Ein Beitrag unserer ehemaligen Vorsitzenden Dr. Jasenka Roth über den Vortrag von Prof. Dr. Jochen Hörisch.
Seit über einem Jahrhundert wird Richard Wagners Antisemitismus erforscht, analysiert und kommentiert. Die dazugehörige Literatur füllt ganze Bibliotheken. Für unseren Verband hielt Professor Jochen Hörisch, bis 2018 Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim, am 18. September 2024 einen Vortrag mit dem Titel Wagners affektiver Antisemitismus.
Gleich zu Beginn stellte der Referent klar, dass Wagners Antisemitismus an sich kaum der Diskussion wert sei. Dennoch wolle er in seinem Vortrag – gerade angesichts der aktuellen geopolitischen Lage – am Beispiel Wagners die „tieferliegenden antisemitischen Affektlagen“ erörtern, also die grundlegenden psychologischen Ursachen des Antisemitismus. Als Grundlage diente ihm Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik, die dieser 1850 als Artikel und 1869 als Broschüre veröffentlichte.
Bevor Hörisch zu den beiden zentralen Thesen zur Erklärung von Wagners affektivem Antisemitismus überging, befasste er sich mit der umstrittenen Frage, ob auch Wagners Werk von seinem Antisemitismus durchdrungen sei. Auf die Frage, ob Figuren wie Beckmesser, Mime, Alberich oder der fliegende Holländer antisemitische Stereotype verkörpern oder lediglich satirische beziehungsweise archetypische Charaktere seien, gebe es viele mögliche Antworten, erklärte Hörisch – „vom dezidierten Ja bis zum dezidierten Nein“.
Als erste zentrale psychologische Ursache von Wagners Antisemitismus identifizierte Hörisch dessen Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der jüdischen Kultur. Diese Neidgefühle belegte der Referent mit zahlreichen Zitaten, in denen Wagner seinen tief verwurzelten Hass auf Felix Mendelssohn Bartholdy und vor allem auf Giacomo Meyerbeer, dem Wagner nicht nur konkrete Unterstützung, sondern auch künstlerische und programmatische Anregungen verdankt, unverblümt zum Ausdruck bringt. Hörisch zeigte auf, wie Wagners Dankbarkeit in Wut, Spott und schließlich in Hass umschlug. Diese Dynamik, möchte ich ergänzen, ist nicht selten bei narzisstischen Kränkungen: Der Übergang von Anerkennung zur blinden Abwertung des einstigen Gönners.
Die zweite psychologische These, die Hörisch zur Erklärung von Wagners Antisemitismus präsentierte, ist die von Gustav Freytag bereits 1869 bemerkte Parallele zwischen Wagners Biografie und dem „Klischee einer jüdischen Aufstiegsbiografie“ im 19. Jahrhundert. Wagners sozialer Aufstieg aus kleinbürgerlichen Verhältnissen bis an den bayerischen Hof enthalte, so Hörisch, typische Elemente dieser Aufstiegsnarrative. Doch trotz des Erfolgs bleibe das schmerzhafte Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören und subtil ausgeschlossen zu sein – ein Gefühl, das oft in Hass umschlage.
Hörisch schlug schließlich den Bogen von Wagners Zeit zur Gegenwart, indem er auf den heutigen Antisemitismus sowie auf die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten einging. Der Referent beendete seinen Vortrag mit der Feststellung, dass Wagners Musikdramen weitaus klüger seien als sein unerträgliches Pamphlet. Anschließend stellte er sich den differenzierten Kommentaren und Fragen des Publikums.
Als Zuhörer wird man sich nach dem Vortrag der Ambivalenz zwischen Wagners Werk und seiner Person erneut bewusst: Es ist die Nähe von Zenith und Nadir, die uns bis heute fassungslos zurücklässt. Ich wünschte mir an jenem Abend, Wagner hätte mehr von Alexander von Humboldt und Gotthold Ephraim Lessing in sich getragen.
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