Wagners Tribschen

Am 15. April 1866 zog Ri­chard Wag­ner in das Haus an der Trib­sche­ner Land­zun­ge am Vier­wald­stät­ter­see ein. Die­ses sein zwei­tes Schwei­zer Asyl blieb bis 22. April 1872 der Haupt­wohn­sitz für ihn und sei­ne wach­sen­de Patch­work­fa­mi­lie. Heu­te ist es ein Wagner-Museum.

Wag­ners Vil­la in Trib­schen in ei­ner his­to­ri­schen Auf­nah­me – Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung, Bayreuth

„Will­kom­men, Schick­sal“, schrieb Ri­chard Wag­ner sei­ner da­ma­li­gen Ge­lieb­ten Co­si­ma von Bülow am 7. April 1866 nach Mün­chen, „Asyl sei Trieb­schen!“. Die bei­den hat­ten das drei­stö­cki­ge, auf der Halb­in­sel am Süd­ost­rand von Lu­zern ge­le­ge­ne Land­haus am 30. März bei ei­ner Schiff­fahrt auf dem Vier­wald­stät­ter See für sich ent­deckt. Für Wag­ner war Lu­zern nichts Neu­es. Er war zu Kurz­auf­ent­hal­ten 1850, 1854 und 1858 be­reits dort ge­we­sen und ver­brach­te 1859, als er nicht mehr in sein We­sen­don­ck-Asyl in Zü­rich zu­rück­keh­ren konn­te, fast ein hal­bes Jahr in Lu­zern und voll­ende­te im Ho­tel Schwei­zer­hof die „Tristan“-Partitur.

Otto Stro­bel, frü­he­rer Wahn­fried-Ar­chi­var und Her­aus­ge­ber des fünf Bän­de um­fas­sen­den Brief­wech­sels zwi­schen Kö­nig Lud­wig II. und Wag­ner, kom­men­tiert die Tat­sa­che, dass Wag­ner be­reits am 4. April den Miet­ver­trag un­ter­schrie­ben hat­te, wie folgt: „Es war ge­wiss eine selt­sa­me Fü­gung, dass der Ent­schluss des Kö­nigs, Wag­ner nach Bay­ern zu­rück­kom­men zu las­sen, bei­na­he in der­sel­ben Stun­de ge­fasst wur­de, in der die­ser sich eine neue Heim­stät­te er­wähl­te. Nur vor­über­ge­hend ward Wag­ner schwan­kend, nach­dem er von dem Vor­schla­ge des Kö­nigs Kennt­nis ge­nom­men; dann aber hat­te er sich in­ner­lich schnell entschieden.“

Er konn­te gar nicht an­ders. Denn eine Rück­kehr nach Mün­chen wür­de zwangs­läu­fig be­deu­tet ha­ben, dass sein längst ehe­ähn­li­ches Ver­hält­nis mit Co­si­ma, über das er Lud­wig stets be­lo­gen hat­te, schnel­ler of­fi­zi­ell auf­ge­flo­gen wäre. Dann lie­ber not­falls wei­ter die Mé­na­ge à trois: „Ich rech­ne­te da­bei ein­zig dar­auf“, schrieb er den bei­den Bülows, nach­dem er den Miet­ver­trag mit dem Nach­barn und Ei­gen­tü­mer des Hau­ses, Oberst­leut­nant Wal­ter Lud­wig Am Rhyn, un­ter Dach und Fach ge­bracht hat­te, „dass Ihr so lan­ge als nur mög­lich mit mir es bewohnt.“

Am 10. April wur­de im Auf­trag des Kö­nigs gleich die Jah­res­mie­te über­wie­sen, am 15. April 1866 zog Wag­ner, der zwi­schen­zeit­lich wie­der ein­mal im Ho­tel Schwei­zer­hof in Lu­zern lo­giert hat­te, in das idyl­lisch ge­le­ge­ne, aber et­was ver­wahr­los­te Land­haus ein, küm­mer­te sich um neue Mö­bel und di­ver­se Ein- und Um­bau­ten. Mar­tin Gre­gor-Del­lin schreibt dazu in sei­ner Wag­ner-Bio­gra­fie von 1980: „Er tauf­te es ‚Trieb­schen‘ und lei­te­te den Na­men von ‚an­ge­trie­be­nes Land‘ ab, was die Wag­ne­ria­ner über­nah­men, ob­wohl sich Gut und Land­zun­ge ur­sprüng­lich Trip­schen ge­schrie­ben hat­ten. (…) Zu Wag­ners Zeit führ­te vom Hof eine stei­ner­ne Trep­pe ins Haus. Am Ende des Kor­ri­dors lag das Spei­se­zim­mer, rechts da­von der Eck­sa­lon, aus des­sen Glas­tür man nach der See­sei­te in den Gar­ten trat. Wei­ter rechts be­fand sich das Ar­beits­zim­mer mit der Bi­blio­thek, an das Wag­ners Schlaf­zim­mer stieß, ein klei­ner Raum mit ei­nem Fens­ter nach der Hof­sei­te, den Blick zum Pi­la­tus. Hier woll­te er bleiben.“

Er blieb sechs, in je­der Hin­sicht frucht­ba­re Jah­re. In die­sem Haus voll­ende­te er die „Meistersinger“-Partitur, be­schloss den „Sieg­fried“ und be­gann mit der Kom­po­si­ti­on der „Göt­ter­däm­me­rung“. Da­ne­ben ent­stan­den klei­ne­re Or­ches­ter­stü­cke wie der Kai­ser­marsch, Frag­men­te und Skiz­zen zu wei­te­ren Pro­jek­ten. Au­ßer­dem ver­fass­te er et­li­che sei­ner theo­re­ti­schen Schrif­ten, dar­un­ter „Deut­sche Kunst und Deut­sche Po­li­tik“ (1867), „Über das Di­ri­gie­ren“ (1869) und „Beet­ho­ven“ (1870). Und er dik­tier­te Co­si­ma ei­nen Groß­teil sei­ner Au­to­bio­gra­fie „Mein Leben“.

Ri­chard Wag­ner mit Toch­ter Eva und Hund Russ 1867 in Trib­schen Vor­la­ge: Wikipedia

Es war für ihn die wohl glück­lichs­te Zeit sei­nes Le­bens – spä­tes­tens ab dem 16. No­vem­ber 1868, als Co­si­ma mit ih­ren Bülow-Töch­tern Da­nie­la und Blan­di­ne so­wie den Wag­ner-Kin­dern Isol­de und der schon in Trib­schen ge­bo­re­nen Eva end­gül­tig zu ihm in die Schweiz ge­kom­men war. End­lich gab es das Fa­mi­li­en­le­ben, das er sich im­mer ge­wünscht hat­te und das sich ab dem 1. Ja­nu­ar 1869 und bis zu sei­nem Tod auch in Co­si­mas Ta­ge­buch spie­geln soll­te. End­lich soll­te mit Sieg­fried auch der Stamm­hal­ter ge­bo­ren wer­den, end­lich konn­te er am 25. Au­gust 1870 die zum evan­ge­li­schen Glau­ben kon­ver­tier­te Co­si­ma hei­ra­ten, der er zum 33. Ge­burts­tag das Trib­sche­ner Idyll, das spä­ter so ge­nann­te Sieg­fried-Idyll widmete.

Nicht zu ver­ges­sen die mut­maß­li­chen Früch­te sei­ner Sei­ten­sprün­ge, denn sei­ne lang­jäh­ri­ge Lu­zer­ner Be­diens­te­te Ve­re­na Sto­cker, ge­nannt Vren­e­li, brach­te am 4. Ok­to­ber 1868 ih­ren ers­ten Sohn zur Welt, der mit Wil­helm Ri­chard die glei­chen Na­men wie sein Va­ter be­kom­men soll­te. Wie schon bei sei­ner erst­ge­bo­re­nen Toch­ter Isol­de, die sei­ne Va­ter­schaft spä­ter ver­geb­lich ein­klag­te, über­nahm Wag­ner die Pa­ten­schaft für das Kind, dem er bis zu sei­nem Tod re­gel­mä­ßig Geld und Ge­schen­ke schick­te. Vren­e­lis Sohn be­kam zwei Ge­schwis­ter: Bern­hard  am 7. Ok­to­ber 1869 und Ma­rie am 21. Fe­bru­ar 1872. Von letz­te­rer und de­ren Sohn exis­tie­ren Fo­tos, die eine auf­fal­len­de Ähn­lich­keit mit Wag­ner er­ken­nen lassen.

Als Wag­ner am 22. April 1872 Trib­schen end­gül­tig in Rich­tung Bay­reuth ver­ließ, fiel ihm und den Sei­nen der Ab­schied nicht leicht. „Wag­ner ist sehr an­ge­grif­fen“, schrieb Co­si­ma ih­rer Freun­din Ma­rie von Sch­le­i­nitz, „und so­mit ist auch mir der Le­bens­nerv er­reicht. Das Auf­ge­ben un­se­rer idyl­li­schen Exis­tenz fällt uns schwe­rer, als man­cher ah­nen mag.“ Zeu­ge des Auf­bruchs war, wie Mi­cha­el Ried­ler in sei­nem Buch über Wag­ners Zeit in Lu­zern und das 1933 ge­grün­de­te Mu­se­um in Trib­schen fest­hält, Fried­rich Nietzsche.

Der jun­ge Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor war dort ins­ge­samt 23 Mal zu Be­such, beim letz­ten Mal war Wag­ner selbst schon nicht mehr da. „Trib­schen hat nun auf­ge­hört“, be­rich­te­te er am 1. Mai in ei­nem Brief an Carl von Gers­dorff. „Wie un­ter lau­ter Trüm­mern gin­gen wir her­um. Die Rüh­rung lag über­all, in der Luft und in den Wol­ken; der Hund fraß nicht, die Die­ner­schaft war, wenn man mit ihr re­de­te, in be­stän­di­gem Schluch­zen. Wir pack­ten die Ma­nu­skrip­te, Brie­fe und Bü­cher zu­sam­men – ach, es war so trostlos!“

Schon zwei Jah­re zu­vor, am 19. April 1870, hat­ten Wag­ner und Co­si­ma das Mark­gräf­li­che Opern­haus in Bay­reuth be­sich­tigt, ohne den er­hoff­ten Er­folg, denn Co­si­ma no­tiert, die al­ten Bau­küns­te durch­aus lo­bend: „Al­lein, das Thea­ter passt für uns gar nicht; also bau­en, und um so bes­ser. Nun ein Haus fin­den, mit dem Schloss­ver­wal­ter fah­ren wir über­all her­um, nichts kon­ve­niert ganz, also auch für uns bau­en. Schö­ne Spa­zier­fahrt zur Ere­mi­ta­ge, der alte Ver­wal­ter dort freut sich R. zu se­hen und sagt, nur die Pfaf­fen hät­ten R. vom Kö­nig [ge]trennt, das Volk lie­be ihn. Abends ist R. sehr müde. Die Bay­reu­ther Be­völ­ke­rung in Auf­ruhr über sein Hiersein.“

Ak­tua­li­sier­te Ver­si­on der Erst­ver­öf­fent­li­chung 2013 in dem Blog „Mein Wag­ner-Jahr“ 

Das Land­haus in Trib­schen am Vier­wald­stät­ter See mit dem Pi­la­tus im Hin­ter­grund. Wag­ner leb­te hier mit sei­ner Patch­work­fa­mi­lie, Haus­an­ge­stell­ten und Haus­tie­ren von April 1866 bis zu sei­nem Um­zug nach Bay­reuth im April 1872. Foto: Ales­san­dro Gallo