Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Freitag 24ten [Dezember 1880] R. sagt mir, er wünscht, daß Wolz.[1] H. v. Weber[2] auffordre, eine Art Aufruf zu Gunsten der Boers im Transvaal-Land für die Blätter[3] aufzusetzen, so daß die bevorstehenden Auswanderungen dahin gelenkt würden. – Am Vormittag scheint die Sonne, und R. fordert mich auf, mit ihm im Hofgarten zu spazieren, sie ist aber bald verdunkelt, und wir kehren heim. R. erzählt mir während des Spaziergangs, daß er weniger Freude habe an der Reise von Jacolliot[4], als er erwartet habe, denn das Beschimpfen der Deutschen sei widerwärtig, sie würden als die von den Engländern losgelassenen Hunde und Barbaren betrachtet. Wie könne man sich so erniedrigen, den Gegner, der uns besiegte, herabzusetzen, wir Deutschen hätten wenigstens die Franzosen wie Götter (1804 etc.) angesehen. Am Nachmittag gehen wir wiederum aus, und wie ich R. ausspreche, wie lieb mir diese Wanderungen sind mit ihm, bei welchen es mir schien, als ob wir, allen Lebens-Ballast hinter uns lassend, einem unnennbaren Ziel entgegen wanderten, „das Ziel“, sagt er, „ist die Erhaltung des Flämmchen, daß dieses noch eine Zeit lang leuchte“. – Dann erzählt er mir von seiner Kindheit, wie er mit 5 Jahren den Piccolo-Flöten-Triller des Kaspar[5], da er nicht singen konnte, mit Perrbip nachgemacht habe, auf einen Stuhl gestiegen sei, als Samiel[6] herübergeguckt habe über ein imaginäres Gebüsch und „Perrbip, Perrbip“ gesagt. Um 7 Uhr beschere ich ihm das „Goldkleid“, sage ihm, er würde als Christkindchen erwartet (um ihm zu erklären, daß die Kinder nicht mit uns zum erleuchteten Baum kommen). – Das lebende Bild, herrlich gestellt und gehalten von den Kindern, erfreut und ergreift ihn, er wünscht, es von Joukowsky[7] gemalt zu haben. Das Weihnachten für Marke[8] macht auch Freude, und heiter vergeht der Abend, dem der Baum bis zum Schluß leuchtet. Fidi’s[9] Porträt, von Jouk. R. geschenkt, freut ihn auch. Vor allem die lieben Kinder, welche herrlich im Bilde aussahen (drei musizierende Engel: Boni[10], Loldi[11], Eva[12], Fidi hobelnd: das Christuskind, Lulu[13] die Madonna, betend; abseits Pepino[14]: der h. Joseph). – Rubinstein[15] spielt den ersten Choral der M[eister]singer zum Bild. – Letztes Wort von R.: Jetzt habe ich Mitleid mit deiner Mutter.[16] –[17]
Fußnoten
[1] Wolzogen, Hans Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung 1878 bis zu seinem Tod, das heißt sechs Jahrzehnte lang, redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete. Mehr über W. finden Sie hier.
[2] Weber, Ernst von (1830–1902), war ein Reiseschriftsteller, der sich u.a. für längere Zeit in Südafrika aufhielt, ein Befürworter der deutschen Kolonisation sowie Bekämpfer von Tierversuchen. Seinem 1879 gegründeten Internationalen Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Thierfolter traten Liszt und RW bei, letzterer verfasste zudem seinen Offenen Brief an Ernst von Weber, Verfasser der „Folterkammern der Wissenschaft“ für die Oktobernummer der Bayreuther Blätter. Ein halbes Jahr Monate später lasen die Wagners auch von Webers Broschüre Der Unabhängigkeitskampf der Boers in Südafrika.
[3] Bayreuther Blätter, Hauspublikation der Festspiele von 1878 bis 1938, zunächst als Monats-, dann als Vierteljahresschrift, redigiert von Hans von Wolzogen.
[4] Jacolliot, Louis (1837–1890), französ. Konsul in Kalkutta während des zweiten Kaiserreichs, Orientreisender und mit Recht umstrittener Autor und Indologe; seit November 1880 beschäftigte RW sich u.a. mit dessen Voyage aux pays des éléphants.
[5] Figur aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz
[6] Figur aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz
[7] Joukowsky (auch Jukowsky), Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog mit seinem wahlweise singenden „Diener“, „Adoptiv-Sohn“ [so RW am 19.6.1881 an König Ludwig II.], de facto aber Liebhaber Pepino nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie, deren Mitglieder er immer wieder porträtierte. Das von RW gewünschte Auftragswerk „Die heilige Familie“ fertigte J. 1881 in großem Format mit einer Ausnahme so, wie das lebende Bild an Heiligabend 1880 stattfand: anstelle von Pepino malte sich in der Rolle des Joseph jedoch der Maler selbst und verewigte oben rechts auch noch Arthur Gobineau als Säulenheiligen. Das Tempera-Gemälde, das J. unten links mit dem für seine Bilder offenbar obligatorischen Maikäfer signierte, sollte eine Überraschung zu RWs 68. Geburtstag am 22. Mai 1881 sein. Ein Photo des Gemäldes bekam anschließend auch Ludwig II., mit entsprechenden Erläuterungen: „Das Ganze ist im Style eines alten Kirchenblattes, in lichter Farbe, wie wir dergleichen in alten Kirchen Italiens öfters sahen, ausgeführt.“ Das Gemälde ist seit der Bombardierung Wahnfrieds 1945 verschollen. Unter Wagnerianern machte J. sich spätestens am Vorabend von RWs Tod in Venedig gewissermaßen unsterblich, denn er sollte im Palazzo Vendramin, während der Komponist aus Fouqués Undine vorlas, in einer Tagebuchkladde Cosimas die berühmte Skizze R lesend anfertigen, das letzte Bildnis des lebenden Wagner. Bei RWs Beerdigung am 16. Februar 1883 fungierte er als Sargträger.
[8] Neufundländer RWs, über dessen Weihnachtsgeschenk 1880 ich leider nichts Näheres gefunden habe; wenn es kein Zubehör (Halsband? Leine? Riesiger Schlafkorb aus Lichtenfels?) war, könnte es aber trotz des verbal zunehmenden Vegetarismus’ bei RW auch fleischlicher Natur gewesen sein.
[9] Fidi = Siegfried Wagner (1869–1930), einziger und auf ziemlich krummen Wegen nachträglich auch juristisch abgesegneter Sohn von Cosima und Richard Wagner und späterer Dichterkomponist und Festspielleiter; im „Lebenden Bild“ kein Geringerer als das hobelnde Jesuskind.
[10] Boni = Ponsch = Blandine von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Gräfin Gravina), zweite Tochter von Cosima und Hans von Bülow; im „Lebenden Bild“ der Laute spielende, blond gelockte Engel.
[11] Loldi = Isolde Josepha Ludovika von Bülow (1865–1919, ab 1900 verh. Beidler), erste Tochter von Cosima von Bülow und Richard Wagner mit Hans von Bülow trotz Rechtsstreit 1914 als juristischem Vater; im „Lebenden Bild“ der Geige spielende zweite Engel von links.
[12] Eva von Bülow (1867–1942, ab 1908 verh. Chamberlain), zweite Tochter von Cosima von Bülow und Richard Wagner mit Hans von Bülow als juristischem Vater, im „Lebenden Bild“ der flötende Engel links.
[13] Lulu = Loulou = Lusch = Senta = Daniela von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Thode), erste Tochter von Cosima und Hans von Bülow, im „Lebenden Bild“ Maria.
[14] aus Neapel stammender singender „Diener“, „Adoptiv-Sohn“ und junger Liebhaber von Paul von Joukowsky (siehe oben sowie auch 22. Dezember)
[15] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist, kam noch in Tribschen zu Wagner, wurde unentgeltliches Mitglied der sog. Nibelungenkanzlei auch in Bayreuth und Hauspianist der Familie; ausführlichere Infos am 16. Dezember.
[16] Keine Ahnung, was RW damit gemeint haben könnte! Marie d’Agoult, die Mutter Cosimas, war bereits 1876 gestorben, d.h. dieser isolierte Satz will zumindest momentan uns und vermutlich auch sich selbst „ein ewig Rätsel“ bleiben.
[17] Unten am Rand, unter Sonnabend, nachgetragen: „Zum Kaffee (Freitag) erzählt uns R., daß Schnappauf [Bernhard S., RWs Barbier, auch auf Reisen] ihm den Scherz mitgeteilt, der hiesige Wasenmeister [Georg Babel, Abdecker in Bayreuth] habe ihm gesagt, da R. so gut mit dem König stünde, möchte er ihm doch die eben erledigte Stelle des Scharfrichters verschaffen.“ Jetzt aber endlich auf zur Bescherung!
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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