Tagebuch-Adventskalender (9)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Zwei Ex-Re­vo­luz­zer: Au­gust Rö­ckel und Ri­chard Wag­ner beim Münch­ner Grup­pen­fo­to 1865. – Aus­schnitt des Ori­gi­nal­fo­tos von Jo­seph Albert

Don­ners­tag 9ten [De­zem­ber 1880] R. hat­te eine gute Nacht und ist hei­ter trotz ei­ni­ger ge­schäft­li­cher Din­ge (u.a. Voltz und Batz[1], von wel­cher An­ge­le­gen­heit aber Feus­tel[2] schreibt, daß sie zum Gu­ten sich wen­de). Bei Tisch be­spre­chen wir die er­folg­te Er­nen­nung Fischer’s[3] zum K[apell]meister in Mün­chen und R. sagt: Wenn ei­ner nur 20 Schrit­te Ent­fer­nung mir nahe ge­rückt ist, will er von mir zum Kmeis­ter ge­macht wer­den. Er er­hält ein Blatt, wor­in ein Be­richt über den Vor­trag von Ro­bert Sprin­ger[4] steht über „Kunst und Re­li­gi­on“, es scheint die­ser Vor­trag sehr hübsch ge­we­sen zu sein. Bei ei­nem and­ren Be­richt, wie es heißt, Wag­ne­ria­ner ge­ben ihn (R.) als Chris­tus aus, sagt er hei­ter: Das bit­te ich mir recht sehr aus. – Wir ge­hen in den Hof­gar­ten spa­zie­ren, um, wie R. sagt, das 11te Ge­bot zu er­fül­len. Boni’s[5] Bläs­se macht ihm Sor­ge, „die Mä­dels wer­den ei­nes nach dem an­de­ren ver­rückt“, und er durch­bricht in sei­ner ei­ge­nen Wei­se al­les, in­dem er der Klei­nen bei Tisch sagt: „Sag mir, bist du ver­liebt.“ – „Zu viel Schwat­zen und zu viel Es­sen“, das sei, was ihm scha­de, sagt er. In der Frü­he gin­gen wir alte Zei­ten durch der Tren­nung, „wir hät­ten nicht lan­ge mehr ge­lebt“, sagt er, „des­halb er­griff ich Röckel’s Un­tat[6] wie eine Er­lö­sung“. – – Abends mit un­se­ren Freun­den al­ler­hand ge­plau­dert, im­mer wie­der Afri­ka: „Die Spät­ge­burt der Mut­ter­er­de“ – dann die Berg­wer­ke, Hoff­nung dar­auf, daß die Elek­tri­zi­tät die Koh­len über­flüs­sig ma­chen wird. Auch das Salz we­ni­ger not­wen­dig bei Ge­mü­se als bei Fleisch, „ja“, ruft er aus, „wir wan­deln wie die Göt­ter im Wal­hall auf die­ser Ober­flä­che und den­ken nicht an die­se Nacht und Gräß­lich­keit un­ter uns“. – – Er hat ein neu­es Heft von dem Stabs­werk[7] und teilt uns von den Hel­den­ta­ten bei Bel­fort[8] mit, „es ist un­mög­lich, das nicht zu be­wun­dern, und wozu sind alle die­se Kräf­te in das Spiel ge­setzt wor­den?“ Er er­zählt von sei­ner Ab­sicht, eine Trau­er­fei­er zu ver­an­stal­ten, und daß er noch wol­le eine Trau­er-Mu­sik kom­po­nie­ren, er wür­de dann als Mot­to die Ant­wort ei­nes ster­ben­den Feld­we­bels zu sei­nem Of­fi­zier neh­men: „Herr Leut­nant, ich ster­be für Deutsch­land.“ – – „Ich ster­be für Deutsch­land“, ruft er aus, „was ist das für ein ex­ta­ti­scher Zu­stand!“ Ich mei­ne, das sei un­se­re Stim­mung in Trib­schen ge­we­sen, er sagt: „Ge­wiß – und was ist dar­aus ge­wor­den?« – – Wie die Freun­de sich ent­fernt ha­ben, sit­zen wir noch eine Wei­le im Saa­le mit den bei­den äl­tes­ten Mäd­chen und er­freu­en uns ih­res Ge­plau­ders und ih­rer Hübschheit. „Gnau­tis au­ton“[9], sagt er mir. „Ken­ne dich selbst, wir sind es, die uns Freu­de ma­chen.“ – – – 1[10]

Fuß­no­ten
[1] Voltz, Carl (1839–1897), Wein­händ­ler und Kauf­mann aus Mainz, so­wie Carl Wil­helm Batz (1853–1894), Schrift­stel­ler aus Wies­ba­den, stell­ten sich 1872 un­ter Hin­weis auf das neue Ur­he­ber­rechts­ge­setz RW in Trib­schen als Thea­ter­rech­te­agen­ten vor und schlos­sen mit ihm ei­nen für Ver­trag über die Auf­füh­rungs­rech­te sei­ner Opern von Ri­en­zi bis zu den Meis­ter­sin­gern ab, der sich für RW als Quel­le stän­di­gen Är­gers her­aus­stell­te. Für ihr In­kas­so ver­lang­ten sie fünf­und­zwan­zig Pro­zent, für die Auf­lö­sung des Ver­trags gar 100 000 Mark; RW muss­te von Fall zu Fall re­kla­mie­ren, wenn er sich über­vor­teilt fühl­te. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Voltz und Batz zie­hen sich schier end­los durch Kor­re­spon­denz und Ta­ge­bü­cher und hör­ten nach RWs Tod noch bei­lei­be nicht auf.
[2] Feus­tel, Fried­rich (1824–1891), Bay­reu­ther Ban­kier, als Po­li­ti­ker so­wohl auf lo­ka­ler, Lan­des- und Reichs­ebe­ne tä­tig, wur­de 1891 no­bi­li­tiert. Auch in der Bay­reu­ther Frei­mau­rer­lo­ge ak­tiv war er ein ent­schie­de­ner För­de­rer von RWs An­sied­lung in Bay­reuth und Mit­glied im Ver­wal­tungs­rat des Fest­spiel­un­ter­neh­mens; sein Schwie­ger­sohn Adolf von Groß wur­de jah­re­lang der Fi­nanz­ver­wal­ter der Festspiele.
[3] Fi­scher, Franz (1849–1918), Cel­list und Di­ri­gent, Hof­ka­pell­meis­ter in Mann­heim bis 1879, da­nach in Mün­chen, war schon in der Ni­be­lun­gen-Kanz­lei 1875/76 tä­tig und mu­si­ka­li­scher As­sis­tent bei den Fest­spie­len 1876 und di­ri­gier­te 1882 al­ter­nie­rend mit Her­mann Levi Par­si­fal. Wei­te­re In­fos zu Fi­scher hier.
[4] Sprin­ger, Ro­bert (1816–1885), Ber­li­ner Jour­na­list, Schrift­stel­ler und Le­bens­re­for­mer, über­setz­te den ve­ge­ta­risch-pro­pa­gan­dis­ti­schen Ro­man Tha­ly­sia oder Das Heil der Mensch­heit von Jean A. Glei­zès, der RW zu ei­ni­gen Pas­sa­gen in sei­ner 1880 pu­bli­zier­ten Schrift Re­li­gi­on und Kunst in­spi­rier­te; in den Bay­reu­ther Blät­tern 1881 er­schien sei­ne Ab­hand­lung „Ri­chard Wag­ners re­ge­ne­ra­to­ri­sche Idee“.
[5] Boni = Ponsch = Blan­di­ne von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Grä­fin Gra­vina), zwei­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow.
[6] Rö­ckel, Karl Au­gust (1814–1876), Di­ri­gent, Kom­po­nist, vom fran­zö­si­schen Früh­so­zia­lis­mus ge­präg­ter Schrift­stel­ler und ei­ner der wich­tigs­ten Freun­de und Brief­part­ner RWs, wel­cher auch Pate sei­nes Sohns Edu­ard wur­de. Er wirk­te zu­nächst als Chor­lei­ter und Mu­sik­leh­rer in Pa­ris, war u.a. Mu­sik­di­rek­tor in Bam­berg und Wei­mar und von 1843 bis 48 Mu­sik­di­rek­tor in Dres­den, wo RW als Ka­pell­meis­ter wirk­te. Er lei­te­te den „Dres­de­ner Va­ter­lands­ver­ein“, gab die ra­di­kal-de­mo­kra­ti­schen Volks­blät­ter her­aus, mach­te RW mit so­zi­al­re­vo­lu­tio­nä­rem Ge­dan­ken­gut ver­traut und mit Mi­cha­el Ba­ku­nin be­kannt. Er war füh­rend in der Re­vo­lu­ti­on von 1849 in Dres­den, wur­de ver­haf­tet, zum Tode ver­ur­teilt, zu le­bens­läng­li­cher Haft be­gna­digt und 1862 aus dem Zucht­haus Wald­heim ent­las­sen; schrieb Sach­sens Er­he­bung und Das Zucht­haus zu Wald­heim. Im Som­mer 1868 kam es zum Bruch mit RW, weil die­ser Rö­ckel, vor­warf, er habe sich über die Drei­ecks­be­zie­hung Wagner/​Cosima/​Bülow ge­gen­über Kö­nig Lud­wig II. ab­fäl­lig ge­äu­ßert („Röckel’s Untat“).
[7] Der Deutsch­fran­zö­si­sche Krieg 1870–71, re­di­giert von der kriegs­ge­schicht­li­chen Ab­tei­lung des gro­ßen Ge­ne­ral­stabs, Ber­lin 1872.
[8] Mehr In­fos zu der drei­tä­gi­gen Schlacht fin­den Sie hier.
[9] rich­tig: Gno­thí seau­tón, Er­ken­ne dich selbst; das Wort, von So­lon oder Chi­lon stam­mend, war in der Vor­hal­le des Apol­lon­tem­pels in Del­phi zu le­sen; RW nahm das Wort für die ers­te Aus­füh­rung zu Re­li­gi­on und Kunst, BBl. Febr./März 1881, wo­bei er Py­thia fälsch­lich da­mit in Ver­bin­dung brachte.
[10] Fuß­no­te am Rand: Aus dem Re­qui­em von Mo­zart spielt R. das Be­ne­dic­tus. Un­mit­tel­bar un­ter die­ser Ta­ges­ein­tra­gung die fol­gen­den Nach­trä­ge über die un­te­ren Rän­der von vier Sei­ten hin­weg: Ges­tern sagt er: „Bei je­dem Wort fra­ge ich mich, was es ist und ob man nicht Un­sinn re­det.“ Beim Abend­tisch er­zählt er, er habe mit 36 Jahr[en] alle sei­ne Dich­tun­gen kon­zi­piert ge­habt, von da ab habe er nur aus­ge­führt – – Wie er die Zei­tungs-No­tiz ge­le­sen hat, sagt er: „Bei den Deut­schen ist al­les so kon­fus durch­ein­an­der wie die Sup­pe von Mar­ke, hier eine Ka­rot­te, da et­was Kohl, al­les gute Be­stand­tei­le, aber kei­ne Be­stimmt­heit, über al­les eine laue Brü­he, nicht kalt, nicht warm.“ Neu­lich zi­tier­te R. scherz­haft An­to­nio [Fi­gur in Goe­thes „Tor­qua­to Tas­so“] zu Lusch, wel­che sich ein we­nig üb­er­regt hat: „Wenn ich nun wäre wie“ etc. – Wir spre­chen von „Tas­so“, und wie ich sage, daß ich die Wahr­haf­tig­keit des Dich­ters be­wund­re, die ihn bis zur Pein­lich­keit für uns zu dem Hin­weg der Prin­zes­sin ge­trie­ben hat, sagt R.: „Dann aber soll der Dich­ter sol­che Mo­ti­ve nicht wäh­len.“ – Von Kundry’s Kuß sagt neu­lich R.: „Was kein Dr., kein Waf­fen­meis­ter ihn leh­ren kann, das lehrt ihn das Weib.“ Wie neu­lich auch da­von die Rede war, daß R. die Beethoven’sche [ver­se­hent­lich ge­stri­chen: Me­lo­die] fort­ge­setzt habe, ver­neint er das ent­schie­den und sagt, das sei et­was ganz Ab­ge­schlos­se­nes; „ich hät­te nicht kom­po­nie­ren kön­nen, wie ich es ge­tan habe, wenn Beet­ho­ven nicht ge­we­sen wäre, aber was ich ver­wen­det und er­wei­tert habe, sind ver­ein­zel­te ge­nia­le Züge bei dra­ma­ti­schen Vor­gän­gern wie selbst Au­ber [Da­ni­el-Fran­çois-Es­prit Au­ber (1782–1871), ein von RW hoch­ge­schätz­ter fran­zö­si­scher Kom­po­nist], in­dem ich an et­was and­rem mich hielt als die Oper.“ – Mit Fet­zen von Frank­reich be­glückt jetzt Bis­marck Deutsch­land, mit dem Ta­baks-Mo­no­pol, wel­ches im El­saß be­reits ein­ge­führt war.

Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

Wag­ner (mit sei­nem Hund Pohl) im Kreis sei­ner Freun­de und An­hän­ger, auf­ge­nom­men an­läss­lich der „Tristan“-Uraufführung 1865 in Mün­chen, ne­ben ihm sit­zend Au­gust Rö­ckel, rechts hin­ter ihm ste­hend Hans von Bülow, des­sen Frau Co­si­ma fünf Wo­chen zu­vor von Wag­ner-Toch­ter Isol­de ent­bun­den wur­de – Aus­schnitt (lin­ke Hälf­te) des Fo­tos von Jo­seph Al­bert, Vor­la­ge: „Ri­chard Wag­ner in der zeit­ge­nös­si­schen Fo­to­gra­fie“ von Gun­ther Braam.

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