Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Sonntag 12ten [Dezember 1880] Eine üble Nacht folgte diesen schönen Erregungen, und mir ist es, als ob mein armer Kopf mir den Dienst versagen will! In der Frühe meint R., „jetzt hätten wir die Stimmung des ersten Satzes“. – Er geht arbeiten, klagt aber, daß er Instrumente brauche, die er gar nicht hätte, müßte welche erfinden, und zwar nicht etwa, um mehr Lärm zu machen, sondern auszudrücken, was er wollte. Später sagt er mir, er würde für Posaunen und Trompeten sich entscheiden (es handelt sich um den Abgang nach dem See), so seltsam das wäre, es würde sich schon gut machen wie damals die Trompeten und Flöten in der Faust-Ouvertüre. – Bei Tisch bringt es die Ansicht unseres Freundes Stein[1] über das Recht, Menschen zu opfern einer Idee wegen (Marat)[2], daß R. die Meinung von Carlyle[3] vertritt, die Revolution sei eine toll gewordene Trivialität; und er sagt, wo alles darauf ankomme, durch das Menschenleben die Idee zu besiegeln, müsse man sich dann selbst opfern. Beim Kaffee kommen ihn Erinnerungen an die Aufführungen an, namentlich an die erste Scene Rheingold, und er meint, daß man gar nicht gewürdigt hätte, was hier geleistet wurde. – Wir versuchen auszugehen, aber es ist durch das Wetter unmöglich. Ich begrüße ihn in sein[em] Stübchen und sage ihm, daß er doch unrecht habe zu sagen, der Tag erfülle keinen Wunsch, mir wenigstens sei alles erfüllt, wenn er zufrieden sei. – Worauf er: „Es ist auch unrichtig aufgestellt; wir haben keinen Wunsch, nur was uns von außen kommt, macht uns keine Freude, ist zu ertragen.“ – Abends mit Stein die Frage der Erziehung eines Knaben, R. möchte, daß die allmählichen Entstehungen in ihren Wandlungen dem Kinde religiös beigebracht werden in der Art, wie die Brahmanen[4] die Welt-Schöpfung lehrten dem Volke. Wir lesen dann weiter in der Novelle von Cervantes[5] mit ungemischter Freude.
Fußnoten
[1] Stein zu Nord- und Ostheim, Karl Eduard Heinrich Freiherr von (1857–1887), Philosoph und Schriftsteller (Pseudonym Armand Pensier), 1879/80 Hauslehrer von Fidi (= Siegfried Wagner), anschließend Privatdozent in Halle. Ab 1884 lehrte er in Berlin, wobei er auch Vorlesungen über RW und Schopenhauer hielt. Seine philosophischen Schriften behandeln Fragen der Ästhetik, z. B. Goethe und Schiller, Beiträge zur Ästhetik der deutschen Klassiker oder Zur Kultur der Seele. Zu RW gab er mehrere Schriften heraus, darunter (mit Carl Friedrich Glasenapp) ein Wagner-Lexikon, für seine Konzeption der Helden in den Dramoletten oder Dialogen von Helden und Welt (1883) schrieb RW kurz vor seinem Tod noch das Vorwort. Ehe St. ein äußerer Erfolg in seiner akademischen Laufbahn beschieden war, erkrankte er Mitte Juni 1887 plötzlich und starb mit nur 30 Jahren an einem Herzleiden. Cosimas Beziehung zu St. ist, wie Dietrich Mack, Mitherausgeber der Tagebücher und des Standardwerks Cosima Wagner. Das zweite Leben schreibt, „wohl nur der zu Felix Mottl zu vergleichen, eine sehr intensive Mischung aus Achtung und Zärtlichkeit; was Nietzsche in Tribschen war, sollte St. In Bayreuth sein; sein Tod schmerzte wie kaum ein anderer.“ Ihrem späteren Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain schrieb sie kurz nach St.‘s 13. Todestag: „Ich habe Stein nicht nur geliebt, sondern verehrt wie einen auf unserer Erde wandelnden Erzengel.“
[2] Marat, Jean Paul (1744–1793), französischer Sprachlehrer, Publizist, Arzt und Revolutionär; schloss sich Danton an, hatte 1792 an den Septembermorden Anteil, wurde 1793 Präsident des Jakobinerklubs und von Charlotte Corday ermordet.
[3] Carlyle, Thomas C. (1795–1881), schottischer Schriftsteller, häufig in Deutschland, beschäftigte sich mit Literatur und Philosophie, schrieb historische Biographien und Werke über deutsche Klassiker, übersetzte Goethe; war politisch für Reformen; betonte die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. In Tribschen wie in Wahnfried gehörten seine Werke zur Abendlektüre, darunter sein Friedrich II. von Preußen in sechs Bänden und, ebenso umfangreich, „On Heroes, Hero-worship and the Heroic in History“ in Originalsprache.
[4] Brahmane = Angehöriger der indischen Priesterkaste.
[5] Cervantes, Miguel de (1547–1616), spanischer Nationaldichter und auch von RW hochgeschätzter Autor des Don Quijote u.v.a. Seine Preziosa-Novelle (Die Geschichte des Zigeunermädchens) ist seit 5. Dezember Abendlektüre in Wahnfried.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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