Die Münchner „Rosenkavalier“-Neuinszenierung von Barrie Kosky unter Vladimir Jurowski kann nach ihrer Online-Premiere noch vier Wochen kostenlos gestreamt werden. Es lohnt sich. Unbedingt!
Wenn man mal absieht von Corona wären an den derzeit nicht frequentierbaren analogen Stammtischen die weiteren Aufreger vermutlich das Gendern und – mit deutlichen Abstrichen – Multikulti. Und genau über diese Knackpunkte sowie mit herausragenden Sängerdarstellern in den Haupt- und Nebenrollen hat Regisseur Barrie Kosky die vermeintlich rückwärtsgewandte Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss genial mitten in die Gegenwart gerettet.
Erfreulicherweise kann das jeder selbst überprüfen, denn die Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper, die am Sonntag ihre Online-, TV- und Radiopremiere feierte, ist über mehrere Plattformen bis 19. April als kostenloses Video-on-Demand zu haben. Es lohnt sich garantiert, denn dieser „Rosenkavalier“ ist in der Orchesterbesetzung zwar deutlich und hörbar reduziert, ansonsten aber eine Sternstunde des Musiktheaters, die ohne Pausen satte 205 Minuten dauert.
Womit wir schon beim zentralen Thema wären: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, sinniert im 1. Akt die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg – eine Frau zwischen Anfang und Mitte dreißig, die ahnt, dass ihr noch jugendlicher Liebhaber sie bald für eine Jüngere verlassen wird, die wiederum einem älteren Schwerenöter versprochen ist. Was nicht ohne Verwicklungen abgeht, denn wir befinden uns in einer anachronistischen „Komödie für Musik“, die laut Libretto in Wien spielt, in den ersten Jahren der Regierungsära von Kaiserin Maria Theresia, die 1740 begann.
Auf die entsprechende „Rosenkavalier“-Aufführungstradition, begründet von Max Reinhardt und seinem Bühnenbildner Alfred Roller anno 1911, und auf die sakrosankte Münchner Vorgängerinszenierung von Otto Schenk in den Bühnenbildern von Jürgen Rose von 1972, die fast fünfzig (!) Jahre gezeigt wurde, pfeifen Barrie Kosky, der in Bayreuth gefeierte „Meistersinger“-Regisseur, und seine Ausstatter Rufus Didwiszus und Victoria Behr zwar nicht ganz, dafür umso gekonnter. Statt einer quasi naturalistischen Interpretation liefern sie anspielungsreiche Träume dreier Hauptfiguren und Räume, bei denen alles zu fließen scheint.
Besonders fließend in dieser laut Kosky „Fantasiewelt aus französischer Operette, Molière, Shakespeare, Wiener Walzer, Mozart, Sigmund Freud und farcenhaftem Boulevard“ ist natürlich Octavian, der von einer Frau verkörperte Titelheld, der im 1. und 3. Akt in Bezug auf Baron Ochs, welcher normalerweise ein klassischer Schürzenjäger ist, zusätzlich die Geschlechterrolle tauscht und sich in ein (man beachte das Neutrum!) dienstbotiges Mariandel verwandelt. Es geht also drunter und drüber, was das Publikum durchaus zu goutieren weiß.
Ob hetero- oder homosexuell, ob als Mann, Frau oder Transgender: Im „Rosenkavalier“ können und dürfen die Zuschauer ganz unterschiedliche Möglichkeiten des Begehrens in die Figuren hineinprojizieren. Das funktioniert in der assoziativen, ironischen und psychologisch stringenten Inszenierung von Barrie Kosky unter anderem auch deshalb so befreiend gut, weil es dem Regisseur gelingt, der in der Handlung durchaus gegebenen frauenfeindlichen und sexistischen Gewalt auf intelligente Weise die Schärfe zu nehmen.
Mehr noch: Durch die Besetzung der stummen Nebenfigur des trippelnden Mohrenkinds mit einem fast nackten Greis, der als geflügelter Amor das gefühlschaotische Geschehen begleitet, wird unnötiger Rassismus vermieden und eine zusätzliche Tiefenschicht eingezogen. Denn schließlich geht es in dieser artifiziellen, surrealen und furiosen Zeit- und Vergnügungsreise sichtlich nicht nur um die Vergänglichkeit von Zeit und gar von Liebe. Dass die Hinfälligkeit auch des Fleisches so deutlich serviert wird, schreckt das überwiegend ältere Opernpublikum schon ein bisschen auf in seiner sonst gewohnten „Rosenkavalier“-Schwelgerei.
Falls jemand übrigens das Frauenfeindliche im Gros der Opernliteratur und speziell im „Rosenkavalier“ in Abrede stellen sollte: Sophie ist gerade mal fünfzehn Jahre alt, als sie mit dem weitaus älteren und ihr gänzlich unbekannten Baron Ochs auf Lerchenau verheiratet werden soll. Ähnlich erging es zuvor schon der späteren Marschallin, dem Mädel Marietheres, das „frisch aus dem Kloster in den heiligen Ehestand kommandiert worden ist“. Ganz zu schweigen vom Umgang des Herrn Baron mit dem weiblichen Hauspersonal.
Okay, #MeToo war nicht nur im 18. und 19., sondern auch im 20. und frühen 21. Jahrhundert vollkommen unbekannt und wird heute noch von jenen, die zur männlichen Übergriffigkeit schon immer gern ihr augenzwinkerndes Einverständnis gegeben haben, als überflüssig wie ein Kropf angesehen. Und ja: Umgekehrt dreht Barrie Kosky sogar den Spieß ein bisschen um und lässt Octavian deutlicher zuschlagen als man das sonst erlebt.
Natürlich, sagt meine bessere männliche Hälfte, sehen auch Kritiker*innen nur, was sie sehen wollen. Aber, sage ich zurück, kein Regisseur und auch keine Regisseurin hat es mir bisher möglich gemacht, es so zu sehen wie bei der Online-Premiere am Sonntag. Der große kleine Unterschied ist doch, wie lust- und liebevoll hier die Marschallin, Octavian und Sophie miteinander umgehen dürfen, während Ochs schon das sexuelle, geschweige denn ein erotisches und romantisches Vergnügen versagt bleibt, weil ihm – wie übrigens auch etlichen anderen Männern und Frauen wie Faninal und Leitmetzerin, Valzacchi und Annina – repressionsfreie Beziehungen fremd sind. Ob das junge Paar das auch in Zukunft hinkriegt, sei dahingestellt. Aber die Marschallin hat’s kapiert und versinkt keineswegs in Weltabschiedstimmung.
Sieht man übrigens auch ihrer ganz vorzüglichen Kleidung an, die in der Schwarzweißfilm-Optik des 1. Akts farbliche Akzente setzt. Ihr Negligee ist ein transparentes Nichts, der kunterbunt schillernde Überwurf dazu, den erst nicht sie, sondern Octavian trägt, macht das „Hasch mich, ich bin der Frühling“-Gefühl der beiden zwischen den überdimensionierten schwarzen Pflanzenkübeln erst komplett. Beim morgendlichen Lever – auch der Auftritt des Sängers à la Farinelli ist ein bühnenbildnerischer Coup – ist sie dann ganz Hanna Glawari, die lustige Strohwitwe. Und wenn’s ans Eingemachte geht, an ihren einsamen Monolog über Zeit und Vergänglichkeit, trägt sie eine roséfarbene, mit Straußenfedern abgestufte Robe, die auch einer Violetta Valéry gut anstünde, zumal im hinreißenden Schlussbild des 1. Akts, wenn sie, wie sonst nur eine Traviata am Münchner Kronleuchter, in der riesigen Pendule gewissermaßen ihre Traumsequenz ausschaukeln lässt. Nicht zu vergessen ihre Statur im 3. Akt: wie beim Besuch einer zwar nicht alten, aber fürwahr großfürstlichen Dame!
Schon in den „Meistersingern“ hat Barrie Kosky die Uhr im Einheitsbühnenbild vor- und rückwärts laufen und richtig durchdrehen lassen. Im „Rosenkavalier“ verwendet er witzig und sinnstiftend unterschiedliche Uhrenarten und -formen als emblematische Illustration. Darüber hinaus jagen sich kunst-, theater- und filmhistorische (Stil-)Zitate, die man zwar nicht alle kennen muss, die aber, wie so oft bei richtig guter Kunst, das Vergnügen und den Hinter- und Tiefsinn noch erhöhen. Da wird mit barocken Kastraten und Schiebekulissen ebenso jongliert wie mit dem dominanten Bett aus Stefan Herheims „Parsifal“-Inszenierung, in dem dann prompt auch der Ochs versinken darf, mit aus der Zeit und aus den Bilderrahmen gefallenen Satyrn und Faunen, einer kitschigen Silberkarosse, die – so geht Augenzwinkern bei Barrie Kosky – aus dem Fuhrpark von König Ludwig II. stammen könnte, der nebenbei bemerkt München hasste, und einem Theater im Theater, in dem alles kulminiert, teils besetzt mit einem sehr heutigem Geisterpublikum, teils aufgehübscht mit einer Männertruppe, die unter anderem eine kurze und hinreißende Umkleidenummer hinlegt.
Selbst wenn keiner mehr weiß, was Realität, Fiktion oder Täuschung ist, die Gefühle der Figuren sind echt, sind ernst genommen. In den Nahaufnahmen der Aufzeichnung sieht man das vielleicht sogar besser als in den hoffentlich bald wieder möglichen echten Aufführungen, auch wenn man sicher sein kann, dass sich selbst in bloßen Blickkontakten die Energie der hochmotivierten Sängerdarsteller auch ganz oben im Rang mitteilen würde. Jedenfalls wird klar, dass jeder Akt sich auf die Perspektive einer Figur konzentriert und dass ausgerechnet der Ochs Frauen gegenüber eigentlich eher ein Angsthase ist – zumindest im 1. Akt.
Die Bayerische Staatsoper bietet dafür großartige Solisten in allen Haupt- und Nebenrollen auf. Im 1. Akt dominiert Marlis Petersen als souverän verliebte und agile, auch stimmlich noch junge Marschallin, im 2. Akt liegt der Fokus auf Katharina Konradis himmlisch mädchenhafter, himmlisch singender und bald auch himmelblau gekleideten Sophie, und im 3. Akt mausert sich der fabelhaft singende, springende und fabelhaft androgyne Octavian von Samantha Hankey auch noch zum Regisseur des finalen Tohuwabohus für einen Ochs, dem Christof Fischesser in jeder Hinsicht ein überraschendes Profil gibt. Das schwankt zwischen einem ziemlich nervös aufgeladenen, dennoch soigniert bleibenden Bourgeois im 1. Akt, der im 2. Akt im malvoliogelben Abendjackett schon mal dicker aufträgt und im 3. Akt im seidenen Morgenmantel den wenig diskreten Charme samt Perücke endgültig fahren lässt und dank zufälliger Ähnlichkeit plötzlich daherkommt wie der Münchner Volksschauspieler Walter Sedlmayr, was – Gott hab ihn selig! – gleich noch eine zusätzliche Assoziationsebene in Sachen Begehren einzieht.
Dass Johannes Martin Kränzle ein umwerfender Herr von Faninal ist, versteht sich von selbst. Wie mit einem Klick schaltet er einen opportunistischen Einschleimgesichtsausdruck an, setzt das auch in all seinen Bewegungen um und singt dabei vorzüglich. Gleiches gilt für Wolfgang Ablinger-Sperrhackes Valzacchi, dessen Sprachkuddelmuddel sprachlos macht, weil man tatsächlich mehr als sonst versteht. Was allerdings nicht nur an der Gesangskunst dieses großartigen Charaktertenors liegt, sondern auch an der von Eberhard Kloke bearbeiteten Fassung, die sich hörbar an der Oper „Ariadne auf Naxos“ orientiert, die Richard Strauss nach dem „Rosenkavalier“ komponierte. Man versinkt also weder im Wiener Walzerschmäh noch in melancholisch süßem Schwall, sondern hört das Werk deutlich mehr als ein Konversationsstück.
Der designierte Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski dirigiert diese die Textverständlichkeit ungemein fördernde, ungekürzte, aber auf nur 43 Musiker reduzierte Fassung mit genau jener Mischung aus Präzision, Elan und Leichtigkeit, die diesen die Kunstform Oper feiernden Abend auch szenisch auszeichnet. Wenn Corona vorbei sein wird, soll natürlich wieder das komplette Bayerische Staatsorchester im Graben wirken. Die Notlösung, lernt man bei aller Sehnsucht nach einem richtig satten Orchesterklang im Saal, ist eigentlich gar keine. Am Ende, nachdem im Terzett alle Träume zumindest musikalisch eins geworden sind, das junge Paar sich aus der Spieluhr gedreht und pfeilgrad abhebt ins Bühnendunkel, möchte man einstimmen in das, was Sophie singt, wenn sie zum ersten Mal auf Octavian trifft: „Ist Zeit und Ewigkeit in einem sel’gen Augenblick.“ Hier dauert er ohne Pausen kostbare drei Stunden und 25 Minuten.
Die Münchner „Rosenkavalier“-Neuinszenierung ist bis 19. April 2021 kostenlos abrufbar bei Staatsoper.TV, BR-Klassik und Arte Concert.
Erstdruck einer kürzeren Version im Fränkischen Tag vom 25. März 2021 www.fraenkischertag.de
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