Meine Festspielbilanz: Ein unvergessliches „Parsifal“-Erlebnis in der ersten Parkettreihe, ein „Ring“, der sich für mich schön gerundet hat, und zwei Hügel-Debütanten im Graben, die vom Gesang her kommen und damit hörbar eine neue Qualität in die musikalische Interpretation einbringen.
Ein bisschen spät. Aber nach Jahrzehnten tagesaktueller Berichterstattung nehme ich mir die Freiheit, erst jetzt, nachdem sich alles in Ruhe setzen konnte, meine Eindrücke vom diesjährigen Festspielsommer und einige Anmerkungen nachzureichen. Was den neuen „Parsifal“ betrifft, war meine Auseinandersetzung mit der Neuproduktion ausgesprochen intensiv, denn ich habe die Produktion auf sehr unterschiedlichen Plätzen dreimal im Festspielhaus erlebt und zusätzlich zweimal zuhause als Stream beziehungsweise in der TV-Übertragung bei 3sat.
„Parsifal“ mit Brille
Die mit meinen Werten versehene AR-Brille war im 1. Akt noch nicht optimal für die gleichzeitige Fernsicht auf die Bühne eingestellt, sodass sich zeitweise aus der 28. Parkettreihe für mich eher eine Statuarik à la Oberammergau (von anno dazumal, also vor der Ära Christian Stückl) ergab. Erst im 2. Akt konnte ich die realen Gesichter der Solisten und die durchaus vorhandenen Blickbeziehungen auch ohne die Live-Videos erkennen. Die zusätzlichen 400 verschiedenen Views (Video und AR: Joshua Higgason), die analog zur Musik sukzessive auf der dunklen Brille eingespielt wurden, fand ich teils großartig, teils banal, teils klug, teils unverständlich. Intensiv nutzte ich die Möglichkeit, immer wieder den Kopf nach allen Seiten zu drehen und zu wenden, zu senken und zu heben und über die Brille auch zu interagieren mit manchen Bildern. Fazit: Zweifellos ist Augmented Reality für ein Theatererlebnis eine allerdings noch sehr ausbaufähige Erweiterung, ist eine auch spielerische Einbeziehung der Zuschauer, die richtig Spaß machen kann. Aber es ist gerade erst ein Anfang gemacht worden, ein erstes Herantasten an das, was laut Regisseur Jay Scheib durch den rasanten Fortschritt in diesem Bereich noch bald alles möglich sein wird. Ausgerechnet dort, wo man in „Parsifal“ am ehesten erwartet hätte, dass die AR-Technik mehr kann als das „normale“ Theater, nämlich eine perfekte Bühnenbildverwandlung zum Kernsatz „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“, war heuer – noch? – Fehlanzeige. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Es ist ein reizvolles Experiment, das aber sicher nur einen Teil der Besucher anspricht. Ist vielleicht kein Zufall, dass im Vorverkauf für den nächsten Festspielsommer wieder nur 330 Brillenplätze ausgewiesen sind.
„Parsifal“ als Aufzeichnung
Die Aufzeichnung der Premierenvorstellung, die ich im Fernsehen sehen und streamen konnte, vermittelte mir vor allem, dass dieser „Parsifal“ ohne Spezialbrille wie eine eher herkömmliche heutige Inszenierung wirkt. Will heißen: Von der Nähe betrachtet wirkt Jay Scheibs Personenregie zwar intensiv und durchdacht – ein Eindruck, der sich im Saal, je weiter man weg sitzt vom Geschehen, aber nicht unbedingt bestätigt, denn hier fehlte dem Regisseur noch das Augenmerk für eine ausgefeilte Körpersprache, die der Dynamik des musikalischen Geschehens entspricht. Die auch darstellerisch hervorragend besetzte Produktion leidet in der Aufzeichnung zuweilen darunter, dass die TV-Regie beziehungsweise die Kameraleute kein Gespür dafür haben, dass die gegebene Diskrepanz zwischen dem realen Alter der Solisten und dem zuweilen sehr viel jüngeren Rollenprofil nach einem gewissen Abstand verlangt, den der Zuschauer im Saal normalerweise hat. Während die Live-Video-Aufnahmen – zum Beispiel gleich zu Beginn des 1. Akts von der Liebesszene zwischen Gurnemanz und der nicht näher bezeichneten Kundryfrau sowie später von der Versorgung der Wunde des Amfortas – mir selbst in ihrer furchtbaren Nähe durchaus einleuchten, sind manche „normale“ Nahaufnahmen denn doch des Guten zuviel. Schade, denkt da niemand mit?
„Parsifal“ auf dem Hörplatz
Um Kundry Elīna Garanča in einer Vorstellung hören zu können, habe ich mich um einen Hörplatz bemüht. Plätze ohne Sicht oben in der Galerie werden nur am Aufführungstag direkt im Kartenbüro verkauft; in der kleinen Schlange morgens kurz vor der Öffnung um 10 Uhr standen vor allem Hörplatz-Aspiranten. Ein Platz ohne Sicht kostet im nächsten Jahr für die „Tristan“-Premiere 15 €, die weiteren Aufführungen der Neuinszenierung 13 € sowie für alle anderen Produktionen 11 €. Hörplätze bzw. Plätze mit eingeschränkter Sicht hatte ich zuletzt mehrfach für „Meistersinger“-Vorstellungen in der genialen Inszenierung von Barrie Kosky genutzt sowie für die letzte „Ring“-Aufführung unter Kirill Petrenko 2015. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, gab es auf den reinen Hörplätzen direkt hinter den Säulen bei den „Meistersingern“ zumindest zu Beginn einen leicht dämpfenden Effekt, in den man sich erst einhören musste. Bei „Parsifal“ nichts dergleichen. Die Musik strömte wunderbar hinauf in jeden Winkel der Galerie – vermutlich auch das eine Folge der Tatsache, dass Wagner ab dem 3. Akt „Siegfried“ gezielt für den Bayreuther Orchestergraben komponierte. Ich erlebte auch hier eine musikalisch kostbare, sehr beglückende Vorstellung, ohne die Solisten und Choristen in Aktion zu sehen. Womit ich einer rein konzertanten Aufführung durchaus nicht das Wort reden möchte: Wagnersänger, die in ihrer Rolle darstellerisch aufgehen, singen einfach besser, wissen viel eher, warum und wie sie etwas singen sollen. Garanča (seit Waltraud Meier die beste Kundry am Hügel), Andreas Schager (der eben nicht nur heldisch laut kann) und Georg Zeppenfeld (dem Kritiker Jan Brachmann zu Recht den „Goldenen Gurnemanz“ zusprach) und den weiteren Solisten war den ganzen, für mich bilderlosen Abend über anzuhören, wie tief sie ihre Partien auch aus ihrem Spiel heraus formten. Hier noch ein kleiner Exkurs zu Schager und seinem diesjährigen Festspielprogramm: 19. Juli Generalprobe „Siegfried“, 20. Juli GP „Parsifal“, 22. Juli GP „Götterdämmerung“, 25. Juli „Parsifal I“, 29. Juli „Siegfried I“, 20. Juli „Parsifal II“, 31. Juli „Götterdämmerung I“, 8. August „Siegfried II“, 10. August „Götterdämmerung II“, 12. August „Parsifal III“, 15. August „Parsifal IV“, 19. August „Parsifal V“, 23. August „Parsifal VI“, 24. August „Siegfried III“, 26. August „Götterdämmerung III“, 27. August „Parsifal VII“. Wer jetzt denkt, das kann auf Dauer nicht gut gehen, sollte sich Folge 41 von Axel Brüggemanns „Alles klar, Klassik?“ anhören. Lohnt sich auch bei den Stimmenfachleuten, mit Schager geht es nach rund 25 Minuten richtig los.
„Parsifal“ in der 1. Parkettreihe
In meiner langen Festspiellaufbahn – mein erster Generalprobenbesuch als Bayreuther Gymnasiastin liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück – habe ich erst zweimal in der ersten Parkettreihe gesessen: 1980, bei den Dernieren des legendären Jahrhundert-„Rings“ unter Patrice Chéreau und Pierre Boulez – und heuer bei der letzten „Parsifal“-Aufführung des Festspielsommers 2023. Es war erneut ein unvergessliches Erlebnis. Mehr noch als vor 43 Jahren hat mich nicht nur die Energie und die sängerdarstellerische Intensität der Protagonisten in Bann geschlagen, sondern vor allem die Qualität der musikalischen Interpretation und des Klangs, von dem man förmlich eingehüllt wird, was man sicher auch noch ein paar Reihen weiter hinten erfährt. Die Körperlichkeit der Musik, die eine Etage tiefer gespielt wird, teilt sich direkt sogar über die Füße mit. Pablo Heras-Casado war für mich die Entdeckung dieses Festspielsommers. Was für ein großartiges Hügel-Debüt! Es wird ja gern über das Mysterium in der „Parsifal“-Musik geschwurbelt, aber auch Opernfreunde, die mit der Kunst-Religion nichts am Hut haben, dürften bei diesem Dirigenten ein faszinierendes Bühnenweihfestspiel für sich entdecken, das selbst in den hier sehr differenziert einstudierten Chören unter Eberhard Friedrich ohne Pathos auskommt und von Beginn an die Brüchigkeit der vermeintlich festgefügten Gralswelt ebenso spüren lässt wie das verzweifelte Sehnen aller Protagonisten und das gerade im Leisen sich ausbreitende Licht. Es ist durchaus eine geistliche Musik, aber sie ist, wie der aus Spanien stammende Dirigent selbst sagt, offen für alle. Und seine Tempi sind einfach wunderbar. Wo er es für richtig hält, kann er die Musik fast zum Stillstand bringen, ohne deshalb wie andere ins Unerträgliche abzurutschen, dirigiert aber insgesamt sehr zügig, was, weil er stets mit den Sängern atmet, keinerlei Probleme mit sich bringt. Er gehört wie Pierre Boulez mit zu den schnellsten „Parsifal“-Dirigenten in Bayreuth. Zwei Infos noch, die vielsagend sind: Im Interview mit BR Klassik vor der Festspielpremiere verwies Heras-Casado mehrfach darauf, dass er vom Gesang her kommt, selbst gesungen hat, bevor er anfing, Chöre und Orchester zu leiten. „Für mich, der ich von der Stimme, von der Arbeit mit Sängerinnen und Sängern komme, geht es um die Rhetorik der Musik – die rhetorische Kraft der Musik.“ Und noch eine Aussage von ihm aus der Festspielpressekonferenz: „Hier ist wirklich alles anders. Das Haus selbst ist ein Instrument – und das birgt mehr Eigenschaften und Aspekte als jedes andere Theater.“ Stimmt. Genau so habe ich das gehört. Der Premieren-„Parsifal“ kann auf BR Klassik Concert in Deutschland noch bis Jahresende kostenlos gestreamt werden. Dass es sich lohnt, kann man der wunderbar mäandernden Kritik von Albrecht Selge im VAN-Magazin entnehmen.
Der „Ring“ im zweiten Jahr
Schon im ersten Aufführungsjahr gehörte ich – bis auf den aus dem Ruder gelaufenen Schluss – zu den noch wenigen Kritikern (hier nachzulesen unter „Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“), die dem sogenannten Netflix-„Ring“ viel abgewinnen konnten. Das Schlagwort sollte man allerdings gleich wieder vergessen. War zwar schön griffig, traf und trifft aber die Sache bis auf den Serien-Charakter nicht so richtig. Es ist ein Generationen-„Ring“, einer, bei dem sich inzwischen zwangsläufig der Gedanke an die „Letzte Generation“ aufdrängt, obwohl es die, als Valentin Schwarz seinen „Ring“ konzipierte, noch gar nicht gab. Nein, es geht nicht um Klimaaktivisten, sondern um die in der Tetralogie reichlich vorhandenen, bisher szenisch so umfassend vielleicht noch nicht sichtbar gewordenen, in vielerlei Hinsicht missbrauchten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die keine Zukunft mehr haben – ob sie nun Freia, Siegmund und Sieglinde, Brünnhilde, Siegfried oder Hagen heißen. Den Ring, das Gold, das „Welterbe“ als ein gekidnapptes Kind zu zeigen und diesen Grundgedanken weiter durchzuspielen, richtet das Augenmerk auf bisher unentdeckte Gegebenheiten und Konstellationen. Vielleicht mit Ausnahme des zu drei Vierteln gelungenen „weiblichen Rings“ in Chemnitz hat mich keine „Ring“-Inszenierung der letzten Jahrzehnte so sehr beschäftigt wie die jetzige Interpretation bei den Festspielen, weil das veränderte Beziehungsgeflecht unerwartete und neue Facetten der Figuren mit sich bringt. Selten so viel gelernt! Natürlich ist das kein Ansatz, bei dem man sich einen Wotan noch in irgendeiner Weise schönschnitzen kann. Der Rangoberste in Wagners Tetralogie – und das gefällt weder manch altem (oder jüngeren) Mann noch manch alter (oder jüngeren) Frau – ist nun mal kein Gott, sondern ein schrecklich scheiternder Machtmensch, der tatsächlich über die Leichen der eigenen Kinder geht. Ich stelle das nur fest, weil schon die schonungslose Bloßstellung Wotans zu einem gewissen Teil die Ablehnung erklärt, die vor fast fünfzig Jahren Patrice Chéreau entgegenschrillte und die jetzt die sehr weit gehende, mutige Interpretation von Valentin Schwarz für etwas abbekommen hat, das Richard Wagner im Stück unmissverständlich angelegt hat.
Dass der Regisseur die Werkstatt-Möglichkeit der Festspiele nutzen würde, war klar. Selbstverständlich ist die Beleuchtung jetzt ausgefeilter, und die Bühnentechnik schnurrt stupend fast lautlos, in allen vier Teilen. Im Vergleich zum Vorjahr hat Schwarz an jenen zentralen Stellen nachgeschärft, die von der Geste, der Körpersprache her vielleicht noch nicht deutlich genug waren. Den Clou zum Schluss der „Walküre“ zum Beispiel, dass Wotan seinen Ehering abstreift, konnten diesmal vermutlich alle sehen, die hinschauten. Auch die diversen Traumszenarien und der Einsatz der etwas anderen Requisiten sind prägnanter. Speer und Schwert im herkömmlichen Sinn gibt es nach wie vor nicht, aber die Leuchtpyramide (mitsamt Pistole), der funkelnde Schlagring und die Masken wandern jetzt sichtlicher durch die Abende. Ich kann verstehen, dass die ursprüngliche Entscheidung, die gängigen Requisiten einfach komplett wegzulassen, nicht ganz über den Haufen geworfen werden sollte, aber warum sollen Speere und Schwerter nur in todschicken Wohnlandschaften und nicht auch in prolligen Bruchbuden zu finden sein? Apropos: Der ästhetische Bruch im 2. Akt „Götterdämmerung“ hat sich im Zuge der Nachbesserungen auch erledigt, und der im Vorjahr noch von kleinteiligen, nur verwirrenden Aktionen geprägte Schlussakt ist jetzt viel klarer. Vor allem aber haben sich die solistischen Umbesetzungen positiv ausgewirkt. Darstellerisch war Iréne Theorin eine durchaus interessante Brünnhilde, was aber ihre großen sängerischen Defizite leider nicht unhörbar machte. Catherine Foster hingegen hat eine überaus intakte, fast noch jugendlich wirkende Stimme mit viel Potenzial für die großen Töne. Wie selbstverständlich meistert sie den desillusionierenden, jetzt aber in sich logischen Schluss im ausgetrockneten Wasserbecken mit dem toten Siegfried, Granes Kopf und dem schließlich erhängten Göttervater. Wie sowas geht? Mit hochprofessioneller Hingabe und Freude am Spiel. Auch unter den anderen Solisten – unbedingt ein Gewinn ist Mika Kares als Hagen – macht im „Ring“ niemand mehr Dienst nach Vorschrift, im Gegenteil. Alle sind erfüllt von ihrer sängerschauspielerischen Aufgabe, besonders natürlich Tomasz Konieczny, nach dem zwölf Jahre älteren Michael Volle derzeit für mich der überzeugendste Wotan/Wanderer. Konieczny ist erst 51 Jahre alt, das heißt, man tut gut daran, sich an seinen speziellen Stimmcharakter zu gewöhnen und die mangelhafte Wortverständlichkeit angesichts seiner darstellerischen Verve zu vernachlässigen. Er wird uns noch lange Freude machen! Alle anderen im nächsten und letzten Aufführungsjahr sicher auch. Überhaupt war das sängerische Niveau insgesamt so gut wie schon lange nicht mehr.
Genug. Wer noch mehr lesen will, dem empfehle ich gerne die kritischen Festspiel-Eindrücke nach dem ersten Aufführungszyklus von Albrecht Selge im VAN-Magazin sowie die vier Rezensionen von Frank Piontek zum zweiten „Ring“-Zyklus aus dem Bayreuther Kulturbrief – „Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Und weil nicht wenige Journalisten, die im ersten Zyklus waren, in ihrer Bilanz zum Festspielende geschrieben haben, dass der „Ring“ erneut durchgefallen sei, darf ich hier mit Nachdruck versichern: Am Ende der dritten „Ring“-Aufführung 2023 trübte erst mal kein einziges Buh die gegebene Stille, sprich: die Ergriffenheit des Publikums. Erst später, im aufkommenden Jubel, waren es nach der „Götterdämmerung“ maximal fünf, sechs Buhrufer, die ihr Missfallen kundgaben. Der Rest zeigte sich beeindruckt von dieser außergewöhnlichen „Ring“-Erfahrung und feierte zu Recht den subtilen Dirigenten Pietari Inkinen, dem Corona bei dieser Produktion leider besonders übel mitgespielt und ihm nur einen kompletten Sommer gegönnt hat.
„Tannhäuser“ als Abschluss
Nur noch ein ganz kurzes Loblied auf den Gott sei Dank noch lange nicht eingemotteten „Tannhäuser“, der vor allem dank der Maestra im Orchestergraben neue Qualitäten hinzugewonnen hat. Nathalie Stutzmann ist für mich in diesem Festspielsommer die zweite große Entdeckung. Noch intensiver als ihr Kollege Heras-Casado kommt sie vom Gesang her – und das hört man der Aufführung an. Gleich zwei neue Festspiel-Dirigenten, die auf Anhieb nicht nur gut, sondern hervorragend mit den schwierigen akustischen Verhältnissen klar kommen. Was will man mehr?
Noch ein verspäteter Nachtrag: Bei der letzten „Tannhäuser“-Aufführung zum Festspielende fühlte sich nach dem 2. Akt ein einzelner Besucher bemüßigt, laut zu buhen. Die Antwort darauf war beeindruckend einstimmig. Das scheint’s komplette übrige Publikum brach in Bravorufe, noch mehr Beifall und begeistertes Getrampel aus, kurz: das Haus tobte in positivem Sinne. Warum Buhrufe nach den Premieren in der Regel weniger werden, hat natürlich auch damit zu tun, dass dann die eigentlichen Adressaten – Regisseure und Regisseurinnen – fehlen. Aber womöglich fehlt manchem Blöker auch die Motivation, weil spätere Aufführungen nicht aufgezeichnet werden und nicht nachhörbar dokumentiert sind. Gibt es Buhruf-Sammler?
Ausblick
Fast hätte ich die Festspielpressekonferenz vergessen! Die Zoom-Veranstaltung vor der Festspieleröffnung hatte doch einiges zu bieten, gerade in Hinblick auf 2026. Die Fakten zu 2024 und 25 kann man kurz hier nachlesen. Für das 150. Festspieljubiläum kündigte Katharina Wagner alle zehn Werke des Bayreuth-Repertoires sowie erstmals „Rienzi“ im Festspielhaus an. Natürlich ist das Frühwerk eine kleine Sensation (bekanntlich hielt Wagner selbst seine „Feen“, das „Liebesverbot“ und „Rienzi“ nicht für festspieltauglich, weil noch nicht wagnerisch genug), mich aber elektrisierte dann noch mehr der nächste „Ring“. Als im Laufe der Pressekonferenz nach möglichen Gastorchestern gefragt wurde und die Festspielleiterin antwortete, „Wir sind offen in der Richtung, auch für historische Aufführungspraxis“, klingelte es bei mir: Könnte es nicht sein, dass 150 Jahre nach der Festspieleröffnung erstmals wieder versucht wird, mit einem Instrumentarium zu spielen, wie es zu Wagners Lebzeiten üblich war? Und wäre das nicht wunderbar für die Sängerinnen und Sänger, die bei einem wie damals auf 435 Hertz festgelegten Kammerton von vornherein bessere Karten hätten für mehr stimmlichen Ausdruck und interpretatorische Differenzierungen? Back to the Roots? Natürlich ist da auch Wunschdenken dabei, aber immerhin hat Manuel Brug, der, was Bayreuth betrifft, zu den besonders gut informierten Journalisten gehört, am 28. Juli online in der „Welt“ von einem historisch aufgeladenen neuen „Ring“ geschrieben. Und weil ich gerne um die Ecke denke, hört meine wilde Spekulation noch nicht ganz auf: Wie soll eine nur gering verlängerbare Festspielzeit mit elf verschiedenen Produktionen schon rein probentechnisch machbar sein, wenn dabei sowohl der vierteilige „Ring“ und der in jeder Hinsicht anspruchsvolle „Rienzi“ neu sein sollten? Ich tippe mal, dass der historisch-informierte Jubiläums-„Ring“ konzertant gegeben werden könnte, in höchstens zwei Zyklen. Dann blieben den anderen Werken – „Rienzi“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“, „Parsifal“, „Der fliegende Holländer“, „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ – von der Zahl der Aufführungen her dennoch genügend Entfaltungsmöglichkeiten. Und die Solisten könnten das auch besser schaffen. Das wäre ein Jubiläumsprogramm mit dem erwartbaren Nebeneffekt, dass Bayreuth spätestens dann vermutlich wieder restlos ausverkauft sein dürfte. Noch Fragen?
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