Big Brother lässt grüßen …

Auf die Ber­li­ner Vor­schlags­lis­te zu Stra­ßen­um­be­nen­nun­gen ha­ben auch die Wag­ner-Ex­per­ten Sven Fried­rich und Frank Piontek reagiert.

In Stutt­gart er­hielt die Ri­chard-Wag­ner-Stra­ße ein er­klä­ren­des Schild – wie man hier sieht, aus gu­ten Grün­den. Foto: An­dre­as Praef­cke, CC BY 3.0 <https://​crea​tive​com​mons​.org/​l​i​c​e​n​s​e​s​/​b​y​/​3.0>, via Wi­ki­me­dia Commons

Ja, ich weiß. Fast wäre das Wort „Sprach­po­li­zei“ das Wort des Jah­res ge­wor­den. Doch ich wid­me mich hier nicht etwa dem Gen­dern, son­dern er­neut der heik­len Fra­ge des Um­gangs mit der po­li­ti­schen Ver­gan­gen­heit. Die in punk­to Wag­ner ja von vorn­her­ein ein mehr­schnei­di­ges Schwert ist, das ger­ne auf sich selbst zu­rück und her­ein­fällt. Wie man un­schwer auch an obi­gem Foto er­ken­nen mag. Eine le­sens­wer­te Ge­schich­te dazu vom Ok­to­ber 2021 ha­ben die Stutt­gar­ter Nach­rich­ten veröffentlicht.

Die öf­fent­li­che Dis­kus­si­on in Be­zug auf die Um­be­nen­nun­gen von Stra­ßen und Plät­zen, wo­bei aus be­kann­ten Grün­den fast im­mer auch der Name Ri­chard Wag­ner fällt, ist ak­tu­ell spä­tes­tens seit dem In­ter­view, das Bar­rie Kos­ky un­ter dem Ti­tel „Mir soll kein Nicht-Jude mehr sa­gen, was an­ti­se­mi­tisch ist“ der Ber­li­ner Zei­tung ge­ge­ben hat, wie­der in vol­lem Gang. Kos­ky hat­te un­ter an­de­rem ge­äu­ßert, dass er es grau­en­haft fin­de, dass je­mand im Deutsch­land des 21. Jahr­hun­derts Lis­ten ma­che. „Wir ha­ben im 20. Jahr­hun­dert ge­nug von deut­schen Lis­ten ge­se­hen. Nicht nur in der Nazi-Zeit, son­dern auch in der DDR.“ Lis­ten sei­en künst­le­risch, po­li­tisch und ge­sell­schaft­lich ge­fähr­lich. „Und die­se Lis­te ist nicht wirk­lich wis­sen­schaft­lich, sie ist eine di­let­tan­ti­sche Provokation.“

Schon kurz zu­vor hat­te sich auch der in Tel Aviv ge­bo­re­ne deut­sche His­to­ri­ker Mi­cha­el Wolff­sohn ge­gen Um­be­nen­nun­gen aus­ge­spro­chen, wie sie zu­letzt un­ter an­de­rem in Ber­lin und Mün­chen vor­ge­schla­gen wur­den. In der Ber­li­ner Mor­gen­post schrieb er in ei­nem Gast­bei­trag un­ter an­de­rem: „Wer Stras­sen­na­men um­be­nennt oder Denk­ma­le stürzt, gibt vor, Ge­sche­he­nes wäre nicht ge­sche­hen – und för­dert, ge­wollt oder nicht, das Ver­ges­sen.“ Das gel­te al­ler­dings nicht für Ver­bre­cher und Mör­der. „Eine Adolf-Hit­ler- oder Jo­seph-Goeb­bels-Stras­se, eine Sta­lin-Al­lee, Mao-Pro­me­na­de oder ein Pol-Pot-Platz sind in ei­nem dem Me­schen­rech­ten ver­pf­li­che­ten Staat ab­so­lut tabu.“

In der De­bat­te zur „Ber­li­ner Lis­te“ hat sich in­zwi­schen auch Paul Spies, Di­rek­tor der Stif­tung Stadt­mu­se­um Ber­lin, für die Um­be­nen­nung spe­zi­ell der Ri­chard-Wag­ner-Stra­ße und des gleich­na­mi­gen Plat­zes aus­ge­spro­chen. „Man kann nicht in Ab­re­de stel­len, dass Wag­ner ein gro­ßer Mu­si­ker war“, sag­te er der Ber­li­ner Mor­gen­post. „Ihn aber mit ei­nem Stra­ßen­na­men zu eh­ren, ist pro­ble­ma­tisch, weil er ein An­ti­se­mit war. Da muss man han­deln und umbenennen.“

Dr. Sven Fried­rich, Di­rek­tor des Ri­chard Wag­ner Mu­se­ums Bay­reuth, hat in sei­nem Face­book-Ac­count dar­auf wie folgt reagiert:
Es ist selbst­ver­ständ­lich le­gi­tim und rich­tig, den An­ti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land nicht nur als his­to­ri­sches oder ir­gend­wie abs­trak­tes Phä­no­men zu be­grei­fen, son­dern auch ganz kon­kret an Per­sön­lich­kei­ten der deut­schen Ge­schich­te und Kul­tur fest­zu­ma­chen. Dazu ge­hört na­tür­lich auch Ri­chard Wag­ner. Die Um­be­nen­nung von Stra­ßen und Plät­zen ist aber in mei­nen Au­gen nur dann le­gi­tim, wenn sie nicht ei­ner teil­wei­se ideo­lo­gi­schen, teil­wei­se ab­sur­den po­li­ti­cal cor­rect­ness dient, son­dern sich auf kon­kre­te Tä­ter und un­mit­tel­ba­re Vor­den­ker be­schränkt. An­dern­falls wird Ge­schich­te ent­sorgt und be­rei­nigt, da­mit aber ver­fälscht – und der ge­äu­ßer­ten Ab­sicht ei­ner ja weiß Gott not­wen­di­gen ge­sell­schaft­li­chen Dis­kus­si­on ge­ra­de der Bo­den ent­zo­gen und so ein Bä­ren­dienst er­wie­sen. Ich tei­le hier den Stand­punkt bei­spiels­wei­se von Mi­cha­el Wolff­sohn („Ber­li­ner Mor­gen­post“ v. 7. Ja­nu­ar 2022). Die ge­gen­wär­ti­gen ideo­lo­gi­schen Ten­den­zen ei­ner ver­meint­lich (!) po­li­tisch kor­rek­ten Ma­ni­pu­la­ti­on von Spra­che, Den­ken und kul­tur­ge­schicht­li­cher Wahr­neh­mung las­sen je­doch ge­le­gent­lich den Ver­dacht auf­kom­men, dass Ge­or­ge Or­well ein Op­ti­mist ge­we­sen sein könn­te. Die Um­keh­rung des ver­blüf­fend ein­fa­chen und gro­ben State­ments von Paul Spies, dem man als Amts­kol­le­gen ei­gent­lich his­to­ri­sches Den­ken und Grund­ver­ständ­nis un­ter­stel­len kön­nen soll­te, wäre dem­nach gleich­falls be­rech­tigt: „Man kann nicht in Ab­re­de stel­len, dass Wag­ner ein gro­ßer An­ti­se­mit war. Eine Stra­ßen­um­be­nen­nung aber ist pro­ble­ma­tisch, weil er auch ein gro­ßer Mu­si­ker und eine bei al­ler Am­bi­va­lenz wich­ti­ge und fol­gen­rei­che Kul­tur­er­schei­nung war.“

Die An­spie­lung auf Ge­or­ge Or­well kommt nicht von un­ge­fähr. In sei­nem be­rühm­ten dys­to­pi­schen Ro­man „1984“ fälscht die Haupt­fi­gur alte Zei­tungs­be­rich­te, um sie an die ak­tu­el­le Li­nie der dik­ta­to­ri­schen Par­tei („Big Brot­her“) an­zu­pas­sen, und er­klärt: „Je­des Buch hat man um­ge­schrie­ben, je­des Ge­mäl­de neu ge­malt, je­des Denk­mal, jede Stra­ße und je­des Ge­bäu­de um­be­nannt. Die His­to­rie hat auf­ge­hört zu exis­tie­ren. Es gibt nur eine end­lo­se Ge­gen­wart, in der die Par­tei im­mer Recht hat.“

Auch Wag­ner- und Bay­reuth-Ken­ner Dr. Frank Piontek hat auf die „Ber­li­ner Lis­te“ re­agiert. An den An­ti­se­mi­tis­mus-Be­auf­trag­ten schrieb er:
Sehr ge­ehr­ter Herr Prof. Salzborn,
die Lis­te, der­zu­fol­ge vie­le Dut­zen­de Ber­li­ner Stra­ßen um­be­nannt wer­den soll­ten, ent­hält auch den Na­men des be­kann­ten An­ti­se­mi­ten und Au­tors Ri­chard Wag­ner. Fra­ge: Ist es, falls es zu ei­ner Platz­um­be­nen­nung kom­men soll­te, auch ge­plant, die Wer­ke des an­ti­se­mi­ti­schen Kom­po­nis­ten und (stets ei­ge­nen) Text­dich­ters Wag­ner von den Pro­gram­men der Ber­li­ner Opern­häu­ser ab­zu­set­zen, da, wie ich lese, „Werk und Welt­bild“ zu­sam­men­ge­hö­ren? An­de­res wäre doch in­kon­se­quent, oder?

Üb­ri­gens sind so­wohl Frank Piontek als auch Sven Fried­rich un­se­re nächs­ten Re­fe­ren­ten. Piontek wird zum Fa­schings­aus­klang am 22. Fe­bru­ar 2022 um 19.30 Uhr Pre­zio­sen aus sei­ner Samm­lung von Ge­dich­ten Ri­chard Wag­ners im KUFA-Saal zum Bes­ten ge­ben, am 29. März 2022 um 19.30 Uhr folgt eben­dort der Nach­hol­ter­min des Vor­trags von Sven Fried­richs über die „Ring“-Inszenierungen in Bay­reuth. Der Ein­tritt zu den Vor­trä­gen ist frei, eine An­mel­dung ist we­gen mög­li­cher Be­schrän­kun­gen der Teil­neh­mer­zah­len ob­li­ga­to­risch. Sie kön­nen sich schon jetzt zu die­sen Vor­trä­gen ei­nen Sitz­platz si­chern un­ter anmeldung-rwv-bamberg@t-online.de

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