Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Donnerstag 2ten [Dezember 1880] R. hatte keine gute Nacht. Er träumt von einem Hasen[1], der wie in der Luft läuft und dicht an seine Seite zuschießt, sich darin birgt. R. sucht mich auf, um mir ihn zu zeigen, und ich bin fort! – In der Frühe mußte ich ihn fragen, ob ich Blandine[2] abholen dürfte; da er mir sagt, daß auch nur ein Tag Abwesenheit von mir ihn betrübt, so gebe ich es auf. – Depesche von Hans[3], den ich für Lulu[4] gebeten hatte, daß sie ihn sehen möchte und dabei die 9te anhören. – R. kommt bei Gelegenheit dieser Antwort auf die Adoption der sämtlichen Kinder, die er wünscht, zurück. – Vor diesem Gespräch, noch im Bett, hatte er plötzlich aufgelacht und gesagt: „Weil so einer wie Shakespeare Gestalten sieht, die keiner je gesehen, Polonius, Hamlet, daß andre dann glauben, sie werden dies auch nun können!“ – Er schreibt an den König[5]. Ein dichter Nebel macht einen Spaziergang unmöglich, wir fahren aber, „werfen Karten“ und sind heiter dabei. Nochmals die Frage Neumann– Hülsen[6] erwogen, R. behält große Abneigung gegen das Opernhaus und rät mir ab, einen Brief abzuschicken, den ich bereits an den Direktor geschrieben. Abends beschließen wir die Briefe an Uhlig[7]. Darauf liest mir R. einiges aus seinem Brief vor: seine Antwort[8] an den König, der ihn gefragt hat, welcher Gedanke ihm durch den Sinn gegangen, als er plötzlich in der Loge aufgefahren sei und an die Stirn sich gegriffen. – Es wäre mir schwer, zu sagen, warum eine Wehmut mich am Schluß des Abends umschleierte, die Korrespondenz mit Uhlig, auch die Zeilen an den König, alles das Gute wie das Schlimme, die Täuschung wie die Wahrheit läßt mich das Leben in seiner Melancholie erschauern, und es ist, als ob nichts diese Melancholie, in welcher man es sieht, mildern könnte, selbst die eigene Heiterkeit nicht mehr. – Wir sprechen über Renaissance, R. meint, ich müßte darüber schreiben, was helfe es, meint er, daß ich viel mit den andren spräche, es käme dann doch Unsinn heraus. In tiefster Innigkeit trennen wir uns. – R. nahm einiges aus „Joseph in Ägypten“[9] mit Lusch durch und freut sich sehr über sie, ihren Verstand und ihre Echtheit, nicht minder über Fidi[10], dessen Messe-Sagen immer auf’s neue R. belustigt. – Mein Parsifal-Kleid macht ihm Vergnügen; er meint, ich habe nie so gut ausgesehen; in München, sagt er, hätte ich zu viel gelitten, sei daher schüchtern gewesen.
Fußnoten
[1] Kleiner Seitensprung zum „Erweiterten Hasen-Begriff“ und Christoph Schlingensiefs „Parsifal“-Inszenierung von 2004 bis 2007.
[2] Bülow, Blandine von (1863–1941, ab 1882 verh. Gräfin Gravina), zweite Tochter von Cosima und Hans von Bülow, genannt Boni, Ponsch.
[3] Bülow, Hans Guido Freiherr von (1830–1894), Liszt-Schüler, Wagner-Dirigent und erster Ehemann von Cosima.
[4] Lulu = Bülow, Daniela von (1860–1940, ab 1886 verh. Thode), erste Tochter von Cosima und Hans von Bülow, auch genannt Loulou, Lusch, Senta.
[5] König Ludwig II. von Bayern (1845–1886), lebenslanger zentraler Mäzen RWs.
[6] Es geht um künftige „Ring“-Aufführungen in Berlin, die schließlich Angelo Neumann 1881 im Victoria-Theater realisiert hat und nicht Botho von Hülsen (1815-1886), Intendant des Hoftheaters in Berlin sowie der preuß. Hoftheater in Hannover, Kassel und Wiesbaden und jahrzehntelang ein Gegner RWs.
[7] Uhlig, Theodor (1822–1853), Violinist, Freund RWs in Dresden, schrieb den Klavierauszug „Lohengrin“; RWs Briefe an ihn aus seiner Züricher Zeit waren Ende November 1880 Teil der abendlichen Lektüre, nachdem dessen Tochter Elsa (!) die angeforderten Abschriften gesendet hatte. Die Briefe kamen 1888 in einem Sammelband heraus; die darin vorgenommenen Retuschen und Streichungen konnten erst durch spätere Veröffentlichungen und die Sammlung Burrell 1953 aufgehoben werden.
[8] RW schildert, er habe bei der Separatvorstellung des „Lohengrin“ am 10. November 1880 in der Loge Ludwigs in München einen Monolog über das Element der Musik geführt und den Vorsatz gefaßt, alle seine Werke in Bayreuth „vollendet in das Leben zu rufen“, „Parsifal soll dazu die Wege bahnen, und – dein holder König – Er wird dir unfehlbar helfen!“
[9] Oper von Étienne-Nicolas Méhul, UA 1807.
[10] Fidi = Siegfried Wagner (1869–1930), einziger Sohn von Cosima und Richard Wagner, Dichterkomponist und Festspielleiter.
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