Kein Weihnachtskitsch

Der Ma­ler und Bild­hau­er Mar­kus Lü­pertz über­zeugt jetzt auch als Re­gis­seur von „le­ben­den Bil­dern“, mit de­nen er kunst­voll Gi­a­co­mo Puc­ci­nis „La Bo­hè­me“ erzählt.

Die Bo­he­mi­ens im 1. Bild, bei dem die Ate­lier­fens­ter auf dem Bo­den lie­gen – Foto: Xio­ma­ra Bender

Auf die Fra­ge, wie er sich die Kri­ti­ken zu sei­ner „Bohème“-Inszenierung wün­sche, hat Mar­kus Lü­pertz in ei­nem sei­ner zahl­rei­chen In­ter­views ge­ant­wor­tet, dass ihm ein „Das ist groß­ar­tig!“ völ­lig rei­che. „Aber ich hal­te Kri­tik aus und letzt­end­lich spielt es kei­ne Rol­le, weil man Er­folg zwar ha­ben, aber nicht kal­ku­lie­ren kann.“

Mar­kus Lü­pertz (links) und In­ten­dant Jens Neun­dorff von Enz­berg bei den Pro­ben – Foto: Ma­rie Liebig

In je­dem Fall rich­tig kal­ku­liert hat Jens Neun­dorff von Enz­berg, der neue In­ten­dant des Staats­thea­ters Mei­nin­gen: Die me­dia­le Auf­merk­sam­keit schon vor der Pre­mie­re und ein An­sturm von Kri­ti­kern, die sonst nicht nach Thü­rin­gen kom­men, wä­ren ge­si­chert, wenn er ei­nen pro­mi­nen­ten und au­ßer­ge­wöhn­li­chen Gast­künst­ler en­ga­gie­ren könn­te. Na­tür­lich konn­te er, denn be­reits als Thea­ter­chef in Re­gens­burg ließ er auf­hor­chen, als der in­ter­na­tio­nal re­nom­mier­te, auch in Bam­berg ge­schätz­te und prä­sen­te Ma­ler und Bild­hau­er Mar­kus Lü­pertz die Aus­stat­tung ei­ner Ba­rock­opern-Aus­gra­bung übernahm.

„Una cosa rara“ hieß die wie­der­ent­deck­te Schä­fer­idyl­le, die (in der In­sze­nie­rung von Re­gis­seur An­dre­as Baes­ler) ein­deu­tig Lust auf mehr mach­te. Aber dann aus­ge­rech­net – und mit Re­gie­ver­ant­wor­tung – Puc­ci­nis „La Bo­hè­me“, eine der meist­ge­spiel­ten Opern über­haupt? Die­ser Schmalz- und Schmacht­fet­zen, der be­vor­zugt an Weih­nach­ten auf die Büh­nen kommt, weil im 2. Bild vor dem Café Mo­mus weih­nacht­li­cher Tru­bel mit Kind und Ke­gel vor­ge­se­hen ist und es spä­tes­tens im 3. Bild auch schnei­en darf?

Sze­ne aus dem 2. Bild mit So­lis­ten und dem im Hin­ter­grund zum Weih­nachts­baum auf­ge­reih­ten Chor – Foto: Jo­chen Quast

Den Tru­bel hat Lü­pertz sehr ge­konnt igno­riert. Nur ein ein­zi­ges Kind gibt es auf der Büh­ne, da­für aber ei­nen ziem­lich gro­ßen Ke­gel – letz­te­rer in Form von sta­tua­risch auf­ge­reih­ten Chor­sän­gern, die in ih­ren grü­nen Kos­tüm­kit­teln, mit ro­ten Haa­ren bzw. Kap­pen und di­cken bren­nen­den Ker­zen wir­ken wie ein abs­tra­hie­ren­des Weih­nachts­baum-Ta­bleau. Über­haupt sind „le­ben­de Bil­der“ das Stich­wort: So kann, darf und muss man die In­sze­nie­rung sehen.

Heu­ti­ge Per­so­nen­re­gie und eine psy­cho­lo­gi­sie­ren­de Sicht auf Fi­gu­ren und Hand­lung hat Lü­pertz nicht im Sinn. Zwar ging ihm mit Ma­xi­mi­li­an Ei­sen­acher ein Jung-Re­gis­seur zur Hand, zwar ar­bei­te­te er für die Aus­stat­tung wie schon in Re­gens­burg er­neut mit Ruth Groß zu­sam­men (wo­bei er ei­ni­ge Tei­le auch selbst be­mal­te), aber das We­sent­li­che an die­ser ers­ten Re­gie­ar­beit ei­nes nicht nur bil­den­den Künst­lers ist, dass er die­ser klas­si­schen Ve­ris­mo-Oper den sze­ni­schen Rea­lis­mus nimmt und statt­des­sen – ein Hauch von Iro­nie in­klu­si­ve – ein ei­gen­sin­ni­ges, ei­gen­wil­li­ges Kunst­werk ent­wi­ckelt, das her­kömm­li­che Re­gie­thea­ter­an­stren­gun­gen sou­ve­rän hin­ter sich und eher an Ar­bei­ten von Künst­ler­kol­le­gen Achim Frey­er den­ken lässt.

Das be­ginnt schon, be­vor die Oper be­ginnt. Nein, Mar­kus Lü­pertz be­spielt mit­nich­ten den Vor­hang schon vor­ab mit ei­ner Vi­deo­flut. Er hat drei poe­ti­sche Tex­te ge­schrie­ben und auf Band selbst ein­ge­spro­chen, die sei­ne Ou­ver­tü­ren auf das Ge­sche­hen sind. Für man­chen Opern­be­su­cher, der nicht auf ge­nau­es Zu­hö­ren ein­ge­stellt ist, spricht er zu schnell. Aber weil man den Text auch nicht mit­le­sen kann, er­zeugt er in je­dem Fall eine At­mo­sphä­re von un­er­war­te­ter Kunst, be­för­dert die Auf­merk­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on des Pu­bli­kums für das Kommende.

Por­t­al­pro­spekt mit Por­träts der Haupt­fi­gu­ren – Foto: Jo­chen Quast

Auf den von Lü­pertz selbst mit Por­träts der Haupt­fi­gu­ren ver­se­he­nen Por­tal­vor­hang folgt die nächs­te  Über­ra­schung: Die Büh­ne wirkt wie ein über­di­men­sio­nier­tes Pup­pen­thea­ter mit klas­sisch ge­staf­fel­ten Schie­be­ku­lis­sen, Pro­spek­ten und Stoff­hän­gern, al­les nur zwei­di­men­sio­na­le, ges­tisch wild und far­big be­mal­te Flach­wa­re. Was für die Sän­ger­dar­stel­ler nicht ganz ein­fach ist, denn es gibt kei­ne Ti­sche und Stüh­le, an und auf die man sich set­zen, auch kein Bett, in dem die tod­kran­ke Mimì sich zu Tode hus­ten kann. Die Oper fin­det im Ste­hen statt, und zwar weit­ge­hend vor­ne an der Rampe.

„Ver­ehr­tes Pu­bli­kum“, scheint der 80-jäh­ri­ge Re­gie­de­bü­tant zu ru­fen, „das hier sind al­les nur Kunst­fi­gu­ren in ei­ner Kunst­welt, die der Künst­ler Puc­ci­ni und sei­ne Li­bret­tis­ten, die Mu­si­ker und Sän­ger und auch ich, das künst­le­ri­sche Uni­ver­sal­ge­nie, ge­schaf­fen ha­ben. Ver­ges­sen Sie Ihre Rea­li­tät und die des Stücks, las­sen Sie die Fan­ta­sie ru­hig mit sich durch­ge­hen und ich ver­spre­che Ih­nen ei­nen groß­ar­ti­gen Abend.“

Gut ge­brüllt hat er ja schon im­mer, der Ma­ler­fürst. Aber er­freu­li­cher­wei­se funk­tio­niert hier sein An­satz, sein Zu­griff – zu­min­dest weit­ge­hend. Die Ak­teu­re auf der Büh­ne stel­len „sin­gen­de Ta­bleaux“ und sind von den Kos­tü­men her „tö­nen­de Far­ben“, für die zu­neh­men­de Ein­dun­ke­lung sor­gen die ge­mal­ten To­ten­köp­fe und ein Par­pi­gnol, der eben kein flie­gen­der Händ­ler, son­dern der leib­haf­ti­ge Sen­sen­mann ist. Wenn Mimì (De­niz Ye­tim) hier ein­sam im Ste­hen stirbt, in­dem sie ein­fach den wei­ßen Muff fal­len lässt, ist das un­ge­mein be­rüh­rend und in­ten­siv. Scha­de nur, dass ihr Ro­dol­fo (Alex Kim) die ge­ne­rel­le Re­gie­an­wei­sung von Mar­kus Lü­pertz, eben „nicht zu spie­len“, nicht ver­in­ner­licht hat. Er ist am Ende so opern­haft ver­zwei­felt, wie in fast al­len „Bohème“-Inszenierungen seit der Ur­auf­füh­rung 1896.

De­niz Ye­tim als Mimì und Stan Meus als Par­pi­gnol – Foto: Jo­chen Quast

Bei der be­such­ten zwei­ten Auf­füh­rung ha­ben mich vor al­lem zwei So­lis­ten sän­ger­dar­stel­le­risch voll über­zeugt (de­ren Rol­len al­ter­nie­rend be­setzt sind): Sara-Ma­ria Saal­mann ist die zier­li­che An­mut in Per­son und doch eine hand­fes­te Mu­set­ta, Ju­li­an Youn­jin Kim be­wegt sich als Mar­cel­lo mit der größ­ten Selbst­ver­ständ­lich­keit in der Lü­pertzschen Kunst­welt – und bei­de sin­gen mit ei­ner Leich­tig­keit, die stau­nen macht. Das Or­ches­ter un­ter GMD Phil­ip­pe Bach sorgt für ei­nen sat­ten Klang und vie­le Farb­nu­an­cen, nur der Chor ent­täusch­te sän­ge­risch. Auch in der zwei­ten Vor­stel­lung saß der der sze­nisch Haupt­ver­ant­wort­li­che er­neut in der Pro­sze­ni­ums­lo­ge und durf­te am Ende noch­mals im Bei­fall ba­den. Ja, Herr Lü­pertz, es war und ist großartig!

Im 3. Bild von links Alex Kim (Ro­dol­fo), Ju­li­an Youn­jin Kim (Mar­cel­lo), Sara-Ma­ria Saal­mann (Mu­set­ta) und De­niz Ye­tim (Mimì) – Foto: Jo­chen Quast

Das Staats­thea­ter Mei­nin­gen hat ak­tu­ell den Spiel­be­trieb bis ein­schließ­lich 5. Ja­nu­ar ein­ge­stellt. Wei­te­re „Bohème“-Vorstellungen sind ge­plant für 6., 14. und  23. Ja­nu­ar, 12. Fe­bru­ar, 3. und 26. März so­wie 3. und 17. April 2022.