Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Sonnabend 4ten [Dezember 1880] Ich konnte die Nacht über nicht schlafen, und R. war unruhig. In der Frühe sagt er zu mir: „Gestern ist mir die Tragik des Lebens an einem Beispiele recht aufgegangen; es ist nicht neu, aber es trat mir deutlich nahe, nämlich daß die Spötter des Idealisten, des Helden, recht behalten wie Mephisto[1], Sancho Pansa[2]. – Den Helden beseelt etwas, was sie nie begreifen werden, aber was auch über das Leben hinausgeht“, ich: „Das ist auch das Tragische der Liebe, sie fordert Glück, welches im Leben nicht möglich ist.“ – R.: „Ja, aber dadurch, daß sie nicht aus diesem Leben stammt, macht sie es einzig erträglich.“ – Auf seine Korrespondenz mit Uhlig[3] kommend, sagt er: „Ach! Diese Zeit der Lethargie, des nichts tun Können, während alles in mir Schaffensdrang war.“ – – – Es ist übles Wetter, und er empfindet starkes Augenleiden. Ein Zitat aus der Fr. Musik- Zeitung[4] von H. Ehlert[5], daß der einst so bedeutende Mann (R.) sich in seine Atome zersetze, bringt mich zu der Äußerung gegen R., daß das einzige Unrecht von „Religion und Kunst“[6] sei, gedruckt zu sein, was ihm nicht mißfällt. – Er sagt mir, daß im Bade ihm das Contre-Thema von dem Andante der A dur Symphonie[7] besonders lebhaft eingefallen sei und wie eine Offenbarung auf ihn gewirkt habe! „Was ist das göttlich, wenn in unserer Welt plötzlich so etwas erklingt, und so schön.“ – Beethoven’sche Melodie und Shakespeare’sche Scenen, das sei für ihn alles. – Abends bespricht er mit Freund Wolz.[8] die Ausbreitung der Blätter[9] und kommt auf die in „Religion und Kunst“ niedergelegten Gedanken zurück, auch auf die Auswanderung und auf den einen begeisterten Menschen, der mit religiösem Bewußtsein das in’s Werk setzen müßte. „Leider müßte der ein Vermögen haben.“ – – Darauf spielt uns Freund Rub.[10], und sehr schön, das Es dur Quartett von Beeth. zu R.’s größter Freude. Er umarmt mich am Schluß und bricht in Freude-Ausdrücke nach jedem Satze aus. – Ich höre nur wie aus weiter Ferne und gleichsam vermittelt, mein Kopf ist sehr ermüdet, und die Angst, nicht mehr zu genügen, hat sich meiner bemächtigt. – Er arbeitet an seiner Partitur.
Fußnoten
[1] Hauptfigur im Faust-Drama von Goethe.
[2] Hauptfigur im Don Quijote-Roman von Cervantes.
[3] Uhlig, Theodor (1822–1853), Violinist, Freund RWs in Dresden, erstellte den ersten Lohengrin-Klavierauszug und las Korrektur bei RWs Oper und Drama. Wegen der Sichtung von RWs Korrespondenz mit ihm in den Zürcher Jahren war dies ab Oktober 1880 wochenlang ein Thema.
[4] Musikalisches Wochenblatt, hrsg. von dem Leipziger Musikverleger Ernst Wilhelm Fritzsch, der einige kleinere Werke RWs veröffentlichte.
[5] Ehlert, Louis (1825–1884), Musikschriftsteller und Komponist.
[6] Religion und Kunst, im Sommer 1880 in Neapel verfasste, letzte größere theoretische Abhandlung RWs, die Arbeit an Parsifal begleitend.
[7] Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 von Beethoven
[8] Wolzogen, Hans Paul Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete.
[9] Bayreuther Blätter, Hauspublikation der Festspiele von 1878 bis 1938, zunächst als Monats-, dann als Vierteljahresschrift.
[10] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist, kam noch in Tribschen zu Wagner, wurde unentgeltliches Mitglied der sog. Nibelungenkanzlei auch in Bayreuth und Hauspianist der Familie.
Quelle: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten
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