Der Brief einer holländischen Übersetzerin, die sich mit dem „Offenen Brief“ Richard Wagners an den Vivisektions-Gegner Ernst von Weber befasst hatte, ist am 22. März 1880 ein Thema in der Villa Angri hoch über Neapel, wo Wagner dank großzügiger Unterstützung König Ludwigs II. von 4. Januar bis 7. August 1880 mit den Seinen fürstlich logiert. „Wie ich R. davon spreche“, schreibt seine Frau Cosima, „sagt er: ‚Das sind wohl rührende Zeichen, und ich könnte mich über manches freuen, aber der Kummer über das Ganze läßt die Freude über das Einzelne nicht recht aufkommen. Ich erwarte jetzt Resultate, und die können in Deutschland nicht kommen, es ist verjüdet und verprofessort‘.“
In Cosima Wagners Tagebüchern vergeht kaum eine Woche, in der sich der Antisemitismus der beiden nicht unmissverständlich niederschlägt. Besonders häufig geschieht das im März 1869, als die zweite Fassung der sogenannten „Judenbroschüre“ erscheint. Dass Wagner die Hetzschrift mit dem Titel „Das Judenthum in der Musik“, die er zuerst 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank in zwei Folgen der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlichte, fast zwanzig Jahre später nochmals und unter seinem Namen als Broschüre mit zusätzlichen und ausführlichen Erläuterungen herausbrachte, ist gewissermaßen der größere Sündenfall: Mit der wirkungsmächtigeren Broschüre wurde klar, dass Wagner in diesem Punkt ein Überzeugungstäter war.
Das verstanden teilweise auch seine Freunde und Förderer so. Franz Liszt schrieb an seine Lebensgefährtin, Carolyne Fürstin von Sayn-Wittgenstein: „Wagner publiziert in Broschürenform seinen alten Artikel über das Hebräertum, Das Judenthum in der Musik. Weit davon entfernt, seinen Fehler einzugestehen, verschlimmert er ihn durch einen Vorspruch und ein Nachwort, die an Madame Kalergis adressiert sind.“ Und der mit Wagner befreundete Dirigent Heinrich Esser ließ Wagners Verleger Franz Schott wissen: „Ich begreife nicht, wie Wagner einen solchen Wahnsinn begehen konnte, eine vor vielen Jahren begangene und seither in Vergessenheit geratene Dummheit wieder aufzuwärmen und sich neuerdings unsterblich zu blamieren.“
Über Wagners Judenhass ist in den letzten Jahrzehnten einiges publiziert worden. Für mich herausragend sind zwei Bücher von Jens Malte Fischer: sein im Jahre 2000 erstmals publiziertes Insel-Taschenbuch Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“ (380 S., nur noch antiquarisch zu haben, 2015 aktualisiert wieder aufgelegt als Band 15 der Reihe „Wagner in der Diskussion“ bei Königshausen & Neumann, 286 S., 38 € ) und – in kürzerer Form und kombiniert mit anderen Themen – der 2013 erschienene Essayband „Richard Wagner und seine Wirkung“ aus dem Zsolnay Verlag (320 S., 19,95 €).
Für alle Einsteiger in das Thema ist dieses Buch ideal, schon einfach deshalb, weil der Autor es schafft, selbst die schlimmsten Satz-Ungetüme – und in Wagners theoretischen Schriften ist davon leider kein Mangel – gut lesbar auf ihren Kern zu reduzieren. Fischer doziert nicht, belehrt nicht, ideologisiert und polemisiert nicht. Sondern offeriert ein reichhaltiges Material, über das sich jeder sein eigenes Bild machen kann und darf, angefeuert durch seine Zuspitzungen, die eine, seine klare Haltung spiegeln.
Und die fußt, wie die Widmung seiner Dokumentation zur Judentum-Broschüre von 2000 an den 2012 vesrtorbenen Mediävisten und Wagnerkenner Peter Wapnewski zeigt, darauf, „dass man sich intensiv mit Wagner beschäftigen kann, ohne durch Liebe blind oder durch Hass taub zu werden.“ Deshalb wird Jens Malte Fischer auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es nur eine Wunschvorstellung sein kann, zu glauben, dass Wagners Antisemitismus sich nicht auch in dessen Musik niederschlägt.
„Die ungläubige und oft aggressive Abwehr des heutigen Wagner-Publikums gegenüber Hinweisen, dass etwa in Figuren wie Mime und Beckmesser die antijüdischen Ressentiments ihres Schöpfers erkennbar sind“, schreibt er, „beruht vor allem darauf, dass die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbstverständliche Imprägnierung mit dem kulturellen Code des Antisemitismus (in ganz verschiedenen Intensitätsgraden) angesichts dessen, was im 20. Jahrhundert geschah, nicht mehr selbstverständlich ist.“ Er liefert auch zu Marc Weiners umstrittener These, wonach heutige Zeitgenossen antisemitische Anspielungen in bestimmten Wagnerfiguren und in der Musik gar nicht mehr hören und sehen können, Belege und neue Gedankenansätze und schließt mit der Forderung, dass „dieses außerordentlich schwierige, aber auch dankbare und notwendige Thema“ noch einmal gründlich und grundsätzlich aufgegriffen werden muss.
Fischer gehört nicht zu jenen, die Wagner in direkter Linie für Hitler verantwortlich machen wollen. „Ich weise aber darauf hin“, schreibt er, „dass auch und gerade ein Künstler vom Range Richard Wagners, der sich für alles zuständig fühlte und zu allem sich autoritativ geäußert hat, weit über sein eigentliches Gebiet hinaus, nicht entbunden werden kann von der Mitverantwortung dafür, was mit seinen prononcierten Äußerungen von der Nachwelt getan wird.“
Das mag zwar auch keiner hören, aber es ist nichtsdestoweniger richtig. „Das Problem ist“, so Fischer, „dass Wagner-Interpreten, Regisseure wie Dirigenten vor allem, Wissenschaftler, aber auch ‚simple‘ Wagner-Liebhaber es zwar aushalten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ihr Heros antisemitische Ansichten von einiger Radikalität geäußert hat. Sie wollen aber nicht anerkennen, dass diese seine Ansichten Spuren in seinem Bühnen- und kompositorischen Werk hinterlassen haben, weil sie dann ja vor der Alternative stünden, entweder ihrer Liebe zu diesem Werk abzusagen oder diese aufrechtzuerhalten in vollem Bewusstsein dieses Sachverhaltes.“
Am 5. März 1869 notiert Cosima: „Von der Post bringt R. die ersten Exemplare der Juden-Broschüre mit“, am 10. März meldet sich brieflich ihr damaliger Noch-Gatte Hans von Bülow und „ist von der Broschüre sehr entzückt.“ Am 16. März bringt R. „einen Brief von Mme Viardot herauf – über die Juden-Broschüre! Ja dieser Unsinn oder dieser tiefe Sinn. Sie ist Jüdin, das ist nun klar.“ Am 17. kommt noch ein Brief der berühmten Sängerin, und der Leipziger Verleger Johann Jacob Weber schickt die ersten Rezensionen: „Alles schäumt, tobt, verhöhnt. Abends Diktat.“
Aktualisierte Version der Erstveröffentlichung von 2013 auf www.infranken.de in dem Blog „Mein Wagner-Jahr“
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