Bei den Wagners gehörten gute Vorsätze ebenso zu Silvester wie das Bleigießen. Über den Jahreswechsel 1875/76 schreibt Cosima Wagner unter anderem in ihr Tagebuch: „Tiefer Entschluß, gut zu sein und [zu] bleiben, den Erfahrungen zum Trotz! – R. meint, er würde wohl alles geduldig ruhig ertragen, wenn er nur nicht dabei produzieren müßte – Gedanke des Aufgebens der Sache mit Angabe aller Faktoren, welche dahin gewirkt! – Wir sind nicht gerade sehr heiter an diesem letzten Tage; am Abend jedoch, um den angezündeten Baum, wird es lustiger, Blei wird gegossen, Fidi [Siegfried] Helm und Schild, Isolde ein Vogelnest, ein Idyll, Boni [Blandine] einen jungen Mann, Lulu [Daniela] einen Drachen, Eva die Fortuna! Darauf Schuhewerfen. Wir legen uns zu Bett und wollen schlafend in das neue Jahr einkehren; es trifft mich aber wachend an! Den Bösen Ruhe, den Guten Erfüllung wünsche ich von Herzen! Niemandem bewahre ich ein böses Gefühl, gewiß auch denen nicht, welche mir und uns Übles wollen. – – Große Sehnsucht nach Ruhe! Vornahme, meine Pflichten alle zu erfüllen!“
Deutlich positiver geht es 1877/78 zu: „Montag 31ten R. befiehlt das Mittag eine Stunde später, um etwas in Tinte ausarbeiten zu können. – Fröhlicher Sylvester-Abend mit Bleigießen und Erleuchtung des Baumes, ‚Divina Commedia‘ und Klänge aus ‚Parsifal‘. – – Wie innig befriedigt und innerlich beseligt beschließen wir dieses so schwere Jahr! ‚Nun danket alle Gott!‘ O wie dank ich ihm! …“
Und 1880/81: „Wir gehen um 1 Uhr im Hofgarten spazieren und wiederum am Nachmittag, wo aber der Spaziergang ’sich gewaschen hat‘, wie R. sagt, denn es regnet. Beim Kaffee beschäftigen wir uns mit Siegfried’s Entwickelung, und da R. von der Wichtigkeit eines Genossen seiner Studien und Spiele spricht, muß ich sehr lachen, als er ärgerlich ausruft: ‚Die Jungen sind alle so kostbar!‘ – Er meint, daß die Eltern, wie Gießels etc., uns keinen überlassen; hier spricht sich sein instinktiv gefühltes Recht, alles zu fordern, so deutlich aus und so unterschiedlich von allen, daß ich eine Freude der Beobachtung daran habe. – Auch ein Zug unseres Freundes Seidl gibt ihm Gelegenheit, seine ganze Natur zu zeigen: Dieser sagte uns vorgestern, er wolle nicht in die ‚Sonne‘ mehr gehen, wo Versammlung sei, wir hören, daß er dennoch hinging und bis 2 Uhr nachts blieb - R. ist entrüstet darüber, ich meine, daß er in seiner Stube, einsam und melancholisch, plötzlich wohl den Entschluß gefaßt habe; R. bestreitet das und ist empört über die Lüge, auch über die ‚dumme Bier-Sinnlichkeit, an welcher die Deutschen zu Grunde gingen‘. – ‚Man kann lügen‘, meint er, ‚aus Scham, wenn man in falsche Situationen kommt, aber dieses Heucheln ist elend‘, – und sein Gesicht ist streng, und seine Stimme tönt, und sein Blick blitzt! Auch sagt er: ‚Nur nichts sich verschönern wollen, ich sehe die Menschen wie sie sind, und dann gut, dann nehme ich sie hin.‘ – – – Abends Wiederanzündung des Baumes und Blei-Gießen. – Vorher aber spielt R. den 1ten Satz der Es dur Symphonie uns vor und spricht seinen Gedanken darüber aus (die dionysische Feier), wie er es schon öfters getan, aber so beredt heute abend und eingenommen von dem Bilde und erregt von dem Gegenstand, daß wiederum, in andrer Weise aber wie zu Mittag, sein Antlitz strahlt – jetzt in bleicher Entrücktheit, so daß er gar nicht bemerkt, daß ihm Fidi sein Blei in die Hand gegeben. – Wir erwarten die Mitternacht nicht. –“
Bleigießen mit Blei ist übrigens seit 2018 verboten.
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