieutenant zum andren: „Wie viel glauben Sie, daß hier Kühe sind?“ – „77“ – „Wie können Sie das wissen?“ „Ganz einfach, ich habe die Beine gezählt und sie durch 4 dividiert“; R. meint, daß alles Wissen jetzt ungefähr so sei! – – Der Abend wird beschlossen, andächtig kniee ich vor Dem, dessen Segen einzig mich seiner würdig machen kann. Und als wir ruhig liegen, höre ich seine Stimme leise sagen: „Ich bin glücklich, ich bin glücklich, jetzt könnte ich sterben, denn alles ist erfüllt – was kommt, ist Zutat.“ – – –
Fußnoten
[1] RW hatte 1830 die Partitur von Beethovens Neunter komplett abgeschrieben und einen Klavierauszug zu zwei Händen verfasst (WWV 9); erstere hat sich erhalten, weil RW das seinem Freund Theodor Uhlig (siehe auch Adventskalender 2. Dezember 1880) gewidmete und geschenkte Original von dessen Tochter Elsa 1880 zurückerhalten hat, vermutlich gegen eine Geldsumme, denn für die Originalbriefe RWs an Uhlig (der Schriftwechsel umfasst allein über 100 Briefe RWs) wollte sie später 3000 Mark.
[2] Uhlig, Elsa, Tochter von RWs früh verstorbenen Freund Theodor Uhlig. RW hat den Wunsch nach Rückgabe und Abschriften wie folgt begründet: „Die Vergebung meiner Reliquien an Freunde war bei mir eine Art von leidenschaftlicher Fürsorge für dieselben, zu einer Zeit, wo ich, ganz kinderlos, allein in der Welt stand. Das Schicksal hat mir jetzt Familie, und unter meiner Nachkommenschaft einen hoffnungsreichen Sohn verliehen. Wenn ich aus der Welt scheide, hinterlasse ich Niemand, der ein gleich inniges Interesse an jedem Momente meines Lebens und seiner Wirksamkeit hat, als diesen Sohn.“
[3] Vogl, Therese (geb. Thoma, 1845–1921), Sopranistin und Frau des Wagner- und Bayreuth-Tenors Heinrich Vogl; beide sangen ab 1869 in München die wichtigen Wagnerpartien.
[4] Eine Abbildung des schreinernden Fidi (= Siegfried Wagner) findet sich im Adventskalender Nr. 24.
[5] Joukowski, Paul von (1845–1912), Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog mit nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie; ausführlichere Infos im Adventkalender Nr. 24.
[6] König Ludwig II. von Bayern (1845–1886), ab seinem Amtsantritt 1864 lebenslanger zentraler Mäzen RWs, schickte neben Geschenken, die erst später ankamen, ein großes Blumenbouquet nach Wahnfried und schrieb in seinem an RW gerichteten Weihnachtsbrief: „Ich ersuche Sie, Ihrer edlen Gattin, die ja auch, wie Sie mir einstens sagten, ein Weihnachtskind ist, meine innigsten Segenswünsche, die es mich auch auf diesem Wege auszudrücken drängt, in meinem Namen zu übermitteln und auch die Kinder freundschaftlichst von mir zu grüßen.“ RW wiederum schilderte das Doppelfest in Wahnfried dem König wie folgt: „ – – Mein holder Freund, – in Wahnfried regte es sich mild und traulich. Die Mutter ward den Kindern wiedergeboren, und diess sollte – wie Alles was zu meinem theuren Weibe in Beziehung tritt – mit einem ahnungsvollen künstlerischen Spiele gefeiert werden. Unter der gefühlvollen Anleitung unseres ungemein werthen Freundes, Paul Joukowsky, ward ein lebendes Bild gestellt: eine heilige Familie. Unvergleichlich schön in Tracht, Haltung und Verwerthung der physiognomischen Eigenthümlichkeiten, kam folgende Gruppe zum Vorschein: Mutter Maria (Daniela), sorgenvoll anbetend vor dem Knaben Jesus (Siegfried), mit dem Hobel am Schreinertische sich übend – (Siegfried erlernt nämlich auch das Schreinern bei einem hiesigen Tischler – aus wichtigen Gründen für seine Erziehung!) –, sodann hinter der Mutter, ernst der verkündenden Engelmusik lauschend, Joseph (von Peppino, dem neapolitanischen Adoptiv-Sohne Joukowsky’s , dargestellt); darüber, ganz nach der naiven Darstellungsweise der alten italienischen Maler, drei musizirende Engel: Blandine (als Lautenspielerin), Eva (als Flötenbläserin) und hoch Isolde, mit der Viola. Hierzu wurde auf der kleinen Hausorgel der Anfangs-Choral aus den Meistersingern gespielt. Der begeisterte Ausdruck jedes Einzelnen, sowie der Eindruck des Ganzen waren für mich so überwältigend rührend, dass ich Freund Joukowsky veranlasst habe, das Bild [siehe Adventskalender-Nr. 24] hiervon naturgetreu zu malen; diess wird nun seine nächste Arbeit sein, von welcher ich mir ganz Vorzügliches verhoffe. – Das Hauptgeschenk für meine Frau machte die von mir aus dem Nachlasse eines längst verstorbenen Freundes aquirirte Abschrift der neunten Symphonie Beethoven’s [aus], welche ich als begeisterter, aber nicht reichlich ausgestatteter, siebenzehnjähriger junger Mensch vor nun gerade fünfzig Jahren (1830) mir angefertigt, und späterhin jenem Freunde zum Andenken geschenkt hatte, als ich Dresden 1849 verliess. Diese Abschrift ist äusserst zierlich, und ist jetzt der Lieblingsbesitz meiner Frau.“
[7] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist, kam noch in Tribschen zu Wagner, wurde unentgeltliches Mitglied der sog. Nibelungenkanzlei auch in Bayreuth und Hauspianist der Familie; ausführlichere Infos im Adventkalender Nr. 16.
[8] Oper von Carl Maria von Weber
[9] Weber, Carl Maria Friedrich Ernst von (1786–1826), Komponist, den RW als Kind noch erlebt hatte und den er später als einen seiner Vorläufer imaginierte. Von Geburt an litt W. an einer Fehlbildung der Hüfte, erst mit vier Jahren, als er schon Sänger und Klavierspieler war, lernte er laufen.
[10] Figuren aus Webers Euryanthe.
[11] „Wo du erscheinst, da wird die Wildnis helle“, Lysiart zu Euryanthe, in Euryanthe I, 7. Auftritt.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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