Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Freitag 10ten [Dezember 1880] Windsturm und grauer Himmel. Dazu als Lektüre für R. die Offenbarungs-Philosophie von Schelling[1]! Aber um die Mittags-Zeit kommt R. mit den Fl. Blättern[2] und zeigt uns das Schluß-Blatt, die Aufführung einer Oper in der Gegenwart des „Meisters“[3]. – – Wir gehen trotz des Wetters spazieren, anfangs findet sich R. in das Windwüten und in die Lichtlosigkeit, aber allmählich gerät er außer sich. Wir sprachen von Hans’[4] Schweigen, und, in Wahnfried eingekehrt, um Marke[5] abzugeben, wird mir durch den Knecht ein Brief von ihm übergeben, wir wandern noch zu Freund Joukowsky[6], der sich sehr hübsch im Reichsadler[7] heimisch macht. (R. entwirft ein Atelier für J.) Ich lese den Brief und zeige ihn R., ernste Stimmung! Zu Hause kommt R. auf die Frage der Adoption der sämtlichen Kinder durch ihn. Ernste Stimmung, Sorge vor Gesichtsrose; um ein wenig Heiterkeit ihm zu verursachen, ziehe ich Scheherazade[8] an, was ihn auch gut stimmt. Cervantes[9] tut das übrige, ich lese in der Novelle vor, und freundlich nehmen wir von dem kargen Tag Abschied, wo die Seelenkräfte förmlich einen Zweikampf mit den Außen-Mächten zu bestehen haben. Wenn sie siegreich daraus hervorgehen wie bei uns, dann gereicht es wohl zum Segen. – R. erzählt uns von Irland, wo wieder ein Polizei-Diener ermordet worden ist, und daß vielleicht England ein Krieg drohe, da die Irländer von Amerika ihre Landsleute unterstützten. – (Von dem Juden sagte R., er könne nur verlangend, begehrend, überlistend sein, wenn er das nicht sei, dann müsse er sehr mitleiderregend und rührend erscheinen. – – )[10]
Fußnoten
[1] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854), Philosoph, Anthropologe, einer der Hauptvertreter des Deutschen Idealismus, der spekulativen Natur- und der Offenbarungsphilosophie.
[2] humoristische, reich illustrierte deutsche Wochenschrift, die von 1845 bis 1928 beim Verlag Braun & Schneider aus München erschienen.
[3] bekannte Karikatur von Adolf Oberländer in den Fliegenden Blättern.
[4] Bülow, Guido Hans von (1830–1894), Liszt-Schüler, Wagner-Dirigent und erster Ehemann von Cosima, Vater von Daniela und Blandine.
[5] Neufundländer, kam mit dem Namen Marco zusammen mit Blanca nach Wahnfried, beide wurden dort umgetauft in Marke und Brange. Wie sehr RW sich seinen Hunden (und anderen Tieren) verbunden fühlte, zeigt ein Tagebucheintrag vom 14. September 1882, dem Tag vor der, wie sich herausstellen sollte, letzten Abreise nach Venedig: „R. hat unruhig geschlafen. Und er geht nun an das Räumen, welches für uns seit einigen Tagen begonnen hat. Mancherlei Geschäfte sind abzuschließen. Am allerschwersten fällt R. der Abschied von den Hunden, von Marke insbesondre, den er nicht mehr zu sehen glaubt!“ Leider sollte er damit recht haben. Marke ist weithin bekannt wie sein Kollege Russ, weil er ebenfalls ein kleines Grab bei den beiden Wagners im Wahnfried-Garten hat.
[6] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[7] Das Hotel Reichsadler am Marktplatz (später Reichshof) geht zurück auf den Gasthof, der vermutlich seit dem 14. Jahrhundert in dem Vorderhaus untergebracht war, durch das heute der Zugang zum Kino führt. Dieser Gasthof hieß erst „Goldener Adler“, dann Hotel Reichsadler – wohl wegen des Wappensteins an der Fassade, der einen doppelköpfigen Adler zeigt. Das frühere Kino liegt im Hinterhof des Hauses und damit im Reichshof. Gebaut wurde das Kino im Jahr 1926, im Krieg zerstört und 1947 wieder aufgebaut. 1999 lief mit „James Bond – Die Welt ist nicht genug“ der letzte Film im Reichshof, der dank des Festspiel-Rahmenprogramms Diskurs Bayreuth zu neuem Leben erweckt wurde. 2018 wurde dort die Oper der verschwundene hochzeiter von Klaus Lang uraufgeführt – was gewissermaßen die erste Festspiel-Uraufführung seit 146 Jahren war; weitere außergewöhnliche Projekte folgten. Inzwischen gibt es eine Initiative, die das ehemalige Kino/Hotel/Gasthaus als kulturellen Veranstaltungsort in die Zukunft retten will.
[8] So heißt ein vermutlich verführerisches, orientalisch anmutendes Gewand, das RW für Cosima hat maßschneidern lassen und das am 11. Februar 1879 geliefert und auch gleich anprobiert wurde.
[9] Cervantes, Miguel de (1547–1616), spanischer Schriftsteller. Der auch von RW hochgeschätzte Autor des Don Quijote u.v.a. gilt als Spaniens Nationaldichter.
[10] Der schreckliche Antisemitismus von RW und Cosima wird uns auch im Advent nicht erspart bleiben.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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