Tagebuch-Adventskalender (1)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Ta­ges­po­li­tik war in Wahn­fried ein stän­di­ges The­ma: Hier eine Bis­marck-Ka­ri­ka­tur aus dem „Klad­de­ra­datsch“ zum So­zia­lis­ten­ge­setz. Vor­la­ge: Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Hei­del­berg https://​digi​.ub​.uni​-hei​del​berg​.de/​d​i​g​l​i​t​/​k​l​a​b​i​s​m​a​r​c​k​1​8​9​0​/​0​160

Mitt­woch 1ten [De­zem­ber 1880] R. hat­te kei­ne gute Nacht, er stand auf, ging in den Kin­der­saal und las im Or­bis pic­tus den Auf­satz See­land. Die Aus­wan­de­rungs-Ge­dan­ken be­schäf­ti­gen ihn im­mer stark, und er meint, daß, wenn man jung sei, man nichts an­de­res zu tun hät­te. Auch er­kennt er in die­ser Fä­hig­keit zu ko­lo­ni­sie­ren die Haupt-Ei­gen­schaft der an­gel­säch­si­schen Race und das Zei­chen der Pro­duk­ti­vi­tät der Re­for­ma­ti­on, wäh­rend der Ka­tho­li­zis­mus voll­stän­dig ste­ril nach die­ser Sei­te hin seit der Re­for­ma­ti­on blieb. Er er­zählt mir in der Frü­he von Bis­marck und Bucher[1], daß sie zu­sam­men sä­ßen und die So­zia­lis­ten-Fra­ge be­däch­ten, eine Zwangs-Spar-Kas­se[2] soll nun hel­fen. – Er ar­bei­tet eine An­zei­ge aus für die Blät­ter[3]. Bei Tisch spricht er von der Ver­gan­gen­heit, das Ewig-Weib­li­che zieht her­un­ter, sagt er, an frü­her den­kend. „Es hat ein biß­chen lan­ge ge­dau­ert, bis es an­ders wur­de“, fügt er hin­zu. – Wir ge­hen im Hof­gar­ten spa­zie­ren, „Be­sen, Be­sen[4] sind’s ge­we­sen“, sagt er, in­dem er die Bäu­me im Was­ser sich wi­der­spie­geln sieht und mit dem­sel­ben Hu­mor wie ges­tern über Erde und Him­mel, die naß, kalt und grau sind. Abends ei­ni­ge Freun­de. – R. spricht wie­der­um über Schel­ling[5] und C. Frantz[6]; und wie man bei Ge­le­gen­heit von ersterm sei­ne My­tho­lo­gie-Phi­los. er­wähnt und an Creu­zer[7] er­in­nert, sagt R.: Alle die­se Leu­te wie Creu­zer ha­ben et­was ge­se­hen, sie sind in Irr­tü­mer ver­fal­len, aber sie ha­ben et­was ge­se­hen. Die Nach­kom­men­den se­hen nichts und den­ken nur, sie müs­sen auch was sa­gen. – Brie­fe von Dr Neu­mann[8] an R. und mich, durch­aus gut ge­sinnt. R. be­harrt beim Vik­to­ria-Thea­ter[9]. – Wie un­se­re Freun­de sich ent­fer­nen, blei­be ich noch plau­dernd mit R. im Saa­le, das The­ma des Le­bens für au­ßen, ir­gend wel­che Wir­kung nach au­ßen, kommt zwi­schen uns auf. (Beim Kaf­fee hat­te mich R. da­für ver­ant­wort­lich ge­macht, daß wir uns in Deutsch­land nie­der­ge­las­sen, er habe in Ge­nua – 1868 –blei­ben wol­len; wenn ein­mal ein Ent­schluß ge­faßt sei, dann auch kurz, ich aber hät­te zu strik­tes Pflicht­ge­fühl ge­habt, und alle Göt­ter wä­ren ge­gen mei­nen Ent­schluß ge­we­sen. Wir wür­den wohl nach Bay­reuth ge­kom­men sein, aber auf kur­ze Zeit, die Zeit der Fest­spie­le, in Fan­tai­sie.) Ich er­zäh­le, daß mir Len­bach[10] ge­sagt, da ich nicht Kai­se­rin ge­wor­den, so hät­te ich ei­ner gro­ßen Sa­che mich ge­wid­met, wäh­rend mir al­les sei­ne Per­son ge­we­sen sei, und sei die Sa­che nur für ihn. R. sagt: Das ver­stün­de nie­mand, und des­halb kön­ne man auch mein Por­trait nicht ma­chen, die Si­cher­heit mei­ner Art füh­re in die­sen Irr­tum. „Sie sind zu dumm“, sagt er mit la­chen­dem Ernst.

Fuß­no­ten
[1] Bucher, Lo­thar (1817–1892), Ju­rist, Pu­bli­zist und Di­plo­mat, ra­di­ka­ler Ab­ge­ord­ne­ter der preuß. Na­tio­nal­ver­samm­lung 1848 und der Zwei­ten Kam­mer 1849, ent­zog sich 1850 der Fes­tungs­haft durch Flucht nach Lon­don, dort Kor­re­spon­dent, 1861 Rück­kehr, ver­kehr­te im Hau­se Bülows in Ber­lin, Mit­ar­bei­ter und Tes­ta­ments­voll­stre­cker Lass­al­les, ver­mit­tel­te zwi­schen Lass­alle und Bis­marck, 1864 ins Mi­nis­te­ri­um des Aus­wär­ti­gen be­ru­fen, Le­ga­ti­ons­rat und Mit­ar­bei­ter Bis­marcks bis 1886.
[2] Be­ginn der So­zi­al­ver­si­che­rung, Bis­marcks Werk, durch Kai­ser­li­che Bot­schaft vom 17. Nov. 1881 ins Le­ben ge­ru­fen; zu­nächst wur­de 1883 die Kran­ken­ver­si­che­rung ein­ge­führt, es folg­ten 1884 die Un­fall­ver­si­che­rung und 1889 die In­va­li­den- und Al­ters­ver­si­che­rung, 1911 trat die An­ge­stell­ten­ver­si­che­rung und 1927 die Ar­beits­lo­sen­ver­si­che­rung hin­zu; dem dt. Bei­spiel folg­te zu­erst Ös­ter­reich (1888).
[3] Bay­reu­ther Blät­ter, Haus­zeit­schrift der Fest­spie­le von 1878 bis 1938, re­di­giert von Hans von Wolz­o­gen.
[4] Ge­dicht „Der Zau­ber­lehr­ling“ von Goethe.
[5] Schel­ling, Fried­rich Wil­helm Jo­seph (1775–1854), Phi­lo­soph, An­thro­po­lo­ge, ei­ner der Haupt­ver­tre­ter des Deut­schen Idea­lis­mus, der Of­fen­ba­rungs- so­wie der spe­ku­la­ti­ven Naturphilosophie.
[6] Frantz, Con­stan­tin (1817–1891), po­li­ti­scher Schrift­stel­ler, stän­de­staat­lich-kon­ser­va­ti­ver Fö­de­ra­list und Ver­fas­ser des Drei­tei­lers „Schel­lings po­si­ti­ve Phi­lo­so­phie“, den er „Ri­chard Wag­ner freund­schaft­lichst ge­wid­met“ hat, was aber nichts half, denn Wag­ner är­ger­te sich über das Buch und Schel­ling gleichermaßen.
[7] Creut­zer, Fried­rich (1771–1858), Phi­lo­lo­ge, Prof. in Mar­burg und Hei­del­berg, schrieb u.a. „Sym­bo­lik und My­tho­lo­gie der al­ten Völ­ker, be­son­ders der Grie­chen“, 4 Bde. 1810–1812, in RWs Bibliothek.
[8] Neu­mann, An­ge­lo (1838–1910), Sän­ger, Im­pre­sa­rio, Di­rek­tor des rei­sen­den Wag­ner­thea­ters und in­ter­na­tio­nal agie­ren­der „Ring“-Vermarkter.
[9] Vic­to­ria-Thea­ter, wo 1881 von Neu­mann ver­an­stal­te­te „Ring“-Aufführungen statt­fin­den soll­ten; 1859 in Ber­lin Mit­te er­öff­net, 1891 abgerissen.
[10] Len­bach, Franz von (1836–1904), Ma­ler, 1863–68 in Ita­li­en und Spa­ni­en, da­nach Mün­chen; er­folg­reichs­ter Por­trä­tist sei­ner Zeit und spe­zi­ell auch der Wagner-Familie.

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fußnoten

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