Tagebuch-Adventskalender (10)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

„Hier ruht Wahn­frieds treu­er Wäch­ter und Freund, der gute schö­ne Mar­ke“: Hun­de­grab von Mar­ke im Wahn­fried-Gar­ten, auf­ge­nom­men An­fang De­zem­ber 2020 – Foto: Karl­heinz Beer

Frei­tag 10ten [De­zem­ber 1880] Wind­sturm und grau­er Him­mel. Dazu als Lek­tü­re für R. die Of­fen­ba­rungs-Phi­lo­so­phie von Schel­ling[1]! Aber um die Mit­tags-Zeit kommt R. mit den Fl. Blät­tern[2] und zeigt uns das Schluß-Blatt, die Auf­füh­rung ei­ner Oper in der Ge­gen­wart des „Meis­ters“[3]. – – Wir ge­hen trotz des Wet­ters spa­zie­ren, an­fangs fin­det sich R. in das Wind­wü­ten und in die Licht­lo­sig­keit, aber all­mäh­lich ge­rät er au­ßer sich. Wir spra­chen von Hans’[4] Schwei­gen, und, in Wahn­fried ein­ge­kehrt, um Mar­ke[5] ab­zu­ge­ben, wird mir durch den Knecht ein Brief von ihm über­ge­ben, wir wan­dern noch zu Freund Jou­kow­sky[6], der sich sehr hübsch im Reichs­ad­ler[7] hei­misch macht. (R. ent­wirft ein Ate­lier für J.) Ich lese den Brief und zei­ge ihn R., erns­te Stim­mung! Zu Hau­se kommt R. auf die Fra­ge der Ad­op­ti­on der sämt­li­chen Kin­der durch ihn. Erns­te Stim­mung, Sor­ge vor Ge­sichts­ro­se; um ein we­nig Hei­ter­keit ihm zu ver­ur­sa­chen, zie­he ich Sche­he­ra­za­de[8] an, was ihn auch gut stimmt. Cer­van­tes[9] tut das üb­ri­ge, ich lese in der No­vel­le vor, und freund­lich neh­men wir von dem kar­gen Tag Ab­schied, wo die See­len­kräf­te förm­lich ei­nen Zwei­kampf mit den Au­ßen-Mäch­ten zu be­stehen ha­ben. Wenn sie sieg­reich dar­aus her­vor­ge­hen wie bei uns, dann ge­reicht es wohl zum Se­gen. – R. er­zählt uns von Ir­land, wo wie­der ein Po­li­zei-Die­ner er­mor­det wor­den ist, und daß viel­leicht Eng­land ein Krieg dro­he, da die Ir­län­der von Ame­ri­ka ihre Lands­leu­te un­ter­stütz­ten. – (Von dem Ju­den sag­te R., er kön­ne nur ver­lan­gend, be­geh­rend, über­lis­tend sein, wenn er das nicht sei, dann müs­se er sehr mit­leid­erre­gend und rüh­rend er­schei­nen. – – )[10]

„Auf­füh­rung ei­ner Oper in Ge­gen­wart des Meis­ters“: Ka­ri­ka­tur von Adolf Ober­län­der aus den „Flie­gen­den Blät­tern“ 1880 Vor­la­ge: Ernst Kreow­ski, Edu­ard Fuchs „Ri­chard Wag­ner in der Ka­ri­ka­tur“, B. Behr’s Ver­lag Ber­lin 1907

Fuß­no­ten
[1] Schel­ling, Fried­rich Wil­helm Jo­seph (1775–1854), Phi­lo­soph, An­thro­po­lo­ge, ei­ner der Haupt­ver­tre­ter des Deut­schen Idea­lis­mus, der spe­ku­la­ti­ven Na­tur- und der Offenbarungsphilosophie.
[2] hu­mo­ris­ti­sche, reich il­lus­trier­te deut­sche Wo­chen­schrift, die von 1845 bis 1928 beim Ver­lag Braun & Schnei­der aus Mün­chen erschienen.
[3] be­kann­te Ka­ri­ka­tur von Adolf Ober­län­der in den Flie­gen­den Blät­tern.
[4] Bülow, Gui­do Hans von (1830–1894), Liszt-Schü­ler, Wag­ner-Di­ri­gent und ers­ter Ehe­mann von Co­si­ma, Va­ter von Da­nie­la und Blandine.
[5] Neu­fund­län­der, kam mit dem Na­men Mar­co zu­sam­men mit Blan­ca nach Wahn­fried, bei­de wur­den dort um­ge­tauft in Mar­ke und Bran­ge. Wie sehr RW sich sei­nen Hun­den (und an­de­ren Tie­ren) ver­bun­den fühl­te, zeigt ein Ta­ge­buch­ein­trag vom 14. Sep­tem­ber 1882, dem Tag vor der, wie sich her­aus­stel­len soll­te, letz­ten Ab­rei­se nach Ve­ne­dig: „R. hat un­ru­hig ge­schla­fen. Und er geht nun an das Räu­men, wel­ches für uns seit ei­ni­gen Ta­gen be­gon­nen hat. Man­cher­lei Ge­schäf­te sind ab­zu­schlie­ßen. Am al­ler­schwers­ten fällt R. der Ab­schied von den Hun­den, von Mar­ke ins­be­sond­re, den er nicht mehr zu se­hen glaubt!“ Lei­der soll­te er da­mit recht ha­ben. Mar­ke ist weit­hin be­kannt wie sein Kol­le­ge Russ, weil er eben­falls ein klei­nes Grab bei den bei­den Wag­ners im Wahn­fried-Gar­ten hat.
[6] Jou­kow­sky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[7] Das Ho­tel Reichs­ad­ler am Markt­platz (spä­ter Reichs­hof) geht zu­rück auf den Gast­hof, der ver­mut­lich seit dem 14. Jahr­hun­dert in dem Vor­der­haus un­ter­ge­bracht war, durch das heu­te der Zu­gang zum Kino führt. Die­ser Gast­hof hieß erst „Gol­de­ner Ad­ler“, dann Ho­tel Reichs­ad­ler – wohl we­gen des Wap­pen­steins an der Fas­sa­de, der ei­nen dop­pel­köp­fi­gen Ad­ler zeigt. Das frü­he­re Kino liegt im Hin­ter­hof des Hau­ses und da­mit im Reichs­hof. Ge­baut wur­de das Kino im Jahr 1926, im Krieg zer­stört und 1947 wie­der auf­ge­baut. 1999 lief mit „Ja­mes Bond – Die Welt ist nicht ge­nug“ der letz­te Film im Reichs­hof, der dank des Fest­spiel-Rah­men­pro­gramms Dis­kurs Bay­reuth zu neu­em Le­ben er­weckt wur­de. 2018 wur­de dort die Oper der ver­schwun­de­ne hoch­zei­ter von Klaus Lang ur­auf­ge­führt – was ge­wis­ser­ma­ßen die ers­te Fest­spiel-Ur­auf­füh­rung seit 146 Jah­ren war; wei­te­re au­ßer­ge­wöhn­li­che Pro­jek­te folg­ten. In­zwi­schen gibt es eine In­itia­ti­ve, die das ehe­ma­li­ge Kino/​Hotel/​Gasthaus als kul­tu­rel­len Ver­an­stal­tungs­ort in die Zu­kunft ret­ten will.
[8] So heißt ein ver­mut­lich ver­füh­re­ri­sches, ori­en­ta­lisch an­mu­ten­des Ge­wand, das RW für Co­si­ma hat maß­schnei­dern las­sen und das am 11. Fe­bru­ar 1879 ge­lie­fert und auch gleich an­pro­biert wurde.
[9] Cer­van­tes, Mi­guel de (1547–1616), spa­ni­scher Schrift­stel­ler. Der auch von RW hoch­ge­schätz­te Au­tor des Don Qui­jo­te u.v.a. gilt als Spa­ni­ens Nationaldichter.
[10] Der schreck­li­che An­ti­se­mi­tis­mus von RW und Co­si­ma wird uns auch im Ad­vent nicht er­spart bleiben.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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