Kein Hojotoho, nirgends

Nicht nur we­gen Co­ro­na steckt Bay­reuth in ei­ner Kri­se. Un­ge­klär­te Per­so­na­li­en, feh­len­de Fi­nan­zen und die Ge­ne­ral­sa­nie­rung ma­chen der „Mut­ter al­ler Fest­spie­le“ zu schaffen.

„Der ver­hüll­te Gral“: Farb­stift­zeich­nung von un­se­rem Mit­glied, dem Bam­ber­ger Ma­ler und Büh­nen­bild­ner Karl­heinz Beer aus dem Jahr 1998 Vor­la­ge: © Karl­heinz Beer/​VG Bild-Kunst 2020

Erst­mals seit Jahr­zehn­ten bleibt am 25. Juli der rote Tep­pich am Grü­nen Hü­gel ein­ge­rollt: kei­ne Auf­fahrt, kein De­fi­lee der Pro­mi­nen­ten, kei­ne Pre­mie­re. Das Häuf­lein der den­noch an­ge­reis­ten Hard­core-Wag­ne­ria­ner tum­melt sich statt­des­sen auf den Wie­sen vor der Vil­la Wahn­fried zum Pu­blic-Vie­w­ing. Für alle an­de­ren wird das Fest­spiel­eröff­nungs-Er­satz-Kon­zert heu­te um 16.05 Uhr von BR Klas­sik im Ra­dio übertragen.

Es ist ein im­mer­hin Le­bens­zei­chen, ein – wie es Sven Fried­rich, Di­rek­tor des Wag­ner­mu­se­ums, in ei­nem Live-Vi­deo der Wo­chen­zei­tung „Die Zeit“ vor­ges­tern Abend for­mu­lier­te – „Win­ken mit dem Fähn­lein der Ver­zweif­lung.“ Denn na­tür­lich ist der Aus­fall der fünf­ten Jah­res­zeit in Bay­reuth kul­tu­rell, fi­nan­zi­ell und wirt­schaft­lich eine Ka­ta­stro­phe. „Da fließt schon die eine oder an­de­re Trä­ne die Ba­cke run­ter“, so Hol­ger von Berg, der kauf­män­ni­sche Ge­schäfts­füh­rer der Fest­spiel-GmbH, in ei­nem Ge­spräch mit der Deut­schen Pres­se-Agen­tur (dpa).

Dass die Mut­ter al­ler Som­mer-Fes­ti­vals we­gen Co­ro­na schon Ende März kom­plett ab­ge­sagt wer­den muss­te, hat­te kon­kret auch mit dem Spiel­plan zu tun. Denn schon im April hät­ten un­ter dem jun­gen New­co­mer Va­len­tin Schwarz die Pro­ben zur „Ring“-Neuinszenierung be­gin­nen müs­sen – für den mo­nu­men­ta­len Opern­mehr­tei­ler, der ein­zig in Bay­reuth nicht ge­stü­ckelt, son­dern gleich im Vie­rer­pack herauskommt.

Auf die ers­te Ab­sa­ge der Fest­spie­le seit de­ren Wie­der­eröff­nung 1951 (!) folg­te we­nig spä­ter die nächs­te Schre­ckens­nach­richt: Ka­tha­ri­na Wag­ner er­krank­te so schwer, dass in der Opern­welt auch ohne Co­ro­na von ei­ner Bay­reuth-Kri­se ge­raunt wur­de. In­zwi­schen hat sich die 42-Jäh­ri­ge aber so weit er­holt, dass sie vor­aus­sicht­lich im Herbst wie­der als Fest­spiel­lei­te­rin an­tre­ten kann. Ein sau­res Amt, denn die längst er­folg­te Pla­nung der kom­men­den Spiel­zei­ten ist, wie an an­de­ren Opern­häu­sern auch, Makulatur.

Heinz-Die­ter Sen­se, der als kom­mis­sa­ri­scher Ge­schäfts­füh­rer für die Wag­ner-En­ke­lin ein­ge­sprun­gen ist, ver­brei­tet der­weil Zweck­op­ti­mis­mus: „Das Wich­tigs­te ist, dass Fest­spie­le 2021 statt­fin­den kön­nen“, zi­tiert die dpa den in­zwi­schen 81-jäh­ri­gen Hü­gel-Ve­te­ran. Aber es ste­hen der­zeit auch zwei un­ge­lös­te Per­so­na­li­en an, weil die Che­mie nicht oder nicht mehr ge­stimmt ha­ben soll. Ob Di­ri­gent Chris­ti­an Thie­le­mann wei­ter­hin als Mu­sik­di­rek­tor fun­gie­ren wird, ist, selbst wenn er jetzt de­mons­tra­tiv Ur­laub in Bay­reuth macht und das klein be­setz­te Le­bens­zei­chen-Kon­zert di­ri­giert, eben­so of­fen wie im nächs­ten Früh­jahr der Pos­ten von Hol­ger von Berg, des­sen Ver­trag die Ge­sell­schaf­ter nicht ver­län­gert ha­ben. Wer auch im­mer ihm nach­fol­gen wird, er oder sie wird es schon we­gen der ak­tu­el­len Ein­nah­men­ver­lus­te in Höhe von 15 Mil­lio­nen Euro schwer ha­ben, die bei der un­ge­wöhn­lich ho­hen Ei­gen­fi­nan­zie­rungs­quo­te von 65 Pro­zent kein Pap­pen­stiel sind. Ganz zu schwei­gen von an­de­ren schwie­ri­gen Auf­ga­ben, die sich durch die Pan­de­mie stellen.

Wie las­sen sich die Ab­stands­re­geln ein­hal­ten – auf der Büh­ne mit gro­ßem Chor, So­lis­ten und Sta­tis­ten und im rap­pel­vol­len Or­ches­ter­gra­ben? Im am­phi­thea­tra­li­schen Zu­schau­er­raum mit sei­nen im­mer brei­ter wer­den­den Par­kett­rei­hen, den Lo­gen-, Bal­kon- und Ga­le­rie­plät­zen dürf­ten nach jet­zi­gem Stand, wie Hol­ger von Berg der dpa vor­rech­ne­te, nur 329 zah­len­de Zu­schau­er kom­men. „Ein Groß­teil un­se­res Pu­bli­kums“, so von Berg, „ge­hört auf­grund des Al­ters zur Ri­si­ko­grup­pe.“ Selbst wenn nur die Hälf­te der 1937 ver­käuf­li­chen Sitz­plät­ze be­setzt wäre, hät­ten die Fest­spie­le acht Mil­lio­nen Euro we­ni­ger Ein­nah­men. Die Ge­sell­schaf­ter, d.h. der Bund, der Frei­staat Bay­ern, die Stadt Bay­reuth und die „Ge­sell­schaft der Freun­de von Bay­reuth“, sind gefordert.

Fi­nan­zi­el­le Pro­ble­me birgt auch die seit ei­ni­gen Jah­ren lau­fen­de Fest­spiel­haus­sa­nie­rung, de­ren Ende noch nicht ab­zu­se­hen ist. Da­mit der Wunsch­ter­min 2026 – zum 150. Ge­burts­tag der Fest­spie­le – kei­ner bleibt, müss­te sich da­für schon je­mand wie An­ge­la Mer­kel in die Bre­sche wer­fen. Wie Wag­ner­freun­de aus al­ler Welt dürf­te auch die Bun­des­kanz­le­rin sich von der Ge­ne­ral­über­ho­lung des Hau­ses er­hof­fen, dass in das 1876 er­öff­ne­te Som­mer­thea­ter – na­tür­lich ohne dass die viel ge­rühm­te Akus­tik dar­un­ter lei­det – eine Kli­ma­an­la­ge ein­ge­baut wird. Was, wenn man Fach­leu­te fragt, mehr als hei­kel sein dürfte.

We­nigs­tens heu­er muss nie­mand schwit­zen: Als Er­satz ha­ben die Fest­spie­le trotz Kurz­ar­beit zu­sam­men mit öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­dern und der Deut­schen Gram­mo­phon ein tri­me­dia­les Pro­gramm auf­ge­legt, das sich, teils um­sonst, teils ge­gen ei­nen klei­nen Obo­lus, hö­ren und se­hen las­sen kann. Nicht nur vir­tu­ell, son­dern auch live fin­det zu­dem un­ter dem Mot­to „Sum­mer­ti­me Bay­reuth“ ein Al­ter­na­tiv­pro­gramm in der Fest­spiel­stadt statt. Un­ter an­de­rem sind Wag­ner­wer­ke in klei­nem Rah­men, als Kir­chen­kon­zert und als Open-Air-Event mit be­kann­ten Fest­spiels­o­lis­ten wie An­net­te Dasch, Mi­cha­el Vol­le und Gün­ther Groiss­böck zu er­le­ben. Am ex­klu­sivs­ten dürf­ten die elf Wahn­fried-Kon­zer­te sein, denn dort sind je­weils nur 24 Zu­schau­er zu­ge­las­sen. Ach, Corona!

Vir­tu­el­le Festspiele
Kos­ten­lo­se Auf­zeich­nun­gen von äl­te­ren Fest­spiel­pro­duk­tio­nen in TV, Ra­dio und übers In­ter­net bie­ten ab 25. Juli die Sen­der BR Klas­sik, ARD-al­pha und 3sat. Auf der Strea­ming-Platt­form „DG Stage“ wer­den eben­falls ab heu­te zum Preis von je 4,90 Euro un­ter an­de­rem alle Wer­ke in ak­tu­el­len In­sze­nie­run­gen ge­zeigt, die für die Fest­spiel­zeit 2020 ge­plant wa­ren. Eine ta­ges­ak­tu­el­le Über­sicht zu den öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­dun­gen ist ab so­fort auf der Fest­spiel-Home­page zu finden.

Erst­druck mit an­de­rem Ti­tel im Frän­ki­schen Tag vom 25. Juli 2020