Tagebuch-Adventskalender (4)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Im Wahn­fried-Saal fan­den Emp­fän­ge, Fei­ern,  Haus­kon­zer­te, die abend­li­chen Ge­sprä­che, Le­sun­gen und Kar­ten­spie­le statt. Su­san­ne Schin­kels  Aqua­rell von 1876 ist die ein­zi­ge Farb­ab­bil­dung aus der Zeit. Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung Bayreuth

Sonn­abend 4ten [De­zem­ber 1880] Ich konn­te die Nacht über nicht schla­fen, und R. war un­ru­hig. In der Frü­he sagt er zu mir: „Ges­tern ist mir die Tra­gik des Le­bens an ei­nem Bei­spie­le recht auf­ge­gan­gen; es ist nicht neu, aber es trat mir deut­lich nahe, näm­lich daß die Spöt­ter des Idea­lis­ten, des Hel­den, recht be­hal­ten wie Me­phis­to[1], Sancho Pan­sa[2]. – Den Hel­den be­seelt et­was, was sie nie be­grei­fen wer­den, aber was auch über das Le­ben hin­aus­geht“, ich: „Das ist auch das Tra­gi­sche der Lie­be, sie for­dert Glück, wel­ches im Le­ben nicht mög­lich ist.“ – R.: „Ja, aber da­durch, daß sie nicht aus die­sem Le­ben stammt, macht sie es ein­zig er­träg­lich.“ – Auf sei­ne Kor­re­spon­denz mit Uh­l­ig[3] kom­mend, sagt er: „Ach! Die­se Zeit der Le­thar­gie, des nichts tun Kön­nen, wäh­rend al­les in mir Schaf­fens­drang war.“ – – – Es ist üb­les Wet­ter, und er emp­fin­det star­kes Au­gen­lei­den. Ein Zi­tat aus der Fr. Mu­sik- Zei­tung[4] von H. Eh­lert[5], daß der einst so be­deu­ten­de Mann (R.) sich in sei­ne Ato­me zer­set­ze, bringt mich zu der Äu­ße­rung ge­gen R., daß das ein­zi­ge Un­recht von „Re­li­gi­on und Kunst“[6] sei, ge­druckt zu sein, was ihm nicht miß­fällt. – Er sagt mir, daß im Bade ihm das Cont­re-The­ma von dem An­dan­te der A dur Sym­pho­nie[7] be­son­ders leb­haft ein­ge­fal­len sei und wie eine Of­fen­ba­rung auf ihn ge­wirkt habe! „Was ist das gött­lich, wenn in un­se­rer Welt plötz­lich so et­was er­klingt, und so schön.“ – Beethoven’sche Me­lo­die und Shakespeare’sche Sce­nen, das sei für ihn al­les. – Abends be­spricht er mit Freund Wolz.[8] die Aus­brei­tung der Blät­ter[9] und kommt auf die in „Re­li­gi­on und Kunst“ nie­der­ge­leg­ten Ge­dan­ken zu­rück, auch auf die Aus­wan­de­rung und auf den ei­nen be­geis­ter­ten Men­schen, der mit re­li­giö­sem Be­wußt­sein das in’s Werk set­zen müß­te. „Lei­der müß­te der ein Ver­mö­gen ha­ben.“ – – Dar­auf spielt uns Freund Rub.[10], und sehr schön, das Es dur Quar­tett von Beeth. zu R.’s größ­ter Freu­de. Er um­armt mich am Schluß und bricht in Freu­de-Aus­drü­cke nach je­dem Sat­ze aus. – Ich höre nur wie aus wei­ter Fer­ne und gleich­sam ver­mit­telt, mein Kopf ist sehr er­mü­det, und die Angst, nicht mehr zu ge­nü­gen, hat sich mei­ner be­mäch­tigt. – Er ar­bei­tet an sei­ner Partitur.

Fuß­no­ten
[1] Haupt­fi­gur im Faust-Dra­ma von Goethe.
[2] Haupt­fi­gur im Don Qui­jo­te-Ro­man von Cervantes.
[3] Uh­l­ig, Theo­dor (1822–1853), Vio­li­nist, Freund RWs in Dres­den, er­stell­te den ers­ten Lo­hen­grin-Kla­vier­aus­zug und las Kor­rek­tur bei RWs Oper und Dra­ma. We­gen der Sich­tung von RWs Kor­re­spon­denz mit ihm in den Zür­cher Jah­ren war dies ab Ok­to­ber 1880 wo­chen­lang ein Thema.
[4] Mu­si­ka­li­sches Wo­chen­blatt, hrsg. von dem Leip­zi­ger Mu­sik­ver­le­ger Ernst Wil­helm Fritzsch, der ei­ni­ge klei­ne­re Wer­ke RWs veröffentlichte.
[5] Eh­lert, Lou­is (1825–1884), Mu­sik­schrift­stel­ler und Komponist.
[6] Re­li­gi­on und Kunst, im Som­mer 1880 in Nea­pel ver­fass­te, letz­te grö­ße­re theo­re­ti­sche Ab­hand­lung RWs, die Ar­beit an Par­si­fal begleitend.
[7] Sin­fo­nie Nr. 7 A-Dur op. 92 von Beethoven
[8] Wolz­o­gen, Hans Paul Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch ausrichtete.
[9] Bay­reu­ther Blät­ter, Haus­pu­bli­ka­ti­on der Fest­spie­le von 1878 bis 1938, zu­nächst als Mo­nats-, dann als Vierteljahresschrift.
[10] Ru­bin­stein, Jo­seph (1847–1884), aus Russ­land stam­men­der jü­di­scher Pia­nist, kam noch in Trib­schen zu Wag­ner, wur­de un­ent­gelt­li­ches Mit­glied der sog. Ni­be­lun­gen­kanz­lei auch in Bay­reuth und Haus­pia­nist der Familie.

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fußnoten

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