Tagebuch-Adventskalender (12)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Im Wahn­fried-Saal von links Ri­chard und Co­si­ma Wag­ner, Hein­rich von Stein, Paul von Jou­kow­sky, Da­nie­la und Blan­di­ne von Bülow. Fo­to­gra­fie vom 23. Au­gust 1881 (Adolf von Groß), Vor­la­ge: Gun­ther Bra­am „Ri­chard Wag­ner in der zeit­ge­nös­si­schen Fotografie“

Sonn­tag 12ten [De­zem­ber 1880] Eine üble Nacht folg­te die­sen schö­nen Er­re­gun­gen, und mir ist es, als ob mein ar­mer Kopf mir den Dienst ver­sa­gen will! In der Frü­he meint R., „jetzt hät­ten wir die Stim­mung des ers­ten Sat­zes“. – Er geht ar­bei­ten, klagt aber, daß er In­stru­men­te brau­che, die er gar nicht hät­te, müß­te wel­che er­fin­den, und zwar nicht etwa, um mehr Lärm zu ma­chen, son­dern aus­zu­drü­cken, was er woll­te. Spä­ter sagt er mir, er wür­de für Po­sau­nen und Trom­pe­ten sich ent­schei­den (es han­delt sich um den Ab­gang nach dem See), so selt­sam das wäre, es wür­de sich schon gut ma­chen wie da­mals die Trom­pe­ten und Flö­ten in der Faust-Ou­ver­tü­re. – Bei Tisch bringt es die An­sicht un­se­res Freun­des Stein[1] über das Recht, Men­schen zu op­fern ei­ner Idee we­gen (Ma­rat)[2], daß R. die Mei­nung von Car­lyle[3] ver­tritt, die Re­vo­lu­ti­on sei eine toll ge­wor­de­ne Tri­via­li­tät; und er sagt, wo al­les dar­auf an­kom­me, durch das Men­schen­le­ben die Idee zu be­sie­geln, müs­se man sich dann selbst op­fern. Beim Kaf­fee kom­men ihn Er­in­ne­run­gen an die Auf­füh­run­gen an, na­ment­lich an die ers­te Sce­ne Rhein­gold, und er meint, daß man gar nicht ge­wür­digt hät­te, was hier ge­leis­tet wur­de. – Wir ver­su­chen aus­zu­ge­hen, aber es ist durch das Wet­ter un­mög­lich. Ich be­grü­ße ihn in sein[em] Stüb­chen und sage ihm, daß er doch un­recht habe zu sa­gen, der Tag er­fül­le kei­nen Wunsch, mir we­nigs­tens sei al­les er­füllt, wenn er zu­frie­den sei. – Wor­auf er: „Es ist auch un­rich­tig auf­ge­stellt; wir ha­ben kei­nen Wunsch, nur was uns von au­ßen kommt, macht uns kei­ne Freu­de, ist zu er­tra­gen.“ – Abends mit Stein die Fra­ge der Er­zie­hung ei­nes Kna­ben, R. möch­te, daß die all­mäh­li­chen Ent­ste­hun­gen in ih­ren Wand­lun­gen dem Kin­de re­li­gi­ös bei­gebracht wer­den in der Art, wie die Brah­ma­nen[4] die Welt-Schöp­fung lehr­ten dem Vol­ke. Wir le­sen dann wei­ter in der No­vel­le von Cer­van­tes[5] mit un­ge­misch­ter Freude.

Fuß­no­ten
[1] Stein zu Nord- und Ost­heim, Karl Edu­ard Hein­rich Frei­herr von (1857–1887), Phi­lo­soph und Schrift­stel­ler (Pseud­onym Ar­mand Pen­sier), 1879/80 Haus­leh­rer von Fidi (= Sieg­fried Wag­ner), an­schlie­ßend Pri­vat­do­zent in Hal­le. Ab 1884 lehr­te er in Ber­lin, wo­bei er auch Vor­le­sun­gen über RW und Scho­pen­hau­er hielt. Sei­ne phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten be­han­deln Fra­gen der Äs­the­tik, z. B. Goe­the und Schil­ler, Bei­trä­ge zur Äs­the­tik der deut­schen Klas­si­ker oder Zur Kul­tur der See­le. Zu RW gab er meh­re­re Schrif­ten her­aus, dar­un­ter (mit Carl Fried­rich Gla­sen­app) ein Wag­ner-Le­xi­kon, für sei­ne Kon­zep­ti­on der Hel­den in den Dra­mo­let­ten oder Dia­lo­gen von Hel­den und Welt (1883) schrieb RW kurz vor sei­nem Tod noch das Vor­wort. Ehe St. ein äu­ße­rer Er­folg in sei­ner aka­de­mi­schen Lauf­bahn be­schie­den war, er­krank­te er Mit­te Juni 1887 plötz­lich und starb mit nur 30 Jah­ren an ei­nem Herz­lei­den. Co­si­mas Be­zie­hung zu St. ist, wie Diet­rich Mack, Mit­her­aus­ge­ber der Ta­ge­bü­cher und des Stan­dard­werks Co­si­ma Wag­ner. Das zwei­te Le­ben schreibt, „wohl nur der zu Fe­lix Mottl zu ver­glei­chen, eine sehr in­ten­si­ve Mi­schung aus Ach­tung und Zärt­lich­keit; was Nietz­sche in Trib­schen war, soll­te St. In Bay­reuth sein; sein Tod schmerz­te wie kaum ein an­de­rer.“ Ih­rem spä­te­ren Schwie­ger­sohn Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain schrieb sie kurz nach St.‘s 13. To­des­tag: „Ich habe Stein nicht nur ge­liebt, son­dern ver­ehrt wie ei­nen auf un­se­rer Erde wan­deln­den Erzengel.“
[2] Ma­rat, Jean Paul (1744–1793), fran­zö­si­scher Sprach­leh­rer, Pu­bli­zist, Arzt und Re­vo­lu­tio­när; schloss sich Dan­ton an, hat­te 1792 an den Sep­tem­ber­mor­den An­teil, wur­de 1793 Prä­si­dent des Ja­ko­bi­ner­klubs und von Char­lot­te Corday ermordet.
[3] Car­lyle, Tho­mas C. (1795–1881), schot­ti­scher Schrift­stel­ler, häu­fig in Deutsch­land, be­schäf­tig­te sich mit Li­te­ra­tur und Phi­lo­so­phie, schrieb his­to­ri­sche Bio­gra­phien und Wer­ke über deut­sche Klas­si­ker, über­setz­te Goe­the; war po­li­tisch für Re­for­men; be­ton­te die Rol­le der Per­sön­lich­keit in der Ge­schich­te. In Trib­schen wie in Wahn­fried ge­hör­ten sei­ne Wer­ke zur Abend­lek­tü­re, dar­un­ter sein Fried­rich II. von Preu­ßen in sechs Bän­den und, eben­so um­fang­reich, „On He­roes, Hero-wor­ship and the He­roic in Histo­ry“ in Originalsprache.
[4] Brah­ma­ne = An­ge­hö­ri­ger der in­di­schen Priesterkaste.
[5] Cer­van­tes, Mi­guel de (1547–1616), spa­ni­scher Na­tio­nal­dich­ter und auch von RW hoch­ge­schätz­ter Au­tor des Don Qui­jo­te u.v.a. Sei­ne Pre­zio­sa-No­vel­le (Die Ge­schich­te des Zi­geu­ner­mäd­chens) ist seit 5. De­zem­ber Abend­lek­tü­re in Wahnfried.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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