Montag 6ten [Dezember 1880] Eine schlaflose Nacht hat für mich den Verlust des Frühgesprächs zur Folge. Bis 11 wartet R. auf mich für das Frühstück, nimmt es dann allein ein und kommt gegen 12 zu mir, die ich immer abwechselnd schlief und wachte. Er liest mir halb zu unserem Entsetzen, halb zu unserem Gaudium einiges aus der Offenbarungs-Philosophie von Schelling[1], worin der Begriff Gott wie das Stehmännchen ungefähr behandelt wird. Um 1 Uhr Freund Stein[2], große Freude, ihn wiederzusehen, namentlich in Beziehung auf Fidi[3]; Hoffnung, daß doch noch das Verhältnis aufrechtzuerhalten ist, daß Stein alle Jahre auf einige Monate zu uns kommt und später Fidi zu ihm in Halle. – Er will in Halle Schopenhauer[4] dozieren, und zwar auf Antrieb R.’s, der es für durchaus notwendig ansieht, daß die Lehre als Grundlage der Erziehung gegeben werde. Freund Joukowsky[5] kam auch von Dresden heim. Mancherlei Erzählungen. Abends kommt R. auf seine kosmogonischen Gedanken zurück und sagt u.a.: Man sieht es der Bevölkerung von Afrika förmlich an, daß sie täppisch nachgeschoben (andre Ausdrücke, die ich leider vergaß) kam.[6] In der Form von Amerika findet er die Wiederholung der andren Welt-Form, nur schlanker, vollkommener. Er ist sehr heiter, und wie er von dem plötzlichen Verlassen von Neapel spricht, sagt er: Wie ich die Hühneraugen im Gesicht bekam.[7] Dann: Er sei in der Jugend seines 3ten Menschen-Alters.
Fußnoten
[1] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854), Philosoph, Anthropologe, einer der Hauptvertreter des Deutschen Idealismus, der Offenbarungs- sowie der spekulativen Naturphilosophie.
[2] Stein, Karl Heinrich von (1857–1887), Philosoph und Schriftsteller, Hauslehrer von Fidi 1879 bis 1880, anschließend Privatdozent in Halle. Zu seinem Buch Helden und Werk (1883) schrieb RW kurz vor seinem Tod noch das Vorwort.
[3] Fidi = Siegfried Wagner (1869–1930), einziger Sohn von Cosima und Richard Wagner, späterer Dichterkomponist und Festspielleiter.
[4] Schopenhauer, Arthur (1788–1860), Philosoph, der mit seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung RW maßgeblich beeinflusste, sogar bis hinein ins Privatleben, bezeichnete sich doch das weiland ehebrecherische Paar gern als Will (RW) und Vorstel (Cosima), wovon u.a. Telegramme zeugen.
[5] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[6] Hier offenbart sich ungeschminkt RWs Rassismus.
[7] Gemeint ist RWs Gesichtsrose.
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