Das Remake von Simon Stones Baseler Inszenierung der Korngold-Oper „Die tote Stadt“ im Münchner Nationaltheater gelingt dank großartiger Hauptsolisten und der überragenden musikalischen Leitung von Kirill Petrenko.
„Kill your Darlings“ lautet das Spielzeitmotto der Bayerischen Staatsoper. Und schon die erste Premiere der Saison 2019/20 löst dieses Leitmotiv ideal ein, denn in der dreiaktigen, 1920 uraufgeführten Oper „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold geht es genau darum: um das Festhalten, Nicht-Loslassen-Können und Trauern, um Machtfantasien, Wunsch- und Alpträume eines verzweifelt Liebenden – und ums Töten.
Paul heißt der Mann in diesem Psychokrimi, dessen Auslöser eine tote Frau ist: Der Witwer trifft auf eine frivole Tänzerin, die seiner früh verstorbenen Frau Marie aufs Haar gleicht. Marietta lässt nicht nur seine psychopathologische Devotionalienkammer implodieren. Sondern verführt ihn und bringt ihn in seinem Wahn, seinen Projektionen und Halluzinationen dazu, sie zumindest im Traum umzubringen.
Im Original spielt die Oper, deren Libretto sich am damaligen Kultroman „Bruges-la-Morte“ (Die stille Stadt) von Georges Rodenbach orientierte, im belgischen Brügge, das wie das morbide Venedig von Kanälen durchzogen ist und wo die Grenzen zwischen Realität und Vision wie von selbst verschwimmen. Die Inszenierung von Netflix-Shootingstar Simon Stone, die als Operndebüt des Regisseurs bereits 2016 am Theater Basel ihre viel beachtete Premiere feierte, verzichtet auf das düster-dekadente Umfeld. Anstelle symbolistischer Szenarien setzt Bühnenbildner Ralph Myers einen kühlen Bungalow mit der Nummer 37, der sich im virtuosen Licht von Roland Edrich in ein labyrinthisches und in die Höhe wachsendes Alptraumhaus verwandelt.
Auch die Personenregie – bravourös umgesetzt von Maria-Magdalena Kwaschik, der Regieassistentin von Stone in Basel – zeigt dezidiert heutige Figuren. Dass der stets korrekt gekleidete Paul (Kostüme: Mel Page) sogar einen Hut trägt, unterstreicht seine Rückwärtsgewandtheit ebenso wie die vielsagenden Filmplakate an den Wänden.
Es ist nicht die schlüssige Aktualisierung allein, die diese Interpretation auszeichnet: Denn was Simon Stone herausgearbeitet hat, ist ein verkapptes Zwei-Personen-Stück, das mit Chor, Kinderchor, Statisten sowie acht solistischen Nebenfiguren ausladend besetzt ist. So engagiert und großartig letztere auch singen und agieren, der Abend gehört Marlis Petersen als Marietta/Marie sowie Jonas Kaufmann als Paul.
Selbst wenn man über Kaufmanns zuweilen gaumige und nicht immer frei wirkende Tenorstimme streiten kann, ist sein Rollendebüt vollauf gelungen, denn Korngolds Paul ist eine der anspruchsvollsten Partien überhaupt. Sie insgesamt so gut gesungen und schauspielerisch so berührend und fesselnd zu erleben, rechtfertigt schon allein jede Fahrt nach München.
Erst recht gilt das für Marlis Petersen, deren Karriere in Nürnberg begann. Bezwingend verkörpert sie zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können: die Erscheinung der krebskranken, schon vom Tod gezeichneten Marie und die sehr reale, von Lebenslust und Selbstbewusstsein sprühende Marietta. Bis auf einen Spitzenton gelang Petersen der vorgegebene Parforceritt schon bei der Premiere am Montag mit unglaublicher Leichtigkeit, ja mühelos. Einfach phänomenal!
Kirill Petrenko, der leider nur mehr begrenzt im Nationaltheater wirkende Generalmusikdirektor, ist nicht nur der Garant dafür, dass die Hauptsolisten hier triumphieren. Wie immer lässt er sein von ihm auf Welthöchstniveau gebrachtes Bayerisches Staatsorchester nur dann voll auffahren, wenn kein Solist Angst haben muss, von den durchaus auch vorhandenen Klangfluten zugedeckt zu werden.
Mehr noch gelingt ihm in seinem gleichermaßen analytischen wie mitfühlenden Ansatz, den musikdramatischen Übergängen ebenso wie den vielen intimeren, zarten Stellen der Partitur Überzeugungskraft zu geben. Die Münchner Aufführung ist der längst fällige Höhepunkt der aktuellen Korngold-Renaissance.
Am Ende, wenn der von seinen Grenzerfahrungen erschöpfte Paul einsam ein Bier trinkt und nochmals den Superhit „Glück, das mir verblieb“ anstimmt, spielt die Inszenierung ergreifend auf den Arbeitstitel der Oper „Der Triumph des Lebens“ an: Korngold war noch keine zwanzig Jahre alt, als er mit der Komposition der Oper begann, die zum größten Bühnenerfolg der 20er und 30er Jahre avancierte, bevor die Nazis sie aus den Spielplänen verbannten.
Besuchte Premiere am 18. November. Die Aufführungen am 22. und 27.11. sowie am 1., 6. und 11.12. sind ausverkauft. Karten gibt es aktuell nur noch über die Kartenbörse auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper.
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