Diesmal hat Tagebuchschreiberin Cosima Wagner fast gar nichts zu berichten. Aber es gibt einen Besuch, der sicher Gefühle und alte Wunden aufreißt.
Dienstag, 5ten [Dezember 1871] Keine Briefe, weder erhalten noch geschrieben; R. arbeitet. Um 2 Uhr Besuch der Familie Wesendonck[1]; er, der gute Mann, recht schwer und lästig, sie aber freundlich und gut, wir versprechen, das Neujahr bei ihnen zuzubringen. Abends sind wir müde und können nur ein wenig von Vergangenheit und Zukunft sprechen.
[1] Die „Familie Wesendonck“ meint hier zwei Personen: Otto Wesendonck (1815–1896), ein aus Elberfeld stammender Seidenhändler, der es in New York zu Reichtum gebracht hatte, und dessen zweite Frau Mathilde Wesendonck, geb. Agnes Luckemeyer (1828–1902), ebenfalls aus Elberfeld stammend, die bei ihrer Heirat den Vornamen der früh verstorbenen ersten Frau ihres Gatten annahm. Das Paar bekam insgesamt fünf Kinder, von denen zwei schon im Kindesalter starben. Die Wesendoncks ließen sich in Zürich nieder und lernten Wagner 1852 bei einem Konzert kennen. Rasch entwickelte sich eine unterschiedlich tiefe Freundschaft. Otto, der weltoffene und kunstaffine Geschäftsmann, wird zum bisher größten Mäzen Wagners, worin ihn nur noch König Ludwig II. von Bayern übertreffen wird. Er fördert Wagner finanziell jahrelang ganz erheblich und stellt ihm und seiner ersten Frau Minna im April 1857 das als „Asyl“ bezeichnete einfache Fachwerkhaus (Gablerstrasse 14, wo die heutige Villa Schönberg steht) in unmittelbarer Nachbarschaft der erst Monate später fertig gestellten, standesgemäßen Wesendonck-Villa (Gablerstrasse 15, heute das Museum Rietberg) für eine geringe Jahresmiete zur Verfügung, obwohl sich längst eine Liebesbeziehung zwischen Wagner und Mathilde entwickelt hat. Mathilde ist zu diesem Zeitpunkt bereits Wagners bedeutendste Muse, wie es so schön heißt. Sie gehört neben Minna und Cosima zu den wichtigsten Frauen in seinem Leben, was sich nicht nur konkret in „Tristan und Isolde“ niederschlägt, sondern vor allem in den Wesendonck-Liedern, die Wagner auf Texte von Mathilde vertont. Wie weit diese Beziehung wirklich ging, weiß heute niemand. Jedenfalls tat seinerzeit die gegebene räumliche Nähe das Ihrige, um erst bei den Wesendoncks und dann bei den Wagners jeweils eine Ehekrise auszulösen. Als Minna Wagner einen der zahllosen glühenden Liebesbriefe Wagners an Mathilde abfängt, kommt es zum Eklat. Vier Monate später verlässt Wagner endgültig sein „Asyl“ und forciert die Trennung (aber nicht die Scheidung) von seiner ersten Frau Minna. Mathilde bleibt bei Otto und ihren Kindern. Später, nachdem er Cosima für sich gewonnen hat, wird Wagner versuchen, die Affäre zu marginalisieren. Und erst recht wird es Cosima tun, was allerdings nicht ganz klappt. Dietrich Mack schreibt in seinem Buch „Wagners Frauen“: Mathilde „hat ihren Nachlass geordnet und verfügt, dass Wagners Briefe an sie, die in Abschriften erhalten sind, veröffentlicht werden. Vergeblich versucht Cosima, dies zu verhindern. Die Wesendonck-Briefe, die die Leidenschaft und Bedeutung dieser Beziehung für Wagners Leben und viele seiner Werke dokumentieren, werden so populär wie kein anderes Buch von oder über Wagner. Cosima muss sich mit der Tatsache abfinden, dass es vor ihrer Zeit in Wagners Leben eine andere große Liebe gab.“ Um zurückzukommen auf den 5. Dezember 1871: Neujahr haben die Wagners natürlich nicht bei den Wesendoncks verbracht, sondern zuhause in Tribschen. Erst an Sylvester, notiert Cosima, hatte R. „zu seinem Schrecken bemerkt, daß er acht Tage lang einen Brief von mir an Frau Wesendonck (Absage) hatte liegenlassen, weshalb ich noch einmal schreibe“. Man beachte erstens, den Inhalt dieser Aussage und zweitens, wie schnell die Post damals gewesen sein muss.
Quellen: Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band I, S. 1564. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 34725 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 465-466); Das Wagner-Lexikon, hgg. im Auftrag des Forschungsinstituts für Musiktheater Thurnau; Bernhard Hangartner: Durch Richard Wagners Zürich; Christian Bührle, Markus Kiesel, Joachim Mildner: Prachtgemäuer. Wagner-Ort in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig; Dietrich Mack: Wagners Frauen.
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