Nicht nur wegen Corona steckt Bayreuth in einer Krise. Ungeklärte Personalien, fehlende Finanzen und die Generalsanierung machen der „Mutter aller Festspiele“ zu schaffen.
Erstmals seit Jahrzehnten bleibt am 25. Juli der rote Teppich am Grünen Hügel eingerollt: keine Auffahrt, kein Defilee der Prominenten, keine Premiere. Das Häuflein der dennoch angereisten Hardcore-Wagnerianer tummelt sich stattdessen auf den Wiesen vor der Villa Wahnfried zum Public-Viewing. Für alle anderen wird das Festspieleröffnungs-Ersatz-Konzert heute um 16.05 Uhr von BR Klassik im Radio übertragen.
Es ist ein immerhin Lebenszeichen, ein – wie es Sven Friedrich, Direktor des Wagnermuseums, in einem Live-Video der Wochenzeitung „Die Zeit“ vorgestern Abend formulierte – „Winken mit dem Fähnlein der Verzweiflung.“ Denn natürlich ist der Ausfall der fünften Jahreszeit in Bayreuth kulturell, finanziell und wirtschaftlich eine Katastrophe. „Da fließt schon die eine oder andere Träne die Backe runter“, so Holger von Berg, der kaufmännische Geschäftsführer der Festspiel-GmbH, in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Dass die Mutter aller Sommer-Festivals wegen Corona schon Ende März komplett abgesagt werden musste, hatte konkret auch mit dem Spielplan zu tun. Denn schon im April hätten unter dem jungen Newcomer Valentin Schwarz die Proben zur „Ring“-Neuinszenierung beginnen müssen – für den monumentalen Opernmehrteiler, der einzig in Bayreuth nicht gestückelt, sondern gleich im Viererpack herauskommt.
Auf die erste Absage der Festspiele seit deren Wiedereröffnung 1951 (!) folgte wenig später die nächste Schreckensnachricht: Katharina Wagner erkrankte so schwer, dass in der Opernwelt auch ohne Corona von einer Bayreuth-Krise geraunt wurde. Inzwischen hat sich die 42-Jährige aber so weit erholt, dass sie voraussichtlich im Herbst wieder als Festspielleiterin antreten kann. Ein saures Amt, denn die längst erfolgte Planung der kommenden Spielzeiten ist, wie an anderen Opernhäusern auch, Makulatur.
Heinz-Dieter Sense, der als kommissarischer Geschäftsführer für die Wagner-Enkelin eingesprungen ist, verbreitet derweil Zweckoptimismus: „Das Wichtigste ist, dass Festspiele 2021 stattfinden können“, zitiert die dpa den inzwischen 81-jährigen Hügel-Veteran. Aber es stehen derzeit auch zwei ungelöste Personalien an, weil die Chemie nicht oder nicht mehr gestimmt haben soll. Ob Dirigent Christian Thielemann weiterhin als Musikdirektor fungieren wird, ist, selbst wenn er jetzt demonstrativ Urlaub in Bayreuth macht und das klein besetzte Lebenszeichen-Konzert dirigiert, ebenso offen wie im nächsten Frühjahr der Posten von Holger von Berg, dessen Vertrag die Gesellschafter nicht verlängert haben. Wer auch immer ihm nachfolgen wird, er oder sie wird es schon wegen der aktuellen Einnahmenverluste in Höhe von 15 Millionen Euro schwer haben, die bei der ungewöhnlich hohen Eigenfinanzierungsquote von 65 Prozent kein Pappenstiel sind. Ganz zu schweigen von anderen schwierigen Aufgaben, die sich durch die Pandemie stellen.
Wie lassen sich die Abstandsregeln einhalten – auf der Bühne mit großem Chor, Solisten und Statisten und im rappelvollen Orchestergraben? Im amphitheatralischen Zuschauerraum mit seinen immer breiter werdenden Parkettreihen, den Logen-, Balkon- und Galerieplätzen dürften nach jetzigem Stand, wie Holger von Berg der dpa vorrechnete, nur 329 zahlende Zuschauer kommen. „Ein Großteil unseres Publikums“, so von Berg, „gehört aufgrund des Alters zur Risikogruppe.“ Selbst wenn nur die Hälfte der 1937 verkäuflichen Sitzplätze besetzt wäre, hätten die Festspiele acht Millionen Euro weniger Einnahmen. Die Gesellschafter, d.h. der Bund, der Freistaat Bayern, die Stadt Bayreuth und die „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“, sind gefordert.
Finanzielle Probleme birgt auch die seit einigen Jahren laufende Festspielhaussanierung, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Damit der Wunschtermin 2026 – zum 150. Geburtstag der Festspiele – keiner bleibt, müsste sich dafür schon jemand wie Angela Merkel in die Bresche werfen. Wie Wagnerfreunde aus aller Welt dürfte auch die Bundeskanzlerin sich von der Generalüberholung des Hauses erhoffen, dass in das 1876 eröffnete Sommertheater – natürlich ohne dass die viel gerühmte Akustik darunter leidet – eine Klimaanlage eingebaut wird. Was, wenn man Fachleute fragt, mehr als heikel sein dürfte.
Wenigstens heuer muss niemand schwitzen: Als Ersatz haben die Festspiele trotz Kurzarbeit zusammen mit öffentlich-rechtlichen Sendern und der Deutschen Grammophon ein trimediales Programm aufgelegt, das sich, teils umsonst, teils gegen einen kleinen Obolus, hören und sehen lassen kann. Nicht nur virtuell, sondern auch live findet zudem unter dem Motto „Summertime Bayreuth“ ein Alternativprogramm in der Festspielstadt statt. Unter anderem sind Wagnerwerke in kleinem Rahmen, als Kirchenkonzert und als Open-Air-Event mit bekannten Festspielsolisten wie Annette Dasch, Michael Volle und Günther Groissböck zu erleben. Am exklusivsten dürften die elf Wahnfried-Konzerte sein, denn dort sind jeweils nur 24 Zuschauer zugelassen. Ach, Corona!
Virtuelle Festspiele
Kostenlose Aufzeichnungen von älteren Festspielproduktionen in TV, Radio und übers Internet bieten ab 25. Juli die Sender BR Klassik, ARD-alpha und 3sat. Auf der Streaming-Plattform „DG Stage“ werden ebenfalls ab heute zum Preis von je 4,90 Euro unter anderem alle Werke in aktuellen Inszenierungen gezeigt, die für die Festspielzeit 2020 geplant waren. Eine tagesaktuelle Übersicht zu den öffentlich-rechtlichen Sendungen ist ab sofort auf der Festspiel-Homepage zu finden.
Erstdruck mit anderem Titel im Fränkischen Tag vom 25. Juli 2020
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