Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Donnerstag 9ten [Dezember 1880] R. hatte eine gute Nacht und ist heiter trotz einiger geschäftlicher Dinge (u.a. Voltz und Batz[1], von welcher Angelegenheit aber Feustel[2] schreibt, daß sie zum Guten sich wende). Bei Tisch besprechen wir die erfolgte Ernennung Fischer’s[3] zum K[apell]meister in München und R. sagt: Wenn einer nur 20 Schritte Entfernung mir nahe gerückt ist, will er von mir zum Kmeister gemacht werden. Er erhält ein Blatt, worin ein Bericht über den Vortrag von Robert Springer[4] steht über „Kunst und Religion“, es scheint dieser Vortrag sehr hübsch gewesen zu sein. Bei einem andren Bericht, wie es heißt, Wagnerianer geben ihn (R.) als Christus aus, sagt er heiter: Das bitte ich mir recht sehr aus. – Wir gehen in den Hofgarten spazieren, um, wie R. sagt, das 11te Gebot zu erfüllen. Boni’s[5] Blässe macht ihm Sorge, „die Mädels werden eines nach dem anderen verrückt“, und er durchbricht in seiner eigenen Weise alles, indem er der Kleinen bei Tisch sagt: „Sag mir, bist du verliebt.“ – „Zu viel Schwatzen und zu viel Essen“, das sei, was ihm schade, sagt er. In der Frühe gingen wir alte Zeiten durch der Trennung, „wir hätten nicht lange mehr gelebt“, sagt er, „deshalb ergriff ich Röckel’s Untat[6] wie eine Erlösung“. – – Abends mit unseren Freunden allerhand geplaudert, immer wieder Afrika: „Die Spätgeburt der Muttererde“ – dann die Bergwerke, Hoffnung darauf, daß die Elektrizität die Kohlen überflüssig machen wird. Auch das Salz weniger notwendig bei Gemüse als bei Fleisch, „ja“, ruft er aus, „wir wandeln wie die Götter im Walhall auf dieser Oberfläche und denken nicht an diese Nacht und Gräßlichkeit unter uns“. – – Er hat ein neues Heft von dem Stabswerk[7] und teilt uns von den Heldentaten bei Belfort[8] mit, „es ist unmöglich, das nicht zu bewundern, und wozu sind alle diese Kräfte in das Spiel gesetzt worden?“ Er erzählt von seiner Absicht, eine Trauerfeier zu veranstalten, und daß er noch wolle eine Trauer-Musik komponieren, er würde dann als Motto die Antwort eines sterbenden Feldwebels zu seinem Offizier nehmen: „Herr Leutnant, ich sterbe für Deutschland.“ – – „Ich sterbe für Deutschland“, ruft er aus, „was ist das für ein extatischer Zustand!“ Ich meine, das sei unsere Stimmung in Tribschen gewesen, er sagt: „Gewiß – und was ist daraus geworden?« – – Wie die Freunde sich entfernt haben, sitzen wir noch eine Weile im Saale mit den beiden ältesten Mädchen und erfreuen uns ihres Geplauders und ihrer Hübschheit. „Gnautis auton“[9], sagt er mir. „Kenne dich selbst, wir sind es, die uns Freude machen.“ – – – 1[10]
Fußnoten
[1] Voltz, Carl (1839–1897), Weinhändler und Kaufmann aus Mainz, sowie Carl Wilhelm Batz (1853–1894), Schriftsteller aus Wiesbaden, stellten sich 1872 unter Hinweis auf das neue Urheberrechtsgesetz RW in Tribschen als Theaterrechteagenten vor und schlossen mit ihm einen für Vertrag über die Aufführungsrechte seiner Opern von Rienzi bis zu den Meistersingern ab, der sich für RW als Quelle ständigen Ärgers herausstellte. Für ihr Inkasso verlangten sie fünfundzwanzig Prozent, für die Auflösung des Vertrags gar 100 000 Mark; RW musste von Fall zu Fall reklamieren, wenn er sich übervorteilt fühlte. Die Auseinandersetzungen mit Voltz und Batz ziehen sich schier endlos durch Korrespondenz und Tagebücher und hörten nach RWs Tod noch beileibe nicht auf.
[2] Feustel, Friedrich (1824–1891), Bayreuther Bankier, als Politiker sowohl auf lokaler, Landes- und Reichsebene tätig, wurde 1891 nobilitiert. Auch in der Bayreuther Freimaurerloge aktiv war er ein entschiedener Förderer von RWs Ansiedlung in Bayreuth und Mitglied im Verwaltungsrat des Festspielunternehmens; sein Schwiegersohn Adolf von Groß wurde jahrelang der Finanzverwalter der Festspiele.
[3] Fischer, Franz (1849–1918), Cellist und Dirigent, Hofkapellmeister in Mannheim bis 1879, danach in München, war schon in der Nibelungen-Kanzlei 1875/76 tätig und musikalischer Assistent bei den Festspielen 1876 und dirigierte 1882 alternierend mit Hermann Levi Parsifal. Weitere Infos zu Fischer hier.
[4] Springer, Robert (1816–1885), Berliner Journalist, Schriftsteller und Lebensreformer, übersetzte den vegetarisch-propagandistischen Roman Thalysia oder Das Heil der Menschheit von Jean A. Gleizès, der RW zu einigen Passagen in seiner 1880 publizierten Schrift Religion und Kunst inspirierte; in den Bayreuther Blättern 1881 erschien seine Abhandlung „Richard Wagners regeneratorische Idee“.
[5] Boni = Ponsch = Blandine von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Gräfin Gravina), zweite Tochter von Cosima und Hans von Bülow.
[6] Röckel, Karl August (1814–1876), Dirigent, Komponist, vom französischen Frühsozialismus geprägter Schriftsteller und einer der wichtigsten Freunde und Briefpartner RWs, welcher auch Pate seines Sohns Eduard wurde. Er wirkte zunächst als Chorleiter und Musiklehrer in Paris, war u.a. Musikdirektor in Bamberg und Weimar und von 1843 bis 48 Musikdirektor in Dresden, wo RW als Kapellmeister wirkte. Er leitete den „Dresdener Vaterlandsverein“, gab die radikal-demokratischen Volksblätter heraus, machte RW mit sozialrevolutionärem Gedankengut vertraut und mit Michael Bakunin bekannt. Er war führend in der Revolution von 1849 in Dresden, wurde verhaftet, zum Tode verurteilt, zu lebenslänglicher Haft begnadigt und 1862 aus dem Zuchthaus Waldheim entlassen; schrieb Sachsens Erhebung und Das Zuchthaus zu Waldheim. Im Sommer 1868 kam es zum Bruch mit RW, weil dieser Röckel, vorwarf, er habe sich über die Dreiecksbeziehung Wagner/Cosima/Bülow gegenüber König Ludwig II. abfällig geäußert („Röckel’s Untat“).
[7] Der Deutschfranzösische Krieg 1870–71, redigiert von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des großen Generalstabs, Berlin 1872.
[8] Mehr Infos zu der dreitägigen Schlacht finden Sie hier.
[9] richtig: Gnothí seautón, Erkenne dich selbst; das Wort, von Solon oder Chilon stammend, war in der Vorhalle des Apollontempels in Delphi zu lesen; RW nahm das Wort für die erste Ausführung zu Religion und Kunst, BBl. Febr./März 1881, wobei er Pythia fälschlich damit in Verbindung brachte.
[10] Fußnote am Rand: Aus dem Requiem von Mozart spielt R. das Benedictus. Unmittelbar unter dieser Tageseintragung die folgenden Nachträge über die unteren Ränder von vier Seiten hinweg: Gestern sagt er: „Bei jedem Wort frage ich mich, was es ist und ob man nicht Unsinn redet.“ Beim Abendtisch erzählt er, er habe mit 36 Jahr[en] alle seine Dichtungen konzipiert gehabt, von da ab habe er nur ausgeführt – – Wie er die Zeitungs-Notiz gelesen hat, sagt er: „Bei den Deutschen ist alles so konfus durcheinander wie die Suppe von Marke, hier eine Karotte, da etwas Kohl, alles gute Bestandteile, aber keine Bestimmtheit, über alles eine laue Brühe, nicht kalt, nicht warm.“ Neulich zitierte R. scherzhaft Antonio [Figur in Goethes „Torquato Tasso“] zu Lusch, welche sich ein wenig überregt hat: „Wenn ich nun wäre wie“ etc. – Wir sprechen von „Tasso“, und wie ich sage, daß ich die Wahrhaftigkeit des Dichters bewundre, die ihn bis zur Peinlichkeit für uns zu dem Hinweg der Prinzessin getrieben hat, sagt R.: „Dann aber soll der Dichter solche Motive nicht wählen.“ – Von Kundry’s Kuß sagt neulich R.: „Was kein Dr., kein Waffenmeister ihn lehren kann, das lehrt ihn das Weib.“ Wie neulich auch davon die Rede war, daß R. die Beethoven’sche [versehentlich gestrichen: Melodie] fortgesetzt habe, verneint er das entschieden und sagt, das sei etwas ganz Abgeschlossenes; „ich hätte nicht komponieren können, wie ich es getan habe, wenn Beethoven nicht gewesen wäre, aber was ich verwendet und erweitert habe, sind vereinzelte geniale Züge bei dramatischen Vorgängern wie selbst Auber [Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871), ein von RW hochgeschätzter französischer Komponist], indem ich an etwas andrem mich hielt als die Oper.“ – Mit Fetzen von Frankreich beglückt jetzt Bismarck Deutschland, mit dem Tabaks-Monopol, welches im Elsaß bereits eingeführt war.
Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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