„Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ heißt ein sehenswerter Dokumentarfilm von Axel Brüggemann, der am 28. Oktober in die Kinos kommt.
Er fängt in Venedig an, mit traumhaften Bildern aus der Lagunenstadt: Der Dokumentarfilm „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ von Axel Brüggemann, der am heutigen Donnerstag in die Kinos kommt, macht unter anderem Station in den U.S.A., in Israel, Japan, Abu Dhabi und Lettland. Aber natürlich liegt der Schwerpunkt in Bayreuth – wo sonst? Schließlich steht hier das Festspielhaus, das Richard Wagner eigens für die Aufführung seiner Werke erbauen ließ und damit aus der fränkischen Provinzstadt eine Weltstadt auf Zeit gemacht hat. Die 1876 eröffnete Mutter aller Festspiele wird seither fast jeden Sommer zum Pilgerort für Wagnerianer aus allen Kontinenten.
Der Journalist, Filmregisseur und Drehbuchautor Axel Brüggemann, der in der Festspielstadt die Public Viewings moderierte und seit bald zehn Jahren die Kinoübertragungen der Bayreuther Festspiele begleitet, kennt sich gut aus in der Wagnerszene. Mit Festspielleiterin Katharina Wagner, von der vor allem der Satz „Das Vergnügen, ein Wagner zu sein, hält sich in Grenzen“ hängen bleibt, und mit den Festspielkünstlern ist er auf Du und Du. Mit dem Rest der Wagnerwelt auch, ob das nun bei den Wagnertagen in Venedig ist, bei der ersten „Ring“-Aufführung durch Afroamerikaner in Newark (New Jersey), beim aus nur zwei Mitgliedern bestehenden Richard-Wagner-Verband in den Vereinigten Emiraten, beim Flash-Mob in Riga für die Renovierung des dortigen Wagnertheaters oder bei japanischen Wagner-Fans ganz unterschiedlichen Alters und Einkommens.
Im Festspielhaus schauen Brüggemann und sein auf bildschöne ruhige Hochglanzmagazinbilder abonnierter Kameramann Roland Wagner natürlich hinter die Kulissen. Ein Höhepunkt sind die Aufnahmen aus dem Orchestergraben, wo der damalige Musikdirektor Christian Thielemann aus dem Nähkästchen plaudert, sein wirklich beachtliches Wagner-Kinn zeigt und bei einer Probe zum Gaudium des Orchesters mit gleich zwei vorsintflutlichen Telefonen hantiert, die bekanntlich durchaus ihren Sinn haben, während Jetset-Dirigenten-Kollege Valery Gergiev eher auf dem Regionalflugplatz glänzt. Naja, er hat auch nur einen Festspielsommer vorbeigeschaut … Nicht zu vergessen Tenor Pjotr Beczala, der sich, ganz wie Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller sich das vorstellen mögen, standesgemäß in einer schönen alten Villa eingemietet hat, zu der seine allerdings neuere Luxuslimousine vorzüglich passt. Ein bisschen Glamour muss schon sein und es ist schön, dass Brüggemann bei allen Beteiligten das Vertrauen genießt, dass er das, was er filmt, auch zeigen kann.
Die Stars sind das eine, die Beobachter das andere. Dazu zählt der amerikanische Musikjournalist Alex Ross, der mit seinem gleichnamigen Buch die „Welt nach Wagner“ neu sortiert hat und sich mehrfach zu Themen äußert, die bestimmt nicht jedem Zuschauer geläufig sind. Dazu zählen vor allem Ulrike und Georg Rauch – ein Bayreuther Metzgerehepaar, das in seiner Direktheit, Offenheit und Natürlichkeit wirkt, als wäre es eine Erfindung von Loriot alias Vicco von Bülow, der zumindest um ein paar Ecken zur Wagner-Familie gehörte. Zweifellos werden die Rauchs Kult mit ihren köstlichen Monodialogen im eigenen Wohnzimmer, wo nicht umsonst auch ein Foto von Wagner-Enkel Wolfgang Wagner steht, der zu Lebzeiten selbstredend Kunde dieser Metzgerei am Rande des Hügels war.
Die Rauchs haben, wie 2020 eine Bayreuther Online-Zeitung ermittelte, die besten Bratwürste, was auch die Autorin dieses Textes bezeugen kann und gerne (ohne etwas für die unverblümte Werbung zu bekommen) auf die Metzgerei in der Munckerstraße und den Bratwurststand in der Richard-Wagner-Straße verweist. Darüber hinaus sind sie mit ihren Erinnerungen und Einschätzungen auf Bareiderisch einfach nicht zu toppen. „Häddn die Münchner ihn ned ausgepfiffn, dann wär er heud ned bei uns, der Waachner“, sagt Ulrike Rauch, deren Mann zwar auch zu Wort, aber selten zu Ende kommt, weil seine Frau einfach nicht zu stoppen ist. „I bin stolz, dass mer ihn ham“, sagt sie über Wagner, „sonst wärma goar niggs“. Wo sie recht hat, hat sie recht.
Die weniger appetitlichen Seiten Richard Wagners spart Brüggemann nicht aus. So wird das Thema Antisemitismus von mehreren Seiten beleuchtet, unter anderem sehr berührend von Jonathan Livny, dem Vorsitzenden der Wagner-Gesellschaft in Israel, und von „Meistersinger“-Regisseur Barrie Kosky mit klugen und richtigen Anmerkungen zum Umgang damit. Kostproben aus Festspielinszenierungen und viel geschickt eingesetzte Wagnermusik runden das Filmtableau ab. So manche Szene zeigt, dass der Regisseur, wiewohl selbst Wagnerianer, in der Lage ist, sich und andere Fans auch ironisch zu sehen. Während er über die Sprachprobleme der Brünnhilden-Debütantin – sie singt „Stärke Schreite“ statt „Starke Scheite“ – nobel hinwegsieht, nimmt er die Vereinswagnerianer schon per Kameraeinstellung ein bisschen auf die Schippe.
Das Augenzwinkern hört – zumindest bei mir – allerdings auf, wenn Brüggemann unnötigerweise noch Plácido Domingo ins Spiel bringt. Muss ein Dokumentarfilm festhalten, dass der 2018 in Bayreuth als Dirigent krachend gescheiterte und 2019 wegen MeToo-Vorwürfen ins Gerede gekommene ehemalige Startenor eine Sängerin umarmt? Muss Domingo groß auf dem Plakat stehen, obwohl das seiner Präsenz im Film gar nicht entspricht? Oder hat er gar dafür bezahlt? Ach, sei’s drum, ich will’s gar nicht wissen. Denn der Film ist über weite Strecken unbedingt ein Gewinn. Nicht zuletzt deshalb, weil er eine heimliche Sehnsucht vieler Wagnerianer visualisiert, nämlich möglichst alle Partien singen zu können: Alessandra Pugliese, die Vorsitzende des venezianischen Wagnerverbands und selbst eine erfolgreiche Gesangspädagogin, singt hier bei den Wesendonck-Liedern stumm mit, während man die Stimme einer jungen Sängerin hört, die im Hintergrund in einem Saal des Teatro la Fenice probt. Womit wir wieder beim Anfang des unterhaltsamen Films wären – und am Ende von Wagners Leben. Ach ja.
Einen schönen Einblick in den Film finden Sie hier, in der KinoKino-Sendung von 3sat vom 26. Oktober 2021. Am 28. Oktober um 20 Uhr moderiert der Regisseur die Premiere im Bayreuther Cineplex (Hindenburgstr.2), tags darauf um 19 Uhr im Cinecitta Nürnberg (Gewerbemusueumsplatz 3).
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