Heute bleibt die „Erhebung über das Dasein“ leider aus. Es dominieren Cosimas Sorgen über ihre Kinderschar: Daniela (*12.10.1860), Blandine (*20.3.1863), Isolde (*10.4.1865), Eva (*17.2.1867) und Siegfried (*6.6.1869).
Sonntag 3ten [Dezember 1871] Die Kinder werden sehr ernstlich vorgenommen, mit ihnen geweint, gebetet, sie so weit gebracht, daß sie mich um Strafe bitten. (Nebenbei sehr Unangenehmes von Herrn Spiegel[1] erfahren). Wie ich mit ihnen spreche, kommt ein Brief von Hans[2]; er bittet mich, die Kinder die größte Zurückhaltung gegen Großmutter und Tante beobachten zu lassen, die Familie quäle ihn (mir die Kinder zu entziehen), er mache taubes Ohr. Dann, daß der Vater[3] meinen Entschluß, mit den Kindern zum Protestantismus überzugehen,[4] billige. Wichtige Dinge! Daß die Familie, ärgerlich darüber, daß man mir Achtung entgegen getragen, mir den Schimpf gern antun möchte und dabei das Interesse der Kinder vorgibt, dasselbe gänzlich außer acht läßt, wundert mich nicht; ich bin aber betrübt darüber und begehe das große Unrecht, es R. erkennen zu lassen! Wie schwach sind wir Armen. – In Mainz entsteht ein Wagner-Verein, unter der Egide des Weinhändlers[5] R.’s! In der Musikalischen Zeitung steht aus München, daß das Orchester immer gut die W.’schen Sachen [spielt], dagegen immer schlecht die klassischen, es sei dies nicht recht; die guten Leutchen vergessen nur das eine, daß R. und Bülow diese ersteren gut gehenden einstudiert, dagegen die jetzigen Herren die klassischen! – Meine Stimmung hat sich auf R. übertragen, er ist traurig. Nach und nach aber erheitern wir uns wieder, und ich hoffe zu Gott!
[1] Wilhelm Spiegel (1824/25–1891), Musiklehrer in Zürich, von 24. November bis 3. Dezember als Kopist engagiert für die Abschrift der Orchesterskizze des 2. Akts „Götterdämmerung“, die König Ludwig II. erhalten sollte. Was das Unangenehme war, das Cosima von ihm erfahren hat, erschließt sich nicht, könnte aber mit den unartigen Kindern zu tun haben. Allerdings schrieb die Hausherrin schon bei Spiegels Ankunft: „Keine angenehme Bereicherung unseres Hauswesens“.
[2] Hans von Bülow (1930–1894), Uraufführungsdirigent von „Tristan“ und den „Meistersingern, war der erste reine Pultstar und Cosimas erster Ehemann, leiblicher Vater der Töchter Daniela sowie Blandine und nach damaliger Rechtsprechung, die sich irgendwie erstaunlicherweise bis heute durchzieht, auch Vater der Wagnertöchter Isolde und Eva.
[3] Franz Liszt (1811–1886), Klaviervirtuose, Komponist und Vater von Cosima, hatte 1865 die niederen Weihen erhalten und war als Abbé Liszt zwar katholischer Kleriker, aber kein Priester.
[4] Dass die gläubige Katholikin Cosima mit ihren Kindern die Religion wechseln wollte, war klar, nachdem am 25. August 1870 in der reformierten Matthäuskirche von Luzern ihre zweite Ehe mit Richard Wagner geschlossen wurde und unter Pfarrer Tschudi am 4. September auch die nachträgliche Taufe des einzigen Sohns Siegfried in Tribschen erfolgt war. Cosimas Konversion fand erst am 31. Oktober 1872 in Bayreuth statt. Bei der kleinen Zeremonie in der Stadtkirche mit dem protestantischen Dekan Dr. Wilhelm Dittmar waren Bürgermeister Theodor Muncker und Bankier Friedrich Feustel als Zeugen zugegen, sowie Wagner, mit dem Neuprotestantin Cosima gemeinsam das heilige Abendmahl nahm.
[5] Dieser Weinhändler ist Carl Voltz (1839–1897), der die Leitung des Mainzer Wagnervereins dann doch lieber dem Musikverleger Franz Schott überließ. Zusammen mit dem Schriftsteller Carl Wilhelm Batz (1853–1894) sollte Voltz als Wagners Theateragent in den kommenden zwölf Jahren und noch über Wagners Tod hinaus ein wichtiges Ärgernis darstellen. Siehe Fußnote 1 hier
Quellen: Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band I, S. 1562. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 34723 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 465); Richard Wagner: Sämtliche Briefe, Band 23 (hg. v. Andreas Mielke); Dagny R. Beidler: Für Richard Wagner! Die „Rosenstöcke-Bilder“ seiner Tochter Isolde.
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